TE OGH 1991/11/12 10ObS218/91

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Veröffentlicht am 12.11.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Herbert Vesely (AG) und Reinhard Horner (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Egon W*****, vertreten durch Dr. Walter Nimführ, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ANGESTELLTEN, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 2. Mai 1991, GZ 12 Rs 52/91-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 12. Dezember 1990, GZ 20 Cgs 87/90-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung und der Revisionsbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom 4. April 1990 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 1. März 1990 auf einen Hilflosenzuschuß ab, weil er nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe.

Die dagegen rechtzeitig erhobene Klage richtet sich auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß vom 1. März 1990 an.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Es ging dabei im wesentlichen von folgenden Feststellungen aus:

Der am 15. Juli 1918 geborene Kläger (der seit 1. Jänner 1984 eine Alterspension bezieht) leidet an einer manisch-depressiven Erkrankung in einem derzeit symptomarmen Intervall, einer Angstneurose, einer insulinpflichtigen Zuckerkrankheit, bei der er täglich zweimal Insulin spritzen muß, den Folgen einer Bandverletzung des rechten Kniegelenkes mit entsprechender Instabilität und posttraumatischer Degeneration (genua vara, deutliche Kreuzbandlockerung und Gonarthrose), fortgeschrittenen degenerativen Veränderungen der Hals- und der Brustwirbelsäule, einer allgemein höhergradigen Arteriosklerose mit Bluthochdruck, einer Schwellneigung des rechten Knöchels sowie Empfindungsstörungen an den Vorfüßen und Zehen. Im Rahmen des manisch-depressiven Krankseins kommt es insbesondere bei depressiven Phasen relativ häufig zu Angstzuständen, Schlafstörungen und Unruhe. Der Kläger war nach eigenen Angaben in den letzten Jahren zehn- bis zwanzigmal jeweils etwa zehn Tage stationär in psychiatrischen Krankenhausabteilungen aufgenommen, im Jahre 1989 viermal.

Der Kläger bewohnt mit seiner Ehegattin eine 85 m2 große, zentralbeheizte Wohnung im 2. Stock eines Hauses ohne Lift.

Er ist in der Regel in der Lage, sich allein an- und auszukleiden, seinen Körper zu pflegen, zu essen, die Notdurft zu verrichten, kleine Speisen selbst zuzubereiten bzw Vorgekochtes aufzuwärmen, Wohnungsreinigungsarbeiten, die kein Hinknien erfordern, auszuführen, die Wäsche zu waschen und aufzuhängen, unter Verwendung seines Kniebrace und eines Stockes zum etwa 400 m entfernten Lebensmittelgeschäft zu gehen und drei bis fünf kg Lebensmittel heimzutragen, größere Einkäufe mit dem eigenen Auto zu transportieren und die Apotheke zu erreichen. Er kann diese Verrichtungen des täglichen Lebens, wenn er nicht während der depressiven Phasen zeitweise bettlägrig ist, zwar allein vornehmen, ist dabei jedoch auf die ständige Anwesenheit einer anderen Person angewiesen, um nicht sofort an Angstzuständen zu leiden. Im Rahmen des manisch-depressiven Krankseins kommt es insbesondere bei depressiven Phasen zu einer Zunahme der Ängste, welche die ständige Anwesenheit einer anderen Person unumgänglich machen, damit er nicht durch das Alleinsein stärksten quälenden Ängsten ausgesetzt ist. Er kann nicht allein sein, die Kommunikation ist für ihn eine Existenzbedingung. Würde er in seinen Angstzuständen allein gelassen, bestünde Selbstmordgefahr und wären auch andere Kurzschlußhandlungen denkbar. Der Kläger leidet tags und nachts an ständiger chronischer Angst. Die im Rahmen der manisch-depressiven Erkrankung auftretenden Stimmungsschwankungen haben auf die angstneurotischen Zustände keinen Einfluß. Während der symptomarmen Intervalle des manisch-depressiven Krankseins ist eine Hilflosigkeit in dieser Hinsicht wenigstens zeitweise nicht anzunehmen. Der Zustand der manisch-depressiven Krankheit und der Angstneurose besteht seit etwa 1985 und hat in den letzten Jahren an Intensität zugenommen. Eine ausreichende Beeinflussung der Angstneurose durch Medikamente ist bisher nicht gelungen und ist auch nicht zu erwarten. Mittel- oder längerfristig wären psychotherapeutische Maßnahmen notwendig, von denen aber wegen des Alters und des manisch-depressiven Krankseins eine entscheidende Besserung eher auch nicht zu erwarten ist.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes brauche der Kläger auf Grund der körperlichen Einschränkungen Hilfe bei der großen Wohnungsreinigung im Ausmaß von vier Stunden pro Monat und bei der Zubereitung von großen und warmen Speisen im Ausmaß von etwa zehn Stunden pro Monat. Daraus errechne sich bei einem Stundenlohn einer Hilfskraft (von S 80,--) ein monatlicher Mehraufwand von S 1.120,--, der weit unter dem begehrten Hilflosenzuschuß liege. Die Schwierigkeit des Klägers bestehe darin, daß er wegen der Angstneurose nicht allein sein könne und ständig eine Bezugsperson anwesend sein müsse. Diese sei in der Person seiner Ehegattin vorhanden. Die bloße Anwesenheit sei eine Tätigkeit, die von nahen Angehörigen oder auch von anderen Personen, zu denen der Kläger ein Naheverhältnis haben müsse, ohne eine besondere Entlohnung geleistet werde. Geringfügige Hilfeleistungen, die jemand bei Bedarf und nach Möglichkeit gewöhnlich auch dann unentgeltlich zu leisten bereit sei, wenn er zum Hilfsbedürftigen in keinem besonderen Naheverhältnis stehe, seien keine geldwerten Leistungen und könnten daher jedenfalls solange nicht veranschlagt werden, als sichergestellt sei, daß sie der Hilfsbedürftige gegebenenfalls in Anspruch nehmen könne. Daß diese geringfügigen Hilfeleistungen von der Ehegattin erbracht würden, sei im Verfahren nicht bestritten worden.

Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung des Klägers Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es das Klagebegehren vom 1. März 1990 an als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte und der beklagten Partei auftrug, dem Kläger vom 1. März 1990 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von S 2.600,-- monatlich zu erbringen.

Daß die Ehegattin als Bezugsperson zur Verfügung stehe, müsse außer Betracht bleiben, weil die unentgeltliche Leistung notwendiger Hilfe durch nahe Angehörige bei der Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit nicht zu berücksichtigen sei. Die Situation des Klägers sei dem zu SSV-NF 2/32 entschiedenen Fall ähnlich, in dem jemandem, der zwar körperlich in der Lage gewesen wäre, die lebensnotwendigen Verrichtungen selbst auszuführen, aber wegen seiner Kritik- und Antriebslosigkeit von einer Pflegeperson dazu angehalten werden mußte, Hilflosigkeit zugebilligt worden sei. Im vorliegenden Fall bedürfe es der Eindämmung der Angstneurose und der manisch-depressiven Zustände durch die ständige Anwesenheit einer Bezugsperson um sicherzustellen, daß der Kläger die ihm physisch mögliche Eigenvorsorge auch tatsächlich bewältigen könne. Diese ständige psychische Unterstützung bei einem psychisch Kranken könne nicht als geringfügige, von jedermann unentgeltlich geleistete Hilfestellung iS der E SSV-NF 4/63 angesehen werden. Auch der zu SSV-NF 4/42 entschiedene Fall unterscheide sich vom vorliegenden, weil es damals nur um kurze Zeit beanspruchende Hilfeleistungen, nunmehr aber um ständigen psychischen Beistand gehe. Es sei zwar richtig, daß der Hilflosenzuschuß keine "Gefährdungszulage" zur Abwendung etwaiger Kurzschlußhandlungen sei, doch sei bei einer psychischen Erkrankung, die bei Fehlen einer Betreuungsperson dazu führe, daß der Kranke die lebensnotwendigen alltäglichen Verrichtungen nicht mehr durchführe oder durchführen könne, ein Zustand ständiger Wartungs- und Hilfsbedürftigkeit iS des § 105 a ASVG gegeben.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern.

Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist berechtigt.

