TE OGH 1991/10/10 6Ob614/91

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Veröffentlicht am 10.10.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Vogel als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Redl, Dr.Kellner, Dr.Schiemer und Dr.Floßmann als weitere Richter in der Unterbringungssache der am ***** 1952 geborenen Dr.Ursula M***** infolge Revisionsrekurses der Dr.Ingeborg Scheidacker, Patientenanwältin für die Kranken der ***** Landesnervenklinik G*****, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom 12.Juni 1991, GZ 44 R 509/91-18, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Klosterneuburg vom 6.Juni 1991, GZ Ub 194/91-15, abgeändert wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird als nichtig aufgehoben und dem Rekursgericht eine neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die am ***** 1952 geborene Dr.Ursula M***** leidet seit mindestens 1971 an einer schizophrenen Psychose. Sie wurde am 4.5.1991 auf eigenes Verlangen zum 9. Mal in die ***** Landesnervenklinik G***** aufgenommen. Am 8.5.1991 entwendete sie ein Fahrrad vom Kinderhaus und wurde sodann am Mittelstreifen der Bundesstraße radfahrend und verwirrt auffällig von der Gendarmerie aufgegriffen und in die Anstalt zurückgebracht. Da nach den fachärztlichen Untersuchungen Grund für die Annahme bestand, daß die Voraussetzungen für die Unterbringung vorliegen, erging noch am 8.5.1991 die am 10.5.1991 beim Erstgericht eingelangte Verständigung gemäß § 17 UbG. Dieses erklärte anläßlich der ersten Anhörung der Betroffenen am 14.5.1991 deren Unterbringung vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG für zulässig, bestellte einen Sachverständigen und beraumte die mündlichen Verhandlung für den 23.5.1991 an (ON 4). Aufgrund des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr.Harald P.D***** vom 18.5.1991 (ON 6) und der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung erklärte das Erstgericht mit dem in Rechtskraft erwachsenen Beschluß vom 23.5.1991 (ON 9) die (erstmalige) Unterbringung der Kranken bis 8.6.1991 für zulässig. Sie leide an einer schizophrenen Psychose mit Affektlabilität, Denkstörungen, paranoider Reaktionsbereitsbereitschaft und dadurch aggressiven Tendenzen, wodurch sie ihr Leben und ihre Gesundheit sowie das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährde. Derzeit könne die Kranke wegen der noch bestehenden Antriebssteigerung und wegen ihrer mangelnden Kooperationsfähigkeit nur innerhalb einer Anstalt ausreichend behandelt werden.

Am 4.6.1991 langte beim Erstgericht die Mitteilung des Abteilungsleiters ein, wonach er die weitere Unterbringung der Kranken für erforderlich halte, weil bei ihr ein akutes psychotisches Zustandsbild bei chronischer Schizophrenie und damit verbundener erheblicher Selbst- und Fremdgefährlichkeit weiterbestehe; eine andere Betreuungsmöglichkeit sei nicht gegeben. Anläßlich der ersten Anhörung der Kranken über die Verlängerung deren Unterbringung am 6.6.1991 erklärte das Erstgericht die weitere Unterbringung für unzulässig. Zwar sei die Betroffene nach wie vor psychisch krank, doch hätten selbst die behandelnden Anstaltsärzte das Vorliegen einer Selbst- oder Fremdgefahr im gegenwärtigen Zeitpunkt unter den Bedingungen des stationären Anstaltsaufenthalts verneint. Deren Befürchtung, daß es im Falle ihrer Entlassung zu den Eltern trotz Fortsetzung der Medikamenteneinnahme zu einer Exacerbation des Krankheitsbildes kommen werde, könne die weitere Unterbringung nicht rechtfertigen. Selbst dann, wenn die Betroffene zu Hause wieder in Auseinandersetzungen mit ihren Eltern geriete, läge noch keine ernstliche und erhebliche Gefährdung im Sinne des § 3 Z 1 UbG vor. Ihr Vater habe am 23.5.1991 selbst erklärt, daß seine Tochter ihm gegenüber noch nie aggressiv gewesen sei. Da er aber eine dauernde Rückkehr seiner Tochter in die elterliche Wohnung ablehne, sei auch die Anmietung einer Wohnung durch die Kranke selbst in Erwägung zu ziehen, zumal diese über eine monatliche Pension von 7.800 S verfüge. Eine Wiederholung jener Vorfälle, die zur ersten Unterbringung geführt hätten (Verhalten im Straßenverkehr, "Umsichwerfen" mit Gegenständen im geschlossenen Bereich der Anstalt), seien infolge der zwischenzeitig durchgeführten medikamentösen Therapie zumindest nicht mehr sehr wahrscheinlich.

