Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Robert Renner und Dr. Herbert Vesely (beide Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gertraud W*****, Landwirtin, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei SOZIALVERSICHERUNGSANSTALT DER BAUERN (Landesstelle Oberösterreich), 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kostenerstattung (Streitwert S 1.958,20), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. Juli 1991, GZ 12 Rs 61/91-12, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 14. März 1991, GZ 14 Cgs 109/90-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 22. 8. 1955 geborene Klägerin stand vom 1. 8. 1989 bis Ende April 1990 wegen aktiver Tuberkulose in ärztlicher Behandlung. Nach einer stationären Krankenhausbehandlung wurde sie auch durch einen freiberuflich tätigen Arzt behandelt, wofür sie Honorare von insgesamt S 9.791,- zahlen mußte.
Die beklagte SOZIALVERSICHERUNGSANSTALT DER BAUERN gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 21. 8. 1990 für die vorgelegten Honorarnoten über S 9.791,- gemäß § 80 Abs.1 BSVG einen "tarifmäßigen Kostenerstattungsbetrag" von S 7.832,80, das entspricht 80 % der gesamten Kosten (Punkt 1 des Bescheides). Der Antrag der Klägerin auf Übernahme der restlichen damit nicht gedeckten Kosten (S 1.958,20) wurde abgelehnt, weil eine Übernahme der Behandlungskosten bei anzeigepflichtigen Krankheiten zu 100 % aus dem Titel der Krankenversicherung bei Geldleistungsgewährung nicht möglich sei (Punkt 2 des Bescheides).
Gegen den zuletzt genannten Punkt dieses Bescheides erhob die Klägerin rechtzeitig Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihr über den zugesagten (und inzwischen erstatteten) Betrag hinaus eine Erstattung der Behandlungskosten zu 100 % zu gewähren.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Die Bestimmung des § 80 Abs.3 lit.b BSVG, wonach der Versicherte bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten keinen Kostenanteil zu bezahlen habe, sei bei Gewährung einer Geldleistung durch Kostenerstattung nicht anzuwenden. Die Aktivlegitimation der Klägerin wurde nie in Zweifel gezogen.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es stellte noch fest, daß ein von der Klägerin am 21. 3. 1990 beim Amt der Oberösterreichischen Landesregierung gestellter Antrag auf Übernahme der restlichen 20 % der Behandlungskosten mit Bescheid vom 22. 6. 1990 mit der Begründung abgewiesen wurde, daß gemäß § 37 Abs.1 lit.a des Tuberkulosegesetzes die Kosten für die Behandlung aus Mitteln der Tuberkulosehilfe zu übernehmen seien, sofern hiefür nicht wie im gegenständlichen Fall ein Sozialversicherungsträger für die Kosten aufzukommen habe. Da es sich bei der Erkrankung der Klägerin um eine anzeigepflichtige übertragbare Krankheit handle, seien die Behandlungskosten zur Gänze von der beklagten Partei zu übernehmen. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, aus der wörtlichen Auslegung des § 80 Abs.3 lit.b BSVG ergebe sich, daß diese Bestimmung auf Geldleistungen nicht angewendet werden könnte, weil der Gesetzgeber den Begriff Kostenerstattung nicht verwendet habe. Dies widerspreche jedoch dem der Norm zu entnehmenden Zweck. Der Schutzzweck des § 80 Abs.3 BSVG ziele erkennbar in zwei Richtungen. Einerseits solle durch die 100 %ige Kostenübernahme eine Behandlung der Patienten unabhängig von deren finanzieller Leistungsfähigkeit ermöglicht werden, andererseits sei aber auch die Allgemeinheit zu schützen, weil diese verständlicherweise ein hohes Interesse an der Behandlung von an anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten Leidenden habe. Der § 80 Abs.3 BSVG sei daher als ein Ausfluß des sozialen Schutzprinzips zu betrachten und teleologisch so zu interpretieren, daß Versicherten bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten auch bei Geldleistungen im Sinne des § 80 Abs.1 BSVG keinerlei Kosten entstünden.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Die Berufungswerberin wiederhole ihr Argument, die Ausnahmebestimmung des § 80 Abs.3 BSVG beziehe sich nur auf Sachleistungen, da der Gesetzgeber den Begriff Kostenanteil nur für Sachleistungen verwende, nicht jedoch für Geldleistungen, für die der Begriff Kostenerstattung verwendet werde. Diese apodiktische Beschränkung der Auslegung auf den eindeutigen Wortsinn widerspreche dem mit der Interpretation anzustrebenden Ziel, unter Heranziehung sämtlicher möglicher Kriterien den maßgebenden Sinn des auszulegenden Gesetzes zu suchen. Bei dieser Suche sei auch der - selbst eindeutige - Gesetzeswortlaut keine unübersteigliche Grenze der Argumentation. Die Verwendung des Wortes Kostenanteil im § 80 Abs.3 BSVG hindere nicht von vornherein eine teleologische Korrektur, auch wenn der Gesetzgeber in § 80 Abs.1 BSVG unter Kostenanteil den Kostenersatz bei Sachleistungen verstehe. Daß der Begriff Kostenanteil in § 80 Abs.3 BSVG nicht als terminus technicus aufzufassen sei, ergebe sich schon daraus, daß unter lit.a Leistungen durch behandelnde Ärzte in bestimmten Fällen (Jugendlichenuntersuchung, Gesundenuntersuchung) als kostenfrei für den Versicherten aufgezählt würden. Da es sich dabei ebenfalls nicht um Sachleistungen handle, sei klargestellt, daß mit Entfall des Kostenanteiles keine Beschränkung auf Sachleistungen normiert werden solle, sondern der Gesetzgeber bestimmte Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge als so bedeutend ansehe, daß die Kosten zur Gänze vom Versicherungsträger übernommen werden sollten. Da diese gesetzgeberischen Überlegungen auch für anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten gelten würden, sei der Rechtsauffassung des Erstgerichtes beizustimmen.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen dieses Urteil von der beklagten Partei erhobene Revision ist nicht berechtigt.
