Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Melber, Dr. Graf, Dr. Jelinek und Dr. Schinko als weitere Richter in der Unterbringungssache des Johann T*****, geboren am 5. Dezember 1961, zuletzt wohnhaft gewesen in Z*****, vertreten durch den Patientenanwalt Mag. Helmut D*****, infolge Revisionsrekurses des Abteilungsleiters der Abteilung MA 6 des Landes-Nervenkrankenhauses H***** gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 9. Juli 1991, GZ 1 b R 107/91-9, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Hall in Tirol vom 21. Juni 1991, GZ Ub 375/91-6, bestätigt wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Der 29-jährige Johann T***** ist seit 1979 ständig in stationärer Anstaltspflege. Er leidet an Oligophrenie. Der letzte epileptische Anfall ereignete sich 1984. Johann T***** hat keine Sprachentwicklung, er ist harnstuhlinkontinent und kann nicht selbständig essen. Er befindet sich auf der Entwicklungsstufe eines nicht einmal einjährigen Kindes. Johann T***** ist ein Pflegefall, er leidet aber nicht an einer psychischen Krankheit.
Das Erstgericht erklärte die Unterbringung in der geschlossenen Abteilung des Landes-Nervenkrankenhauses H***** für unzulässig, da eine psychische Krankheit nicht vorliege.
Dem dagegen erhobenen Rekurs des Abteilungsleiters des Landes-Nervenkrankenhauses wurde nicht Folge gegeben. Das Rekursgericht führte aus, gemäß § 3 UbG sei Voraussetzung für die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt, daß jemand an einer psychischen Krankheit leide und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährde. Da Johann T***** wohl geistig behindert sei, nicht aber an einer psychischen Krankheit leide, könne er nicht in einer geschlossenen Abteilung untergebracht werden. Die Unterscheidung zwischen einer psychischen Krankheit und einer geistigen Behinderung sei vom Gesetzgeber offensichtlich gewollt.
Der ordentliche Revisionsrekurs wurde mit der Begründung für zulässig erklärt, daß die Frage, ob eine schwere geistige Behinderung einer psychischen Krankheit gleichzustellen sei, erhebliche Bedeutung habe.
Gegen diesen Beschluß richtet sich der Revisionsrekurs des stellvertretenden ärztlichen Leiters des Landes-Nervenkrankenhauses H*****, der auch vom Stationsarzt unterfertigt ist.
Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof ist zulässig, aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 28 UbG kann gegen den Beschluß, mit dem die Unterbringung für unzulässig erklärt wird, der Abteilungsleiter Rekurs (auch an den Obersten Gerichtshof) erheben. Als Abteilungsleiter im Sinne dieser Bestimmung sind auch der "Leiter der klinischen Abteilung" und der "Vorstand der gemeinsamen Einrichtung" (§ 7 a Abs 1 und 2 KAG) anzusehen (AB 1202 BlgNR 17.GP zu § 4 (§ 3 Abs 1, 2 und 6 RV)).
Da das UbG keine besonderen Bestimmungen für den Rekurs an den Obersten Gerichtshof enthält, sind diesbezüglich die §§ 13 bis 16 AußStrG in der Fassung der Erweiterten Wertgrenzen-Novelle 1989, BGBl Nr.343 anzuwenden (AB 1202 BlgNR 17.GP zu § 29 (§ 18 RV)). Gemäß § 14 Abs 1 AußStrG ist gegen den Beschluß des Rekursgerichtes der Revisionsrekurs dann zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben, weil es zur Frage, ob auch wegen einer geistigen Behinderung die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung möglich ist, noch keine Rechtsprechung gibt.
Im Revisionsrekurs wird geltend gemacht, eine sofortige Entlassung des Johann T***** aus der geschlossenen Abteilung des Landes-Nervenkrankenhauses wäre von ärztlicher Seite nicht vertretbar. Johann T***** sei ohne fremde Hilfe und auch ohne regelmäßige ärztliche Betreuung nicht einmal für kurze Zeit lebensfähig und bestünde außerhalb der geschlossenen Abteilung in Tirol keinerlei Möglichkeit einer adäquaten Betreuung, Versorgung und Behandlung des Patienten.
Wie die Vorinstanzen bereits zutreffend ausgeführt haben, darf gemäß § 3 UbG in einer Anstalt nur untergebracht werden, wer
1. an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und
2. nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer Anstalt, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.
