Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Robert Letz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alfred Klair (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Emilie W*****, vertreten durch Dr. Gerald Meyer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei PENSIONSVERSICHERUNGSANSTALT DER ANGESTELLTEN, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. Jänner 1992, GZ 32 Rs 196/91-23, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 18. Juni 1991, GZ 16 Cgs 258/90-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufungsbeantwortung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom 2. 8. 1990 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 23. 4. 1990 auf Hilflosenzuschuß mangels Hilflosigkeit ab.
Die dagegen rechtzeitig erhobene, erkennbar auf die abgelehnte Leistung gerichtete Klage stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Klägerin nicht mehr imstande sei, "ihre Wohnung usw. allein zu bearbeiten" und jemand brauche, der ihr "bei den schweren Sachen" helfe. "Sie liege und sitze schon mehr als alles andere" und könne vom Knien kaum aufstehen.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß ab 23. 4. 1990 zu gewähren.
Es traf im wesentlichen folgende Feststellungen:
Die am 9. 6. 1917 geborene Klägerin leidet an einem kompensierten Hochdruck, Verdauungsstörungen und Bauchschmerzen bei Gallenblasenentzündung und Dickdarmreizzustand, beginnendem grauen Star, der die Sehschärfe des rechten Auges auf 0,5, die des linken Auges auf 0,3 herabsetzt, deutlichen Winkelzehen rezidiven, mobilen Senkspreizfüßen, einer Wirbelsäulenverbiegung mit Knochenkalksalzverarmung und altersgemäßen Aufbrauchserscheinungen am Stützapparat mit geringen funktionellen Einschränkungen, altersgemäßen Aufbrauchserscheinungen am Bewegungsapparat ohne wesentliche funktionelle Einschränkungen und mittelgradigen Krampfadern beidseits.
Mit diesem seit der Antragstellung bestehenden, nicht besserungsfähigen Gesundheitszustand kann die Klägerin allein essen, trinken, ihren Körper reinigen und pflegen, sich an- und auskleiden, die Notdurft verrichten, einfache Speisen zubereiten und einnehmen, kleine Verrichtungen wie oberflächliches Aufräumen, Betten richten und dergleichen vornehmen. Sie kann eine automatische Heizung betätigen; die Wartung eines Ofens mit festen Brennstoffen wäre nur möglich, wenn das Brennmaterial in die Wohnung gebracht wird. Sie kann allein ausgehen und Lebensmittel bis etwa 3 kg heimtragen. Gelegentlich kann sie die Straße nur mit einer Begleitperson betreten.
Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, die Klägerin sei nicht in der Lage, die schwierigen Tätigkeiten des täglichen Lebens durchzuführen, benötige zum Einkaufen gelegentlich Hilfe und könne sich lediglich kleine Speisen kochen. Die Zubereitung einer ordentlich gekochten Mahlzeit, die längere Zeit in Anspruch nehme, sei nicht möglich. Für die schwierigen Tätigkeiten wie Großreinemachen, Fensterputzen etc. seien monatlich 10 bis 15 Stunden anzusetzen. Weil einem Pensionisten nicht zugemutet werden könne, sich ausschließlich von vorgefertigten oder aufgewärmten Speisen zu ernähren, und er täglich Anspruch auf wenigstens eine ordentlich gekochte Mahlzeit habe, seien, selbst wenn man davon ausgehe, daß die Klägerin gelegentlich mit kleinen Speisen das Auslangen zu finden habe, für das Zubereiten von Mahlzeiten an reiner Kochzeit monatlich 20 Stunden Hilfe erforderlich. Dazu kämen noch 15 bis 20 Stunden Wegzeit, in denen aber auch das gelegentliche Einkaufen erledigt werden könne. Bei einem durchschnittlichen Stundensatz von 80 S ergebe sich für 45 bis 55 Stunden der Hilfe ein den durchschnittlichen Mindesthilflosenzuschuß übersteigender Aufwand.
Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im klageabweisenden Sinn ab.