Die Revisionswerberin hält an ihrer Ansicht fest, daß der Begriff des Kostenanteils, gleichgültig ob im Abs.2 oder Abs.3 des § 80 BSVG verwendet, als Fachausdruck mit eindeutigem Begriffsinhalt zu verstehen sei. Verwende aber der Gesetzgeber einen Fachausdruck - und dieser laute eben Kostenanteil, wenn es um die Erbringung von Sachleistungen gehe und Kostenerstattung bzw. Kostenzuschuß, wenn es um die Erbringung von Geldleistungen gehe - lasse der klare Wortlaut der Norm Zweifel über den Inhalt der Regelung nicht aufkommen, so daß eine Untersuchung, ob etwa eine teleologische Auslegung einen anderen Inhalt ergeben würde, nicht möglich sei.
Diesen Ausführungen vermag der erkennende Senat nicht zu folgen. In § 80 BSVG werden grundsätzlich die möglichen Arten der Leistungserbringung der Krankenversicherung geregelt. Das Gesetz sieht Sachleistungen und Geldleistungen durch Kostenerstattung oder durch Kostenzuschüsse vor. Bei Sachleistungen hat der Versicherte 20 vH der dem Versicherungsträger erwachsenden Kosten als Kostenanteil zu ersetzen. Bei Kostenerstattung werden dem Versicherten 80 vH der Kosten erstattet, die ihm auf Grund der mit den Vertragspartner vereinbarten Tarife erwachsen sind. Auch bei der die Geldleistungen betreffenden Kostenerstattung wird die Kostenbeteiligung des Versicherten dadurch wirksam, daß er nur 80 vH der vereinbarten Tarife als Kostenerstattung erhält (so bereits die Materialien zu § 48 B-KVG 784 BlgNR 10.GP 49; ebenso Fürböck-Teschner BSVG 24. Erglfg. 205 f Anm. 2 zu § 80; Radner-Steingruber-Windhaber-Engl BSVG2 259). Sowohl bei der Kostenerstattung von 80 vH der dem Versicherten erwachsenen Kosten wie bei der Auferlegung eines Kostenanteiles handelt es sich um Fälle der Selbstbeteiligung des Versicherten, die immer dann vorliegt, wenn sich der Leistungsempfänger bzw. Versicherte an den Kosten einer Leistung zu beteiligen hat, die in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung fällt (Scholz-Hobel, Selbstbeteiligungen im System der gesetzlichen Krankenversicherung, SoSi 1990, 552; ähnlich Schäfer, Die Kostenbeteiligung als Mittel zur Begrenzung der Ausgaben der Krankenversicherung, DRdA 1984, 131; vgl. auch Schmidl, Perspektiven und Grenzen der Selbstbeteiligung, SoSi 1983, 61). Im BSVG ist eine solche Selbstbeteiligung sowohl bei dem Kostenerstattungssystem wie auch bei dem Sachleistungssystem vorgesehen; auch die 80 %ige Kostenerstattung bedeutet eine prozentuelle Selbstbeteiligung des Versicherten (Scholz-Hobel aaO 556). Einer der vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke der Selbstbeteiligung ist es, eine unnötige Inanspruchnahme von Heilbehandlung auszuschließen (vgl. Schmidl aaO, 66; Schäfer aaO 132 f; Scholz-Hobel aaO 557).
