Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Robert Letz (AG) und Alfred Klair (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Wolfgang W*****, Transportunternehmer, ***** vertreten durch Dr. Peter L.Imre, Rechtsanwalt in Gleisdorf, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 31.Oktober 1991, GZ 7 Rs 90/91-67, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22. März 1991, GZ 30 Cgs 142/90-62, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 6.7.1987 wies die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 24.3.1987 auf Berufsunfähigkeitspension ab, weil er trotz einer seit 1981 bestehenden insulinpflichtigen Zuckerharnruhr nicht berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG sei.
Die auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.4.1987 gerichtete Klage stützt sich darauf, daß der Kläger, der von 1972 bis 1978 Gendarmeriebeamter gewesen sei und seit 1979 ein Transportunternehmen betreibe, dessen geschäftsführender Gesellschafter er sei, wegen seiner schweren Zuckerkrankheit weder den schon ausgeübten noch anderen zumutbaren Tätigkeiten nachgehen könne.
Die beklagte Partei wendete ein, daß der als Vertreter berufstätig gewesene Kläger diesen Beruf oder eine ähnliche zumutbare Beschäftigung ausüben könne und beantragte die Abweisung der Klage.
Im ersten Rechtsgang erkannte das Erstgericht das Klagebegehren ab 1.4.1987 als zu Recht bestehend.
Das Berufungsgericht gab jedoch der Berufung der beklagten Partei Folge, hob das erstgerichtliche Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es erachtete Feststellungen über die Art der zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit und darüber als notwendig, ob es eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen gibt, in deren Nähe während der Mittagspause erreichbare gastwirtschaftliche Betriebe liegen, die nach Absprache Diätkost verabreichen. Das Leistungskalkül sei dahin zu präzisieren, ob der Kläger auch im Sitzen arbeiten könne. Weiters seien die Feststellungen, die Arbeitsleistung könne nur bis zur Hälfte des Arbeitstages erbracht werden, Büroarbeiten, Arbeiten in gebückter Haltung und Tragen und Heben von Lasten bis zu 15 kg Gesamtgewicht seien - gleichmäßig verteilt auf ein Drittel des Arbeitstages - zumutbar, zu präzisieren und zu klären, ab wann dem Kläger welche Art von Zeitdruck nicht mehr zumutbar ist.
Im zweiten Rechtsgang wies das Erstgericht die Klage ab.
Es traf im wesentlichen folgende Tatsachenfeststellungen:
Der körperliche und geistige Zustand des am 8.7.1950 geborenen
Klägers ist folgendermaßen eingeschränkt: vermehrter Rundrücken, verstärkte Lendenlordose, mäßige Verspannung der paravertebralen Muskulatur, mäßige Klopfschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule, endgradige Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule und der seitlichen Rumpf- und Drehbewegungen, Gangbehinderung, Schmerzen beim Zehen-Ballen-Gang und Einschränkung der tiefen Kniebeuge; stoffwechselbedingtes, leichtes, sowohl sensibles als auch motorisches Polyneuropathiesyndrom an beiden unteren Extremitäten und reaktiver Verstimmungszustand ohne Krankheits- und Psychosewert; äußerst geringgradige stoffwechselbedingte Veränderungen der Netzhaut (Stadium O-1 einer viergradigen Skala) mit praktisch normalem Sehvermögen beider