TE OGH 1992/4/7 10ObS67/92

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Veröffentlicht am 07.04.1992
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Roman Merth (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Henrike Blatterer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dipl.Ing.Dr.Franz L*****, Chemiker, ***** vertreten durch Dr.Günter Niebauer, Dr.Armin Paulitsch und Dr.Karl Schaumüller, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Dezember 1991, GZ 31 Rs 165/91-20, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 8.April 1991, GZ 13 Cgs 66/90-16, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 18.3.1936 geborene Kläger ist als Chemiker bei einem Unternehmen angestellt, das sich mit der Erzeugung von Lacken beschäftigt. Am 9.5.1988 erlitt er auf einer Dienstreise in Frankreich einen Verkehrsunfall, bei dem er ein Peitschenschlagtrauma, eine Brustkorbquetschung, eine Sprengung der straffen Gelenksverbindung zwischen Handgriff und Körper des Brustbeins, einen Bluterguß am rechten Oberarm innen und am Stamm entlang der Sicherheitsgurten, eine Verstauchung des rechten Sprunggelenkes und einen traumatischen Verlust des Geruchssinns (beiderseitige Anosmie) davontrug. Die Verletzungen sind vollständig folgenlos ausgeheilt. Die unfallsbedingte Anosmie besteht jedoch weiterhin. Die Geruchsprüfung ergibt, daß verschiedene Riechstoffe nicht erkannt werden; diverse Geschmacksqualitäten bei der Geschmacksprobe werden hingegen erkannt. Der Kläger ist als Diplomchemiker Leiter eines chemischen Laboratoriums und in diesem Beruf besonderen Anforderungen an das Geruchs- und Geschmacksvermögen ausgesetzt.

Mit Bescheid der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 14.3.1990 wurde die Gewährung einer Rente aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 9.5.1988 abgelehnt, weil eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß nicht vorliege.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls eine Vershertenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente als Dauerrente ab dem 10.5.1988 zu gewähren. Das Erstgericht ging davon aus, daß nach den allgemeinen Richtlinien für die Einschätzung der Erwerbsminderung im HNO-Bereich eine beiderseitige Anosmie (Verlust des Geruchssinns) zwar grundsätzlich mit 10 vH einzuschätzen sei, in bestimmten Berufen jedoch - so auch im Beruf des Klägers - ein besonderes berufliches Betroffensein begründe und in diesen Fällen daher eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH angemessen sei, weil eine besondere berufliche Härte vorliege.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im Sinne einer Abweisung der Klage ab. Eine besondere berufliche Betroffenheit könne im allgemeinen zu keiner höheren Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit führen. Unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit iS des § 203 ASVG sei die Fähigkeit zu verstehen, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen. Die Ausbildung und der bisherige Beruf des Verletzten seien bei der Einschätzung nur insoweit zu berücksichtigen, als dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich sei. Ein derartiger Härtefall liege aber entgegen der Auffassung des Erstgerichtes nicht vor. Nicht einmal die Unfähigkeit, den bisher ausgeübten Beruf weiter auszuüben, begründe für sich allein einen Härtefall (SSV-NF 3/3, 22, 128). Umsoweniger läge ein Härtefall vor, wenn der Versicherte auch nach dem Unfall (wie der Kläger) sein bisheriges Dienstverhältnis fortsetzen könne. Es würde selbst dann keinen Härtefall darstellen, wenn es zuträfe, daß der Kläger wegen der Beeinträchtigung seines Geruchssinns die Leitung des Probelacklabors habe abgeben müssen. Dem Einwand des Klägers, er sei von Gehaltserhöhungen ausgeschlossen, sei entgegenzuhalten, daß ein solcher Ausschluß zumindest in Ansehung der regelmäßigen kollektivvertraglichen Erhöhung der Istgehälter unwirksam wäre. Schließlich käme für einen Chemiker mit Hochschulbildung nicht nur Laborarbeit, sondern etwa auch eine Tätigkeit im Bereich der Aufarbeitung und Dokumentation wissenschaftlicher Arbeiten, Veröffentlichungen und Fachliteratur in Betracht. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers sei daher richtigerweise nur mit 10 vH einzuschätzen, so daß das rentenbegründende Ausmaß von 20 vH nicht erreicht werde.

Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß der Kläger keinen Anspruch auf Versehrtenrente hat, weil das nach § 203 Abs 1 ASVG rentenbegründende Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH nicht erreicht wird, ist zutreffend.

Dem Urteil des Erstgerichtes kann mit hinreichender Deutlichkeit entnommen werden, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers aus medizinischen Gründen unter Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (SSV-NF 1/64 = SZ 60/262 ua) nur 10 vH beträgt. Dies erhellt insbesondere durch den Hinweis auf die regelmäßig bei der Beurteilung von HNO-bedingten Funktionseinbußen angewendeten und allgemein anerkannten Richtlinien für die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit im HNO-Bereich nach Feldmann ("Das Gutachten des HNO-Arztes"), wonach eine beidseitige Anosmie (Geruchsverlust) grundsätzlich mit 10 vH einzuschätzen ist (so auch Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit3 (1984), 258).

Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß das Erstgericht zu Unrecht annahm, im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall seien auch die Ausbildung und der bisherige Beruf des Klägers zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen und der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit abweichend von den üblichen Richtlinien mit 20 vH festzusetzen. Ein solcher Härtefall liegt nämlich hier nicht vor; der Kläger hat keinerlei Einbußen in wirtschaftlicher Hinsicht erfahren. Damit ein Härtefall vorläge, müßten den Kläger infolge der Aufgabe oder erheblichen Einschränkung der bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich sein oder ganz erheblich schwer fallen, wobei im Interesse der Vermeidung einer zu starken Annäherung an konkrete Schadensberechnung ein strenger Maßstab anzulegen wäre. Allfällige künftige Schäden dieser Art, zB der Verlust von Aufstiegsmöglichkeiten müßten dabei unbeachtlich sein (so auch die Auffassung in der Bundesrepublik Deutschland zu der ausdrücklichen Härteklausel des § 581 Abs 2 RVO über die Berücksichtigung erworbener besonderer beruflicher Kenntnisse und Erfahrungen; vgl Ricke im Kasseler Komm.SozVersR § 581 RVO Rz 15 bis 18; Gitter im SV-Gesamtkommentar Band 6 § 581 RVO, 104/38-10 f; Brackmann, Handbuch der SV III, 56. Nachtrag, 568 l ff; Podzun, Unfallsachbearbeiter 500,4 jeweils mit Hinweisen auf die Judikatur des BSG). Ein "besonderes berufliches Betroffensein" des Klägers, das zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Annahme eines höheren Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, ist unter diesen Gesichtspunkten nicht gegeben.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit sind nicht ersichtlich und wurden auch nicht dargetan.

Anmerkung

E29413

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00067.92.0407.000

Dokumentnummer

JJT_19920407_OGH0002_010OBS00067_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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