Die Klägerin benötige Hilfe für die großen Reinigungsarbeiten, für die große Wäsche, das Zubereiten einer kompletten Mahlzeit und fallweise beim Einkaufen. Zu einer ordentlichen Mahlzeit zähle aber auch eine große Vielfalt von handelsüblicher Tiefkühlkost oder Konserven, die nur gewärmt werden müßten. Die Verwendung solcher Speisen sei der Klägerin, wenn auch nicht ständig, so doch in größerem Umfang, zumutbar, weshalb Hilfe beim Kochen nur im Abstand von mehreren Tagen erforderlich sei. Auch die größeren Reinigungsarbeiten, wie die große Wäsche, seien in zeitlichen Abständen, daher nicht ständig durchzuführen. Daher sei auszuschließen, daß die Kosten der erforderlichen Hilfe auch nur annähernd den Mindesthilflosenzuschuß erreichen.
Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist im Sinn des Aufhebungsantrages berechtigt.
Die bisherigen Feststellungen reichen nämlich zu einer verläßlichen Beurteilung der Frage, ob die Klägerin hilflos im Sinn des § 105 a Abs 1 ASVG ist, nicht aus.
Die erstgerichtlichen Feststellungen, daß die Klägerin (nur) einfache Speisen zubereiten und einnehmen und kleine Verrichtungen wie oberflächliches Aufräumen, Betten richten und dergleichen vornehmen kann, gehen auf die Formulierungen im schriftlichen Gutachten des Sachverständigen für Chirurgie ON 4 AS 11 zurück. Die Feststellung, daß die Klägerin die Straße gelegentlich nur mit einer Begleitperson betreten kann, stützt sich auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen für innere Medizin ON 10 AS 29, wonach die Klägerin das Stiegensteigen, Betreten der Straße und Tätigen von Einkäufen gelegentlich nur mit einer Begleitperson durchzuführen vermag.
Abgesehen davon, daß nicht klar ist, warum die Klägerin nur einfache Speisen einnehmen kann, fehlt es an klaren Feststellungen, in welcher Weise sie aus gesundheitlichen Gründen bei der Zubereitung von Mahlzeiten und bei der Verrichtung von anderen notwendigen Haushaltsarbeiten behindert ist.
Die vom Sachverständigen für Chirurgie verwendeten Begriffe "Zubereitung einfacher Speisen" und "kleine Verrichtungen wie oberflächliches Aufräumen, Betten richten und dergleichen" und die vom Internisten gebrauchten Begriffe "notdürftige Reinigung der Wohnung" und "gelegentlicher" Bedarf nach einer Begleitperson beim Stiegensteigen, Betreten der Straße und Einkäufen sind zu unbestimmt (vgl. insbes. zur Frage der Speisenzubereitung SSV-NF 5/46). Überdies fehlen - auch für medizinische Laien nachvollziehbare - Begründungen, durch welche krankheits- oder leidensbedingten Funktionsbehinderungen die Klägerin bei den genannten Verrichtungen eingeschränkt ist.
Weil daher nach Inhalt der Prozeßakten dem Revisionsgericht erheblich scheinende Tatsachen schon in erster Instanz nicht ausreichend erörtert und festgestellt wurden, also Feststellungsmängel vorliegen, die im Rahmen der Rechtsrüge zu beachten waren, war der Revision Folge zu geben, die Urteile der Vorinstanzen waren aufzuheben und die Sozialrechtssache war zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).
Im fortgesetzten Verfahren werden auch Feststellungen über die Beheizung der Wohnung der Klägerin zu treffen sein. Sollte die in der Berufungsbeantwortung - damals als Neuerung - behauptete Verschlechterung der Sehleistung auch im fortgesetzten Verfahren erster Instanz vorgetragen werden, wird auch darauf einzugehen sein.
Erst nach den aufgetragenen Ergänzungen kann verläßlich beurteilt werden, inwieweit die Klägerin seit der Antragstellung für die notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens Hilfe braucht und ob die dafür erforderlichen Aufwendungen den begehrten Hilflosenzuschuß, der hier wegen der geringen Pensionshöhe nur im gesetzlichen Mindestausmaß gebühren würde, erreichen.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufungsbeantwortung und der Revision beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E29427European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00142.92.0616.000Dokumentnummer
JJT_19920616_OGH0002_010OBS00142_9200000_000