Augen; schwer einstellbarer sekundärer insulinpflichter Diabetes mellitus vom Typ II B. Dieser bedurfte in der Vergangenheit einer exakten Diäteinstellung, die auf sechs Mahlzeiten pro Tag mit genau vorgegebenen Broteinheiten ausgerichtet ist: Frühstück, nach zwei Stunden Zwischenmahlzeit, "obligatorische" warme Mittagsmahlzeit zwischen 10.00 und 13.30 Uhr, nach zwei Stunden Zwischenmahlzeit, um 17.30 Uhr Abendmahlzeit, nach weiteren zwei Stunden Spätmahlzeit. Die beiden Zwischenmahlzeiten sollen je eine Broteinheit (= eine Scheibe Brot) aufweisen. Für die Ernährung des Klägers sind nicht allein die Broteinheiten, sondern vor allem auch der Fettgehalt der Mahlzeiten von Bedeutung. Eine zu fettreiche Nahrung bringt für einen Diabetiker immer gesundheitliche Nachteile mit sich. Ein geschulter Diabetiker ist zwar in der Lage, sich in einem normalen Gasthaus die nötigen Broteinheiten auszusuchen, doch wird in gastronomischen Betrieben, insbesondere im ländlichen Bereich, häufig zu fett gekocht. Die Zahl der Betriebe, die eine für den Gesundheitszustand des Klägers als Diabetikers zuträgliche Vollwertkost anbieten, ist in Österreich noch sehr gering. Es ist dem Kläger auf die Dauer unzumutbar, als Alternative zu einer warmen Mittagsmahlzeit etwa nur Salat und Brot zu sich zu nehmen. Tiefgekühlte vollwertige Diabetikermahlzeiten gibt es auf dem österreichischen Markt nicht. Auch die Mitnahme vorgekochter Mahlzeiten in Thermosbehältern ist für den Diabetiker nicht empfehlenswert, weil dabei eine Bakterienvermehrung und ein Vitaminverlust auftreten. Beim Aufwärmen vorgekochter Speisen am Arbeitsplatz kann es insbesondere bei Gemüse auf Dauer zu Gesundheitsschäden kommen, weil aus Nitraten Nitrite werden. Seit der Scheidung seiner Ehe im Jahre 1985 hat der Kläger die von seiner Mutter oder seiner Freundin gekochten Mittagsmahlzeiten zu Hause eingenommen.
Dem Kläger sind zwar keine schweren, aber leichte und mittelschwere geregelte Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen, im Freien und in geschlossenen Räumen zumutbar. Tätigkeiten im Sitzen sind uneingeschränkt zumutbar, Arbeiten im Gehen und Stehen nur bis zur Hälfte des Arbeitstages, gleichmäßig über diesen verteilt. Nach 3/4- bis einstündiger Arbeit im Gehen und Stehen soll gleichlang im Sitzen gearbeitet werden. Der Kläger darf aber nicht ununterbrochen vier Stunden im Gehen und Stehen arbeiten. Büroarbeiten, auch solche an Bildschirmen, sind uneingeschränkt zulässig. Arbeiten in gebückter Körperhaltung sowie Heben und Tragen von Lasten bis zu einem Gesamtgewicht von 15 kg sind bis zu einem Drittel der täglichen Arbeitszeit zumutbar. Arbeiten an exponierten Stellen, wie Leitern und Gerüsten, an Maschinen und Geräten sowie unter zeitlicher Belastung, die in ihrem Arbeitstempo Akkord- und Fließbandarbeiten entsprechen, sind nicht zumutbar, doch ist der Kläger einem forcierten Arbeitstempo ganztägig uneingeschränkt gewachsen. Tätigkeiten, die mit dem Lenken eines Kraftfahrzeuges verbunden sind, sind wegen der starken Blutzuckerschwankungen nicht zumutbar. Die Fingerfertigkeit ist nicht eingeschränkt. Auf den Anmarschweg zur Arbeitsstätte und auf Witterungseinflüsse ist nicht Bedacht zu nehmen. Die Verweisungsfähigkeit ist auf alle bisherigen Tätigkeiten, aber prinzipiell auch auf gänzlich neue Bereiche gegeben.