Der Abteilungsleiter erklärte, daß er gegen den Beschluß Rekurs erhebt und das Erstgericht erkannte diesem Rekurs sogleich aufschiebende Wirkung zu (ON 14). Das Rekursgericht gab mit dem angefochtenen Beschluß dem fristgerecht ausgeführten Rekurs des Abteilungsleiters Folge und änderte den Beschluß des Erstgerichtes dahin ab, daß es die weitere Unterbringung der Betroffenen bis 8.9.1991 für zulässig erklärte. Es sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die im Sachverständigengutachten ON 6 angeführten Voraussetzungen für die Unterbringung seien nach wie vor gegeben. Die auf die hohe Medikation zurückzuführende Beruhigung der Kranken ändere nichts daran, daß ihr Krankheitsschub noch andauere und medizinisch noch nicht im Griff sei. Bei ihrer Anhörung am 6.6.1991 sei die Kranke noch nicht ausreichend belastbar gewesen, sodaß sie auch im häuslichen Bereich (auch mit ihren Eltern) noch nicht bestehen könne. In Gesprächen mit ihren Eltern zeige sich die Kranke schon nach fünf Minuten verbal aggressiv. Sie sei daher nach wie vor behandlungsbedürftig; ihre Selbst-und Fremdgefährlichkeit sei noch nicht abgeklungen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen wendet sich der erst am 8.8.1991, sohin nach Ablauf der 14tägigen Rekursfrist des § 28 Abs 1 UbG und demnach, weil Außerstreitsachen (§ 12 Abs 2 UbG) Ferialsachen sind (AnwZ 1936, 457; JBl 1938, 58; NZ 1969, 154; 6 Ob 710/87; 6 Ob 669/88; 6 Ob 516/90 ua) verspätet beim Erstgericht überreichte außerordentliche Revisionsrekurs der Patientenanwältin mit dem Antrag auf Aufhebung des Beschlusses wegen Nichtigkeit und Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens.

Der Revisionsrekurs ist - entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 16 Abs 3 AußStrG nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichtes - zulässig, weil zu den hier zu lösenden Rechtsfragen des erst am 1.1.1991 in Kraft getretenen Bundesgesetzes vom 1.3.1990, BGBl 155, über die Unterbringung psychisch Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz/UbG) eine Rechtsprechung des Obersten Gerichshofes überhaupt fehlt; er ist aber auch berechtigt, weshalb auf ihn gemäß der auch für Revisionsrekurse geltenden Bestimmung des § 11 Abs 2 AußStrG (EvBl 1991/91 uva) trotz seiner Verspätung Bedacht zu nehmen ist, zumal sich die angefochtene Verfügung ohne Nachteil eines Dritten abändern läßt (siehe dazu Kopetzki, Unterbringungsgesetz 162). In Fällen, in denen - wie hier - mit Gerichtsbeschluß das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit (hier: Art 5 Abs 1 lit e MRK bzw Art 2 Abs 1 Z 5 des BVG vom 29.11.1988, BGBl 684, über den Schutz der persönlichen Freiheit) berührt wird, kann niemand außer dem untergebrachten Kranken ein Recht auf die oder aus der in seinem Interesse für zulässig erklärten Unterbringung erwerben. Da aber andererseits ein Beschluß, mit dem die Unterbringung für zulässig erklärt wird, das erwähnte Grundrecht des Kranken beeinträchtigt, sind gemäß § 28 UbG jedenfalls er und sein Vertreter sowie die übrigen dort genannten Personen rekursberechtigt. In einem solchen Fall hat der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der freiheitseinschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob sie zu Recht erfolgte (so auch 1 Ob 549/91 zum UbG unter Berufung auf die zu Fällen von Anhaltungen in geschlossenen Anstalten nach früherem Recht ergangenen Entscheidungen SZ 39/83; SZ 60/12; ÖAV 1988, 109). Dies folgt schon aus den verfassungsrechtlichen Normen des Art 5 Abs 4 MRK und des sich daran orientierenden (RV 134 BlgNR 17.GP 7) Art 6 Abs 1 des hier bereits zur Anwendung gelangenden Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit: Jedermann, dem seine Freiheit durch Festnahme oder Haft entzogen wird, hat das Recht auf ein Verfahren, in dem über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges entschieden wird (1 Ob 549/91). Ungeachtet dessen, daß nunmehr der Endzeitpunkt der für zulässig erklärten weiteren Unterbringung bereits verstrichen ist und daß die Betroffene nach der Aktenlage überhaupt schon seit 5.7.1991 aus der Anstalt beurlaubt ist (ON 22), muß somit nach wie vor über das von ihrem Vertreter erhobene Rechtsmittel entschieden werden.