In § 80 Abs.3 BSVG hat der Gesetzgeber aus unterschiedlichen Gründen bei verschiedenen dort aufgezählten Leistungen Ausnahmen vom Grundsatz der Selbstbeteiligung festgelegt. Zunächst einmal ist kein Grund ersichtlich, in den sozialpolitisch erwünschten und auch vom Gesetzgeber getroffenen Ausnahmen einer Selbstbeteiligung zwischen Geld- und Sachleistungen zu unterscheiden. Daß der Gesetzgeber in § 80 Abs.3 BSVG die Selbstbeteiligung nicht nur bei Sach- sondern auch bei Geldleistungen ausschließen wollte, zeigt die historische Betrachtung der Gesetzwerdung. Nach § 80 Abs.3 lit.a in der Stammfassung des BSVG hatte der Versicherte keinen Kostenanteil zu bezahlen a) bei "Sachleistungen" gemäß den §§ 81 und 97. Durch die 9. BSVG-Novelle wurde diese Gesetzesstelle dahin geändert, daß die lit a) zu lauten hatte: "bei Leistungen gemäß den §§ 81, 82, 82a, 97 und 101". Nach den Gesetzesmaterialien galt die alte Bestimmung des § 80 Abs.3 lit.a über die Befreiung von Kostenanteil nur für Sachleistungen. In Verfolgung einer Anregung erschiene es aber angebracht und vertretbar, bei den hier angeführten Leistungen, insbesondere jenen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft (§ 80 Abs.3 lit.e BSVG), eine Befreiung auch bei Inanspruchnahme von Geldleistungen vorzusehen. Der Austausch des Wortes "Sachleistungen" durch "Leistungen" im § 80 Abs.3 lit.a im Zusammenhang mit den erwähnten Gesetzesmaterialien zeigt daher deutlich, daß der Gesetzgeber unter "Kostenanteil" im § 80 Abs.3 ganz allgemein auch jene Fälle der Kostenbeteiligung des Versicherten versteht, in denen er ansonsten nur 80 vH der mit den Vertragspartnern vereinbarten Tarife als Kostenerstattung erhält. Damit ist aber die Argumentation der beklagten Partei, die genannte Gesetzesstelle könne ausschließlich Sachleistungen betreffen, eindeutig widerlegt.
Die Befreiung des Versicherten von der Selbstbeteiligung bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten (§ 80 Abs.3 lit.b BSVG) wurde erst durch die 2. BSVG-Novelle in das Gesetz eingefügt. Damit sollte eine Angleichung an die Rechtslage des § 86 Abs.5 lit.b GSVG erreicht werden (94 BlgNR 15.GP 9; ebenso Fürböck-Teschner aaO 206/1 Anm 6b zu § 80). Daß ein Versicherter bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten keinen Kostenanteil zu bezahlen habe, war bereits in der Stammfassung des GSVG festgelegt. § 86 GSVG ging seinerseits auf § 39 GSKVG 1971 zurück, nach dessen Abs.5 bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten ein Kostenanteil nicht eingehoben werden durfte und der Versicherungsträger bei Vorliegen einer besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit des Versicherten von einer Kostenbeteiligung absehen konnte. Daß schon der damalige Gesetzgeber den Begriff "Kostenanteil" mit Geldleistungen vereinbar hielt, zeigt deutlich § 39 Abs.2 GSKVG 1971, der folgenden Wortlaut hatte: "Im Falle einer Geldleistung im Sinne der Bestimmungen des § 38 Abs.2 lit.b ist der Kostenanteil vom Erstattungsbetrag in Abzug zu bringen".
Auch der Wortlaut des § 80 Abs.3 lit.b BSVG ("bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten") schränkt die hier betroffenen Leistungen nicht auf Sachleistungen ein, wie dies etwa in § 80 Abs.4 lit.b und c (im Gegensatz zur lit.a: "bei allen Leistungen") geschehen ist. Den Vorinstanzen ist daher beizupflichten, daß der Versicherte für Leistungen bei anzeigepflichtigen übertragbaren Krankheiten überhaupt keine Selbstbeteiligung zu tragen hat, daß also Kostenanteil hier im Sinne von Kostenbeteiligung zu verstehen ist. Es wäre auch widersinnig, bei übertragbaren Krankheiten eine Kostenbeteiligung vorzusehen, wenn der Zweck der Kostenbeteiligung darin gesehen wird, eine unnötige Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversicherung auszuschließen (so zutreffend Schäfer aaO 133).
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Eine Kostenentscheidung entfiel, da Kosten nicht verzeichnet wurden.
Anmerkung
E26924European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00309.91.1112.000Dokumentnummer
JJT_19911112_OGH0002_010OBS00309_9100000_000