Dieser Zustand galt von der Antragstellung bis zum stationären Aufenthalt im Krankenhaus der Elisabethinen in Graz vom 17. bis 25.10.1990. Dabei bestätigte sich, daß unter den jetzigen therapeutischen Gegebenheiten ein schwer einstellbarer sekundär insulinpflichtiger Diabetes mellitus besteht, der eines strengen diätischen Regimes bedarf. Deshalb wurde eine Umstellung auf die heute modernste Therapieform der NIS-Therapie versucht. Dabei handelt es sich um eine selbständige, das heißt durch den Patienten mittels Blutzuckerkontrollen gesteuerte normoglykämische Insulinsubstitution, die beim Kläger unter Spitalsbedingungen zu einer beeindruckenden Stoffwechselverbesserung führte. Diese Therapie besteht darin, daß der Patient vier- bis sechsmal pro Tag selbst den Blutzucker bestimmt, indem er sich mit einem von der Krankenkasse zur Verfügung gestellten Gerät in den Finger sticht. Eine solche Blutzuckerspiegelbestimmung dauert etwa drei Minuten. Wenn es notwendig ist, muß der Kläger dann vor der Mittagsmahlzeit Insulin spritzen, was er im übrigen zwischen zwei- und viermal, bei besonderen Anlässen auch sechsmal pro Tag tun muß. Diese Therapie ist grundsätzlich zumutbar und wird von einer Vielzahl von Diabetikern in allen möglichen Berufen ausgeführt. Es ist wahrscheinlich, daß sich diese Therapie beim Kläger auch im praktischen Leben bewähren wird. Für diese Therapie ist eine mehrwöchige Einschulung notwendig, weil die Selbstbehandlung spezielle Kenntnisse erfordert. Mit dieser Einstellung sollte jeder Diabetiker in der Lage sein, Probleme, die sich aus einer nicht ganz exakten Diät ergeben, selbst auszugleichen. Der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, an einem Einschulungskurs mit anderen Zuckerkranken im Alter von 15 bis 40 Jahren teilzunehmen, lehnte dieses Angebot jedoch ab und verließ das Krankenhaus bereits am 25.10.1990 auf eigenen Wunsch mit dem Hinweis, er werde sich im Jänner 1991 einschulen lassen. Er nahm aber auch an diesem Jännereinschulungskurs, der nur etwa 7 bis 10 Tage gedauert hätte, nicht teil. Der wesentliche Vorteil der NIS-Therapie ist, daß der Patient auf (Stoffwechsel)Entgleisungen unmittelbar reagieren kann. Deshalb ist bei dieser Therapie die Einhaltung der Diätvorschriften nicht so genau notwendig wie bei anderen Therapien. Bei der NIS-Therapie wäre es dem Kläger durchaus zumutbar, sich nach vorheriger Absprache in Gaststätten eine Mahlzeit zubereiten zu lassen.
Der Kläger ist gelernter Einzelhandelskaufmann. Nach dem Präsenzdienst beim österreichischen Bundesheer im Jahre 1970 war er bis 31.10.1972 als angestellter Handelsvertreter in der Gastronomiebranche tätig. Dann war er bis 31.10.1978 Gendarmeriebeamter. Von November 1978 bis zur Erteilung der noch immer aufrechten Gewerbeberechtigung für ein von ihm gegründetes Transportunternehmen am 5.5.1979 bezog er Arbeitslosenunterstützung. Sein Gesundheitszustand hatte sich jedoch 1985/86 bereits so verschlechtert, daß er nicht mehr in der Lage war, sein Unternehmen selbst auszuüben. Um wieder in den Genuß einer Krankenversicherung und eines Pensionsvorschusses zu kommen, übte er vom 16.6.1986 bis 31.3.1987 die Tätigkeit eines angestellten Handelsvertreters bei einer Strumpffabrik aus. Seit 1.4.1987 bezieht er einen Pensionsvorschuß.
Grundsätzlich waren mit dem medizinischen
Leistungskalkül - abgesehen von den diätetischen Problemen - die Tätigkeiten eines Disponenten bei einer Spedition oder eines Kundenbetreuers im Autoverleih, insbesondere eines Angestellten in der Filiale einer Verleihfirma, zumutbar, nicht jedoch die Tätigkeit eines Handelsvertreters, weil der Kläger kein Auto lenken kann. Bis zur Umstellung auf die NIS-Therapie "ergibt sich jedoch aus berufskundlicher Sicht wegen der strengen Diätvorschriften, daß eine geregelte Arbeitsleistung nicht mehr vorstellbar war". Einerseits ist es dem Dienstgeber nicht zumutbar, daß sich der Kläger - falls er das überhaupt kann - selbst am Arbeitsplatz warme Mahlzeiten frisch zubereitet, anderseits sind in den meisten Fällen keine entsprechenden Kücheneinrichtungen vorhanden. Die nach dem Arbeitnehmerschutzgesetz vorhandenen Küchen dienen nur zum Aufwärmen mitgebrachter Speisen und zum Zubereiten von Tee uä. Geht man aber davon aus, daß der Kläger (mit) Erfolg die NIS-Therapie anwendet, dann sind ihm die genannten Verweisungstätigkeiten zumutbar.
Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei dem Kläger zwar bis zu seinem Krankenhausaufenthalt im Oktober 1990 wegen der diätetischen Probleme keine geregelte Arbeitsleistung zumutbar gewesen, seither sei er jedoch als Disponent im Speditionsgewerbe und als Kundenbetreuer im Autoverleih verweisbar und deshalb nicht berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG. Die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension für die Vergangenheit sei dem Gericht verwehrt, weil der Zustand der Arbeitsunfähigkeit zur Zeit des Schlusses der mündlichen Verhandlung nicht mehr vorhanden gewesen sei. Daß sich noch nicht mit absoluter Sicherheit feststellen lasse, wie sich die NIS-Therapie in der Praxis auswirken werde, habe sich der Kläger selbst zuzuschreiben, weil er die ihm angebotene zumutbare Einschulung verweigert habe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.
Daß sich die NIS-Therapie im praktischen Lebens des Klägers wahrscheinlich bewähren werde, sei festgestellt. Daß dies nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, sei rechtlich unerheblich. Diese Therapie sei für den Kläger mit keinerlei Risiko oder Beschwerden verbunden. Er wäre daher verpflichtet gewesen, sie an sich spitalsmäßig testen zu lassen und sich der Einschulung in ihre Handhabung zu unterwerfen. Wenn in einem solchen Fall die Therapie wahrscheinlich Erfolg gehabt hätte, wie sich unter Spitalsbedingungen schon gezeigt habe, müsse für die Durchführung der Behandlungsmaßnahme keine gesicherte Erfolgsprognose bestehen. In Abwägung der Interessen des versicherten Klägers und der Versichertengemeinschaft genüge schon die Wahrscheinlichkeit des Erfolges. Daher hätte der Kläger behaupten und beweisen müssen, daß der Erfolg der Therapie trotz Einschulung und Anwendung unwahrscheinlich oder nicht eingetreten wäre. Eine Feststellung, daß der Kläger die Therapie nicht verweigert habe, sondern die Einschulung wegen beruflicher Inanspruchnahme habe abbrechen müssen, sei entbehrlich. Der Kläger könne sich seiner Pflicht, als nach dem ASVG versicherter unselbständig Erwerbstätiger medizinisch erfolgversprechende Behandlungen zu dulden und an ihnen mitzuwirken, nicht sanktionslos mit der Begründung entziehen, dafür wegen einer selbständigen Erwerbstätigkeit keine Zeit zu haben. Daß er die Einschulung im Jänner 1991 für die Dauer von sieben bis zehn Tagen nicht angetreten habe, weil er eine Einweisung benötigt hätte, um nicht selbst für die Anstaltskosten aufkommen zu müssen, sei eine unbeachtliche Neuerung, weil der Kläger sein Fernbleiben von dieser angebotenen Einschulung in erster Instanz nicht gerechtfertigt habe. Die Durchführung eines Therapieversuches und die gleichzeitige Einschulung des Patienten in der Handhabung der Therapie anläßlich des Aufenthaltes in einer allgemeinen Krankenanstalt sei eine Krankenbehandlung in Anstaltspflege und keine Rehabilitationsmaßnahme, die nur in Sonderkrankenanstalten oder Sonderabteilungen einer allgemeinen Krankenanstalt durchzuführen gewesen wäre. Eine notwendige, ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung sei aber eine gesetzliche Pflichtleistung des Krankenversicherungsträgers, falls sie der Versicherte beanspruche. Das habe der Kläger offensichtlich nicht getan. Im übrigen sei es gleichgültig, ob es sich um Krankenbehandlung oder medizinische Rehabilitation handle, weil der Versicherte beide Maßnahmen ablehnen könne. Daß Rehabilitation nur bei Zustimmung des Versicherten vorzunehmen sei, bedeute nicht, daß sich die Ablehnung von Rehablitationsmaßnahmen nicht auf den Pensionsanspruch auswirke.