Zutreffend verweist die Rechtsmittelwerberin darauf, daß es im vorliegenden Fall um die Entscheidung über die weitere Unterbringung der Betroffenen gemäß § 30 UbG ging, die der Abteilungsleiter im Sinne seiner Mitteilung gemäß Abs 3 dieser Gesetzesstelle für erforderlich gehalten hat. Auf das Verfahren bei der Verlängerung einer erstmals für zulässig erklärten Unterbringung sind aber gemäß § 30 Abs 4 UbG die §§ 19 bis 29 sinngemäß anzuwenden, dh es ist wie im Falle der erstmaligen Unterbringung zweiaktig: Auch hier hat das Gericht zunächst binnen vier Tagen ab Kenntnis der Mitteilung des Abteilungsleiters gemäß § 30 Abs 3 UbG eine Anhörung des Kranken im Sinne des § 19 UbG vorzunehmen und danach im Sinne des § 20 UbG entweder die weitere Unterbringung vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG für zulässig oder diese sofort für unzulässig zu erklären. Gegen den Ausspruch der vorläufigen Zulässigkeit der (weiteren) Unterbringung ist ein abgesondertes Rechtsmittel nicht zulässig (§ 20 Abs 3 UbG). Ist aber - wie im vorliegenden Fall - die (weitere) Unterbringung für unzulässig erklärt worden, so wäre sie sogleich aufzuheben gewesen, wenn nicht der Abteilungsleiter dagegen den Rekurs "angemeldet" und das Erstgericht diesem sogleich aufschiebende Wirkung zuerkannt hätte (§ 20 Abs 2 UbG). Daraus folgt, daß Gegenstand eines solchen Rekursverfahrens immer nur die vorläufige Zulässigkeit der (weiteren) Unterbringung sein kann. Unter Mißachtung dieser Grenzen des Entscheidungsgegenstandes hat aber das Rekursgericht in Abänderung des erstgerichtlichen Beschlusses die weitere Unterbringung der Betroffenen bis 8.9.1991 für zulässig erklärt und damit bereits eine endgültige Entscheidung über die weitere Unterbringung im Sinne des § 26 UbG getroffen. Mit dieser Vorgangsweise hat es sich über die Bestimmungen der §§ 22 bis 25 UbG hinweggesetzt, die vor einer solchen endgültigen Entscheidung zwingend die Bestellung zumindest eines Sachverständigen und die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung vorsehen, bei der dem Kranken, seinem Vertreter sowie dem Abteilungsleiter Gelegenheit zu geben ist, zu den für die Entscheidung wesentlichen Umständen Stellung zu nehmen sowie Fragen an die Auskunftspersonen und an den Sachverständigen zu stellen (§ 25 Abs 2 UbG). Die Rekursentscheidung erging daher unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Kranken und ihrer Vertreterin, sodaß der Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO vorliegt.

Schon aus diesem Grund war der angefochtene Beschluß als nichtig aufzuheben. Das Rekursgericht wird über den Rekurs des Abteilungsleiters neuerlich zu entscheiden haben, wobei jedoch im Sinne der obigen Ausführungen nur mehr ein feststellender Ausspruch darüber in Betracht kommt, daß die tatsächliche weitere Unterbringung der Kranken entweder vorläufig zulässig war oder nicht.

Anmerkung

E27508

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:0060OB00614.91.1010.000

Dokumentnummer

JJT_19911010_OGH0002_0060OB00614_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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