Materiellrechtliche Voraussetzung der Unterbringung ist sohin unter anderem das Vorliegen einer psychischen Krankheit. Daß Johann T***** nicht an einer solchen leidet, ist im vorliegenden Fall nicht strittig. Allein schon aus der Wortinterpretation des Gesetzes ergibt sich somit, daß die Unterbringung von Johann T***** in einer geschlossenen Abteilung nicht zulässig ist. Eine analoge Anwendung der Bestimmung des § 3 UbG auf den Fall geistiger Behinderung setzte eine Gesetzeslücke voraus. Eine solche liegt nur dann vor, wenn die gesamte geltende Rechtsordnung hinsichtlich des zu beurteilenden Falles eine "planwidrige Unvollständigkeit", d.h. eine nicht gewollte Lücke, erkennen läßt (Bydlinski in Rummel2, Rz 2 zu § 7). Von einer solchen "planwidrigen Unvollständigkeit" kann im vorliegenden Fall aber keine Rede sein. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, war nicht die Fürsorge und der Schutz von aufgrund einer geistigen Behinderung gefährdeten Personen das Ziel des Unterbringungsgesetzes, sondern ausschließlich der Schutz der Persönlichkeitsrechte psychisch Kranker in geschlossenen Bereichen von Krankenanstalten (1202 BlgNR 17.GP 2 f), die nach dem Gesetz auch nur zur Aufnahme psychisch Kranker bestimmt sind und in die geistig Behinderte nur dann Aufnahme finden sollen, wenn neben der geistigen Behinderung auch Symptome einer psychischen Erkrankung auftreten (1204 BlgNR 17.GP 1 f). Auch eine verfassungskonforme Auslegung (siehe hiezu Bydlinski, aaO, Rz 21 zu § 6), gebietet, eine Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung ausschließlich im Falle einer psychischen Erkrankung zu gestatten. Art.2 Abs.1 Z 5 des Bundesverfassungsgesetzes vom 29.11.1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit (BGBl. Nr.684/1988) bestimmt nämlich, daß die persönliche Freiheit einem Menschen nur dann entzogen werden darf, wenn Grund zur Annahme besteht, daß er wegen einer psychischen Erkrankung sich oder andere gefährdet. Entsprechend dieser Verfassungsbestimmung hat der Justizausschuß auch ausgeführt, daß die Unterbringung aufgrund einer bloßen "Behandlungsbedürftigket" ebensowenig zulässig sei wie eine Anhaltung als "Maßnahme der Fürsorge". Der Justizausschuß vertrat die Ansicht, daß diesen Bedürfnissen im Rahmen moderner, leistungsfähiger und ausreichend ausgestatteter psychiatrischer und sozialer Dienste und Einrichtungen Rechnung getragen werden könne, ohne daß in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingegriffen werden müsse (AB 1202 BlgNR 17.GP zu § 3 (§ 2 RV)). Eine analoge Anwendung des Unterbringungsgesetzes auf geistig Behinderte kommt sohin nicht in Frage (7 Ob 586/91, 4 Ob 541/91, 4 Ob 542/91).
Entgegen der im Revisionsrekurs vertretenen Ansicht kann diese Entscheidung aber nicht bedeuten, daß der hilflose Patient auf die Straße gestellt und somit dem sicheren Verderben preisgegeben werden darf. Die vom Gesetzgeber in Aussicht gestellte (AB 1202 BlgNR 17.GP 3) Regelung der "zivilrechtlichen Voraussetzungen der Aufenthaltsbestimmung für psychisch kranke und behinderte Menschen im Rahmen des Sachwalterrechts", wobei dem Sachwalter nach § 273 ABGB sowie dem Pflegschaftsgericht weitgehende Überwachungsbefugnisse eingeräumt werden sollen, steht noch aus. Soweit nicht dennoch das Erstgericht im Zuge pflegschaftsbehördlicher Maßnahmen eine anderweitige Betreuung des Behinderten anordnen sollte, müßte der Betroffene, falls er sich in einer Notlage im Sinne des Tiroler Sozialhilfegesetzes, LGBl. 1973/105, befindet, den nach diesem Gesetz zuständigen Organen zur Betreuung übergeben werden. Dieses Gesetz sieht ja ausdrücklich auch die Hilfe für pflegebedürftige Personen vor (§ 5 Abs.1 lit.d und Abs.5).
Dem Revisionsrekurs mußte sohin ein Erfolg versagt bleiben.
Anmerkung
E27556European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:0080OB00587.91.0926.000Dokumentnummer
JJT_19910926_OGH0002_0080OB00587_9100000_000