Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Ernst Löwe (AN) und Dr.Edith Söllner (AG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Klaus M*****, vertreten durch Dr.Hildegard Preuner-Hinterhöller, Rechtsanwältin in Salzburg, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65-67, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9. Juli 1991, GZ 12 Rs 51/91-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22.November 1990, GZ 19 Cgs 11/90-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Rechtsmittelkosten sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Das Erstgericht wies das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, ab. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:
Der Kläger verspürte am 11.8.1989 (gemeint: bei Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung) einen Stich in beiden Leistengegenden, als er gemeinsam mit einem anderen Arbeiter eine Holzpalette aufhob. Am nächsten Tag begab er sich in die Behandlung eines praktischen Arztes. Dieser wies ihn in ein Krankenhaus ein, wo am 4.10.1989 eine beiderseitige direkte Leistenhernie operiert wurde. Der genaue Zeitpunkt, an dem erstmals eine Leistenbruchdiagnose gestellt wurde, kann nicht festgestellt werden. Die Beschwerden, die beim Kläger plötzlich bei der Arbeit auftraten, hätten auch jederzeit bei anderer Gelegenheit durch eine verstärkte oder vermehrte Bauchpresse auftreten können. Sie werden durch das plötzliche Auseinanderweichen von Bindsgewebfasern hervorgerufen, die von vornherein anlagebedingt minderwertig waren.
Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß die Arbeitsleistung des Klägers, bei der es zum Leistenbruch kam, nicht Unfallsursache gewesen sei, sondern nur ein auslösendes Moment dargestellt habe. Es liege daher kein Arbeitsunfall im Sinn des § 175 Abs 1 ASVG vor.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Da der Kläger ein anlagebedingt minderwertiges Bindegewebe gehabt habe, stehe seine Krankheitsanlage im Vergleich zur zweiten Ursache für den Leistenbruch, die darin bestanden habe, daß er zusammen mit einem Kollegen eine 25 bis 40 kg schwere Palette aufhob, im Vordergrund. Der Kläger hätte den Leistenbruch auch durch alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignisse, wie etwa durch das Aufheben einer Getränkekiste oder eines Koffers, erleiden können. Da somit die Arbeitsleistung nicht die alleinige oder überwiegende Ursache für den Schaden gewesen, sondern dieser nur gelegentlich der Arbeit ausgelöst worden sei, liege ein Arbeitsunfall im Sinn des § 175 Abs 1 ASVG nicht vor.
Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen Anwendung "unrichtiger sowie auch mangelhaft zustandegekommener Feststellungen" und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, es im Sinn des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zweiter oder erster Instanz zurückzuverweisen.
Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Der Oberste Gerichtshof hat schon mehrfach ausgesprochen (SSV-NF 2/65, 4/85, 4/150), daß im Verfahren über einen Anspruch aus Arbeitsunfällen die in der Rechtsprechung entwickelten Regeln des Anscheinsbeweises (modifiziert) anzuwenden seien. Diese auch von Fasching (in Tomandl, System 4.ErgLfg 728/15 und in ZPR2 Rz 2315/2) vertretene Rechtsansicht wurde jüngst von Kuderna (FS-Schwarz 595, insb 603 f und 610) mit der Begründung abgelehnt, daß in Sozialrechtssachen, von bestimmten Ausnahmen abgesehen (vgl aaO 601 iVm 599 in FN 12), der Untersuchungsgrundsatz gelte und der Anscheinsbeweis für den auf die objektive Beweislast beschränkten Untersuchungsgrundsatz keinen Anwendungsbereich habe. Der erkennende Senat vermag sich dem nicht anzuschließen:
Abgesehen davon, daß auch in den von Kuderna angeführten Sozialrechtssachen höchstens eine Annäherung an den Untersuchungsgrundsatz gegeben ist (SSV-NF 1/32), steht es dem Anscheinsbeweis nicht entgegen, daß in einem Verfahren bloß die objektive und nicht auch die subjektive Beweislast (vgl hiezu Fasching, ZPR2 Rz 879 f) besteht. Der Anscheinsbeweis ist nämlich eine Verschiebung des Beweisthemas von der tatbestandsmäßig geforderten Tatsache auf eine leichter erweisliche Tatsache (Fasching, ZPR2 Rz 894; SSV-NF 2/65, 4/150). Er ändert daher die objektive Beweislast dahin, daß nicht die tatbestandsmäßig geforderte Tatsache, sondern eine andere Tatsache feststehen muß, damit dem Begehren stattgegeben werden kann. Daß in den vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren die subjektive Beweislast nicht gilt, bedeutet nur, daß der Beweis (und auch damit auch der Anscheinsbeweis) nicht schon dann als mißlungen anzusehen ist, wenn die von der (objektiv) beweispflichtigen Partei beantragten Beweise nicht ausreichen, sondern daß es auch darauf ankommt, ob der Beweis allenfalls durch andere von Amts wegen aufzunehmende Beweise hätte erbracht werden können. Dies hat aber nichts damit zu tun, ob die Regeln des Anscheinsbeweises angewendet werden können.