§ 307 b ASVG zeige vielmehr, daß gerade dann der Verlust des Anspruchs folgen könne. Feststellungen über einen Arbeitsmarkt für Disponenten im Speditionsgewerbe und über die Unsicherheit der Einräumung der für die Blutzuckerbestimmung und die anschließende Nahrungsaufnahme erforderlichen Freizeit in einem Kundenverkehrseinsatz seien - abgesehen von den beim Berufungsgericht notorischen
Arbeitsmarktverhältnissen - entbehrlich, weil der Kläger als gelernter und zuletzt als einfacher Handelsvertreter in Strumpfwaren beschäftigter Einzelkaufmann auf einfache Bürotätigkeiten in Buchhaltung, Registratur, Materialverwaltung und dgl verweisbar sei, bei denen kein Kundenverkehr bestehe. Blutzuckermessungen und Insulininjektionen durch den Versicherten selbst beanspruchten nur wenige Minuten und seien in Sanitärräumen jedes Unternehmens einfach und ohne Störung des Geschäftsbetriebes durchführbar. Deshalb sei der Kläger seit 1.11.1990, ab welchem Zeitpunkt die Ablehnung der Krankenbehandlung wirksam geworden sei, jedenfalls nicht berufsunfähig. Daß auch das Sozialgericht in sukzessiver Kompetenz das dem Versicherungsträger eingeräumte Ermessen ausüben und befristete Pensionen wegen geminderter Erwerbsfähigkeit zusprechen könne, könne die Berufung für die Zeit bis 31.10.1990 im Ergebnis nicht erfolgreich machen. Die für eine Verweisung auf die genannten Bürotätigkeiten einzige relevante Leistungseinschränkung bestünde in der Notwendigkeit der Einnahme eines diätetisch zubereiteten warmen Mittagessens, wozu der Kläger Zeit und Möglichkeit haben müßte. Das Erstgericht habe dazu festgestellt, daß derzeit in Österreich nur wenige Lokale vorhanden sind, die Vollwertkost anbieten. Schon wenn es auf diese Betriebe ankäme, könnte diese Möglichkeit nicht verneint und Berufsunfähigkeit nicht angenommen werden. Nach den Ausführungen der Sachverständigen für Ernährungswissenschaft seien allein im Stadtgebiet von Graz vier solche Lokale vorhanden. Nach einer Hochrechnung müßte es in den Landeshaupstädten mehr als 50, im ganzen Bundesgebiet eine entsprechende Vielzahl solcher Lokale geben. Berücksichtige man die in wirtschaftlichen Ballungsräumen, wie etwa in größeren Städten, vorhandenen Büroarbeitsplätze für Einzelhandelskaufleute, so ergebe sich für den Kläger sicher ein mehr als 100 Arbeitsplätze umfassender Arbeitsmarkt. Darüberhinaus halte es das Berufungsgericht aber - in Übereinstimmung mit der Sachverständigen für Ernährungswissenschaft - für notorisch, daß vielfach die Möglichkeit der Diätabsprache mit ansonsten nicht gerade nur Vollwertkost verabreichenden speziellen Speiselokalen besteht. Berücksichtige man auch diese Gaststätten, so könne nicht gesagt werden, der Kläger könne deshalb, weil er auf ein warmes Mittagessen mit bestimmter Kohlehydrat(Broteinheiten)- und Fettabstimmung angewiesen sei, auf dem österreichischen Arbeitsmarkt nicht einmal mehr die erwähnten Bürotätigkeiten verrichten. Deshalb sei er auch im Zeitraum vom 1.4.1987 bis 31.10.1990 nicht berufsunfähig gewesen.
Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist nicht berechtigt.
Weil § 271 Abs 1 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 nach dessen Art V Abs 3 nur auf Versicherungsfälle anzuwenden ist, in denen der Stichtag nach dem 31.3.1991 liegt, gilt § 271 Abs 1 ASVG im vorliegenden Fall (Stichtag 1.4.1987) noch idF der 40. ASVGNov BGBl 1984/484. Danach hat der Versicherte Anspruch auf Berufungsunfähigkeitspension, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 236), 1. bei dauernder Berufsunfähigkeit, 2. bei vorübergehender Berufsunfähigkeit ab der 27. Woche ihres Bestandes ...
Nach § 273 Abs 1 ASVG gilt der Versicherte als berufsunfähig, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.