Dem Berufungsgericht ist zwar beizupflichten, daß der Hilflosenzuschuß auch dann gebührt, wenn die Kosten der ständigen Wartung und Hilfe im konkreten Fall nur deshalb geringer sind als der begehrte Hilflosenzuschuß, weil die Pflegeperson für die notwendigen Dienstleistungen nichts oder weniger als üblich verlangt, wie dies etwa bei nahen Angehörigen häufig vorkommt. Der Umstand, daß Angehörige zur Betreuung vorhanden sind, ist daher in der Regel für die Gewährung des Hilflosenzuschusses ohne Bedeutung (SSV-NF 1/46, 2/32, 2/86, 4/63 uva). In allen bisher entschiedenen Fällen, in denen ungeachtet des Umstandes, daß die Betreuung von Familienangehörigen verrichtet wurde, ein Anspruch auf Hilflosenzuschuß angenommen wurde, handelte es sich jedoch um echte Betreuungsleistungen und nicht um die Notwendigkeit der bloßen Anwesenheit einer anderen Person. Auch im Fall der Entscheidung SSV-NF 2/32, in welchem die Klägerin zwar zwischen den Krankheitsschüben in der Lage gewesen wäre, die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst auszuführen, aber so kritik- und antriebslos war, daß sie dazu angehalten werden mußte, konnte sich die Tätigkeit der Eltern der Klägerin nicht auf die bloße Anwesenheit beschränken, sondern sie mußten die Klägerin zu den jeweils erforderlichen Arbeiten anhalten und deren Ausführung überwachen. Im vorliegenden Fall sind dagegen weder Hilfeleistungen noch Überwachungstätigkeiten einer anderen Person erforderlich, um die Angstneurose des Klägers zu neutralisieren und zu verhindern, daß er stärksten quälenden Ängsten ausgesetzt ist. Vielmehr genügt es, daß er nicht allein ist, also eine Bezugsperson sich bei ihm aufhält, ihn begleitet etc. Diese Bezugsperson ist in der Person seiner am 2. Dezember 1923 geborenen und sohin im Zeitpunkt des Schlußes der Verhandlung erster Instanz 67 Jahre alten Ehegattin derzeit vorhanden. Im Verfahren erster Instanz ist weder behauptet worden noch hervorgekommen, daß ein Verhalten der Gattin des Klägers über die Art und das Ausmaß hinaus notwendig wäre, wie es ansonsten bei Eheleuten dieses Alters üblich ist oder daß die Gattin des Klägers durch die Angstneurosen ihres Mannes in ihren Lebensgewohnheiten wesentlich beeinträchtigt wäre. Das Vorbringen in der Berufung, die Ehegattin des Klägers könne wegen des psychischen Zustandes ihres Gatten einen notwendigen Kuraufenthalt nicht antreten, stellt eine im Rechtsmittelverfahren unzulässige Neuerung dar. Überdies würde die Notwendigkeit eine andere Bezugsperson während eines solchen Kuraufenthaltes allenfalls gegen Entgelt aufzunehmen, im Hinblick auf dessen relativ kurze Dauer noch nicht den Tatbestand der dauernden Wartung und Hilfe erfüllen. Daß die Bezugsperson sich nicht ununterbrochen quasi in Tuchfühlung mit dem Kläger befinden muß, ergibt sich schon aus seinem eigenen Vorbringen und den unbekämpften Feststellungen wonach er auch mit einem Fahrrad fährt und größere Einkäufe mit dem eigenen PKW besorgt. Auch wenn ihn seine Gattin dabei begleiten sollte, ginge dies nicht über die übliche Gestaltung des gemeinsamen Lebens von anderen gleichaltrigen Ehepaaren hinaus. Es muß daher davon ausgegangen werden, daß die Angstneurose des Klägers keine Vorkehrungen seiner Gattin notwendig macht, die über das übliche Zusammenleben von Eheleuten dieses Alters hinausgehen. Diese bloße Anwesenheit seiner Gattin stellt daher auch keine für die Zuerkennung des Hilflosenzuschusses relevante geldwerte Leistung dar. Der Fall weist damit eine gewisse Ähnlichkeit mit dem zu SSV-NF 4/42 entschiedenen auf, in welchem ein Tätigwerden der Eltern des damaligen Klägers nur bei den etwa zweimal im Monat auftretenden Blutzuckerentgleisungen notwendig war. Unter diesen Umständen kann die bestehende Angstneurose des Klägers für sich allein noch keine Hilflosigkeit begründen. Ob der Kläger bei der Notwendigkeit, jemanden anderen als seine Gattin als Bezugsperson heranzuziehen, hilflos wäre, muß daher nicht geprüft werden.

Dennoch ist die Sache noch nicht spruchreif.

Die nicht bekämpften, teilweise widersprüchlichen erstgerichtlichen Feststellungen reichen nämlich zu einer verläßlichen Beurteilung, ob dem Kläger seit 1. März 1990 zur Alterspension ein Hilflosenzuschuß gebührt, weil er derart hilflos ist, daß er ständig der Wartung und Hilfe bedarf, nicht aus.

Das Erstgericht stellte zunächst fest, daß der Kläger in der Regel die lebensnotwendigen Verrichtungen allein ausführen kann, spricht dann aber davon, daß er dazu nur in der Lage ist, wenn er nicht während der depressiven Phasen zeitweise bettlägerig ist und sagt schließlich, daß während der symptomarmen Intervalle des manisch-depressiven Krankseins eine Hilflosigkeit in dieser Hinsicht (?) wenigstens zeitweise nicht anzunehmen ist.

Es wäre aber genau festzustellen gewesen, in welchen Zeiträumen der Kläger seit 1. März 1990 welche der in der Grundsatzentscheidung SSV-NF 1/46 genannten lebensnotwendigen Verrichtungen allein vornehmen konnte, oder zu welchen und in welchem Ausmaß er dazu der Hilfe Dritter bedurfte und welchen Mehraufwand diese allenfalls erforderlichen Dienstleistungen üblicherweise verursachen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß auch die Einschränkung hinsichtlich der Zubereitung der Mahlzeiten (nur kleine Speisen (?) bzw Vorgekochtes aufwärmen) zu unbestimmt ist.

Wegen dieser Feststellungsmängel konnte das Revisionsgericht nicht in der Sache selbst entscheiden, sondern mußte mit Beschluß die Urteile der Vorinstanzen aufheben und die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revisionsbeantwortung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Anmerkung

E27829

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00218.91.1112.000

Dokumentnummer

JJT_19911112_OGH0002_010OBS00218_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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