Der erkennende Senat vermag Kuderna ferner nicht darin zu folgen, daß in Sozialrechtssachen unter bestimmten Voraussetzungen anstelle des Anscheinsbeweises das Beweismaß herabzusetzen sei (vgl aaO 611 ff). Zum einen kann nicht darüber hinweggegangen werden, daß in Sozialrechtssachen gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch § 272 Abs 1 ZPO gilt und es daher darauf ankommt, ob eine Tatsache für "wahr" zu halten ist (vgl hiezu Fasching, ZPR2 Rz 802 und 815). Zum anderen läßt sich die Herabsetzung des Beweismaßes entgegen der Meinung Kudernas nicht daraus ableiten, daß das gerichtliche Verfahren mit dem Verwaltungsverfahren koordiniert werden muß, weil auch für das Verwaltungsverfahren die objektive Beweislast gilt (Fasching, ZPR2 Rz 879; Oberndorfer in Tomandl, System
3. ErgLfg 668) und daher ein Anspruch nur bejaht werden kann, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen erwiesen sind. Aus dem Gesetz ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß der Versicherungsträger bei der Lösung dieser Frage von einem herabgesetzten Beweismaß ausgehen müßte. Der Umstand, daß der dem § 272 Abs 1 ZPO entsprechende § 45 Abs 2 AVG im § 357 ASVG nicht erwähnt wird und daher nicht unmittelbar anzuwenden ist, bildet einen solchen Anhaltspunkt nicht. Der darin festgelegte Grundsatz ist als allgemeiner verwaltungsverfahrensrechtlicher Grundsatz auch ohne entsprechende gesetzliche Anordnung zu beachten (Oberndorfer aaO 664 f), zumal in erster Linie das Bestreben nach Vereinfachung der Erledigung von Massenverfahren dafür maßgebend war, daß die Bestimmungen des AVG über das Ermittlungsverfahren (§§ 37 bis 55) mit Ausnahme des § 38 nicht für anwendbar erklärt wurden (vgl die Begründung zum Initiativantrag der 9. ASVGNov, abgedruckt in der MGA ASVG § 357 FN 1 und Oberndorfer aaO 667). Die Herabsetzung des Beweismaßes ist daher entgegen der Meinung Kudernas (aaO 612) nicht notwendig, um eine Schlechterstellung des Klägers gegenüber dem Verfahren vor dem Versicherungsträger zu vermeiden; sie würde im Gegenteil eine nicht zu rechtfertigende Besserstellung zur Folge haben.
Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung aus einem Arbeitsunfall ist, daß die Körperschädigung hiedurch "wesentlich" verursacht wurde. Kommen noch andere Ursachen in Betracht, so ist dies dann der Fall, wenn der Arbeitsunfall gegenüber den anderen Ursachen nicht erheblich in den Hintergrund tritt (SSV-NF 3/95 mwN). Es besteht also dann kein Anspruch auf eine Leistung, wenn einer krankhaften Veranlagung gegenüber dem Unfall die überragende Bedeutung zukommt, wenn also wegen der Veranlagung jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis etwa zur selben Zeit die Schädigung ausgelöst hätte (SSV-NF 3/95; SSV-NF 4/85 ua). Die Möglichkeit des Anscheinsbeweises bringt nun eine Verschiebung des Beweisthemas dahin, daß auch dann, wenn noch andere Ursachen in Betracht kommen, nur feststehen muß, daß die Körperschädigung eine typische Folge eines als Unfall zu wertenden Ereignisses (vgl SSV-NF 4/85) ist, das im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung stand (§ 175 Abs 1 ASVG) und daher ein Arbeitsunfall war (vgl SSV-NF 4/150). Es muß hingegen nicht noch erwiesen sein, daß der Arbeitsunfall gegenüber den anderen Ursachen nicht erheblich in den Hintergrund trat. Steht der Arbeitsunfall als Ursache der Körperschädigung fest, so genügt der Anscheinsbweis nur dann nicht, wenn es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß eine andere Ursache die Körperschädigung im selben Ausmaß und etwa zur selben Zeit herbeigeführt hätte. Die Modifizierung bei der Anwendung des Anscheinsbeweises in Sozialrechtssachen besteht also gegenüber jenem Teil des Schrifttums und der Rechtsprechung, der schon jede ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs als zur Entkräftung des Anscheinsbeweises ausreichend ansieht (Gschnitzer Anm zu JBl 1953, 18; Rechberger in ÖJZ 1972, 427;
Fasching, Kommentar III 236 und ZPR2 Rz 895; Koziol, Haftpflichtrecht2 I 325; EvBl 1983/120; RZ 1990/57 ua, hingegen so wie hier schon Reischauer in Rummel ABGB Rz 4 zu § 1296;
JBl 1960, 188; SZ 50/136; noch weitergehend JBl 1972, 569), darin, daß im Sinn der gebotenen sozialen Rechtsanwendung der Anscheinsbeweis nur dann entkräftet ist, wenn dieser Möglichkeit zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit wie dem Arbeitsunfall zukommt. In diesem Sinn sind die Ausführungen in den Entscheidungen, die in Sozialrechtssachen zum Anscheinsbeweis bisher ergingen (SSV-NF 2/65, 4/85, 4/150), zu präzisieren. Die Modifizierung besteht gegenüber den vom Verhandlungsgrundsatz beherrschten Verfahren außerdem darin, daß zufolge § 87 Abs 1 ASGG die Beweisführungslast für die zu beweisenden Tatsachen nicht eine einzelne Partei trifft, sondern daß das Gericht die Beweise von Amts wegen aufzunehmen hat. Der Meinung Kudernas, daß der Versicherungsträger den atypischen Verlauf und nicht bloß die (zumindest gleich wahrscheinliche) Möglichkeit eines atypischen Verlaufs beweisen müsse (ASGG 438), vermag sich der erkennende Senat hingegen nicht anzuschließen, weil der Beweis des Gegenteils nur bei gesetzlichen Vermutungen und bei Umkehr der Beweislast verlangt werden kann (Fasching, ZPR2 Rz 2315/2 iVm Rz 895).
In dem hier zu entscheidenden Fall hat der Kläger nach den - deutlicher allerdings erst dem Berufungsurteil zu entnehmenden - Tatsachenfeststellungen den Anschein für sich, daß die geltend gemachte Körperschädigung durch einen Arbeitsunfall wesentlich verursacht wurde, weil sie auf ein als Unfall zu wertendes Ereignis zurückgeht, das sich während der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignete. Die Feststellungen des Erstgerichtes reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß die krankhafte Veranlagung des Klägers die wesentliche Ursache für die Körperschädigung war. Hiebei kommt es nämlich nicht darauf an, ob wegen dieser Veranlagung jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis dieselbe Schädigung hätte herbeiführen können, sondern darauf, ob es zumindest gleich wahrscheinlich ist, daß ein solches Ereignis in naher Zukunft tatsächlich vorgekommen wäre und dieselbe Schädigung ausgelöst hätte. Der Oberste Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang schon ausgesprochen (10 Ob S 414/90 = SSV-NF 5/22 - in Druck), daß ein Unfall jedenfalls dann eine wesentliche Bedingung für eine Körperschädigung ist, wenn diese mehr als ein Jahr früher als ohne dieses Ereignis eintrat.
Zur Widerlegung des vom Kläger erbrachten Anscheinsbeweises genügt also nicht der Beweis einer abstrakten Möglichkeit, sondern es muß die konkrete, zumindest gleich hohe Wahrscheinlichkeit bewiesen werden. Da die Lösung der Frage, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit der Veranlagung des Klägers die überragende Bedeutung für die von ihm geltend gemachte Körperschädigung zukommt, in erster Linie in den Tatsachenbereich fällt, müssen die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben werden.
Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E28173European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00278.91.1217.000Dokumentnummer
JJT_19911217_OGH0002_010OBS00278_9100000_000