Diese besondere Anspruchsvoraussetzung ist seit dem Stichtag schon aus folgenden Gründen nicht erfüllt:
Dem Berufungsgericht ist zuzustimmen, daß die Arbeitsfähigkeit des Klägers (ua) für einfache Bürotätigkeiten in Buchhaltung, Registratur und Materialverwaltung ausreicht, die dem Kläger unter Bedachtnahme auf seinen erlernten Beruf als Einzelhandelskaufmann und seine während der Pflichtversicherung nach dem ASVG ausgeübte Tätigkeit als Vertreter zumutbar sind.
Von den oben angeführten sechs täglichen Mahlzeiten fallen nur die beiden Zwischenmahlzeiten und das Mittagessen in die übliche Arbeitszeit. Bei Büroarbeiten muß die Arbeitszeit für die Einnahme der beiden Zwischenmahlzeiten mit je einer Broteinheit nicht unterbrochen werden, weil solche kleine Imbisse (Brot, Obst, Milch udgl) auch neben der Arbeitstätigkeit eingenommen werden können. Wenn die Gesamtdauer der Tagesarbeitszeit mehr als sechs Stunden beträgt, ist die Arbeitszeit nach § 11 Abs 1 Satz 1 AZG durch eine Ruhepause von mindestens einer halben Stunde zu unterbrechen. Daß es viele Betriebe gibt, in denen Büroangestellten eine Mittagspause etwa von einer Stunde eingeräumt wird, ist allgemein bekannt und wurde auch vom berufskundlichen Sachverständigen bestätigt (ON 30, AS 148). Auch ohne Einrechnung einer längeren Mittagspause in die Arbeitszeit iS des AZG würde diese nicht verlängert, weil sie nach § 2 Abs 1 Z 1 leg cit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen ist. Während einer einstündigen Mittagspause ist es aber dem Kläger bei entsprechender Wahl seines Arbeitsplatzes durchaus möglich, in einer in dessen Nähe gelegenen Gaststätte nach vorheriger Absprache ein der vorgeschriebenen Diät entsprechendes warmes Mittagessen einzunehmen.
Sollte der Kläger während der Arbeitszeit für die Blutzuckerkontrolle einschließlich allfälliger Insulinzuführung zusätzliche Kurzpausen benötigen, dann ist auf die aus der Einordnung vieler insulinpflichtiger Diabetiker in das Arbeitsleben allgemein bekannte Tatsache zu verweisen, daß solche behinderungsbedingte zusätzliche Kurzpausen in einer täglichen Gesamtdauer bis zu etwa 20 Minuten im allgemeinen in der Wirtschaft toleriert werden, so daß diese Gruppe von Arbeitnehmern nicht auf ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers angewiesen und deshalb nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist (ähnlich SSV-NF 2/145, 3/107, 4/10 und 15).
In diesem Revisionsverfahren ist nur zu prüfen, ob das angefochtene Urteil des Berufungsgerichtes auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache beruht, wobei neue tatsächliche Behauptungen nicht vorgebracht werden durften (§ 504 Abs 2 ZPO). Die Revisionsbehauptungen, daß sich der Gesundheitszustand des Klägers vom - bereits im ersten Rechtsgang
aufgehobenen - erstgerichtlichen Urteil vom 24.11.1989 bis zur nunmehr angefochtenen Berufungsentscheidung verschlechtert hätte und daß der Kläger mangels anderweitiger sozialrechtlicher Absicherung genötigt wäre, weiterhin als Transportunternehmer erwerbstätig zu sein, verstoßen daher gegen das Neuerungsverbot.
Soweit sich die Rechtsrüge auf die NIS-Therapie und die Verweisungstätigkeit eines Disponenten im Speditionsgewerbe bezieht, erübrigen sich weitere Ausführungen, weil der Kläger, wie oben dargelegt, auch ohne Umstellung auf diese Therapie als einfacher Büroangestellter arbeitsfähig und wegen dieser zumutbaren Verweisung nicht berufsunfähig ist.
Selbst wenn in Gaststätten für Diabetiker geeignete warme Speisen teurer wären als andere gesunde Kost, was entgegen der Revisionsbehauptung nicht (allgemein) bekannt ist, könnte eine solche mögliche Mehrbelastung bei der Festsetzung der Lohn- bzw Einkommensteuer berücksichtigt und zumindest teilweise ausgeglichen werden.
Der Revision war daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
Anmerkung
E28915European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00039.92.0616.000Dokumentnummer
JJT_19920616_OGH0002_010OBS00039_9200000_000