Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christian Kleemann und Robert Letz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. R*****, vertreten durch Dr. Hans Pritz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84-86, 1051 Wien, vertreten durch Dr. Karl Leitner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Alterspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24.Jänner 1992, GZ 33 Rs 3/92-9, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 14.Oktober 1991, GZ 17 Cgs 533/91-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Oberste Gerichtshof stellt beim Verfassungsgerichtshof den
A n t r a g
1. im § 130 Abs 1 GSVG BGBl 1978/560 idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 die Wortfolge "nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufzuheben oder
2. auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1.4. bis 30.11.1991 verfassungswidrig war.
Text
Begründung:
Der am 30.4.1929 geborene Kläger ist bei der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft pensionsversichert. Er stellte am 28.3.1991 den Antrag auf Gewährung der Alterspension gemäß § 130 GSVG, den die beklagte Partei mit der Begründung ablehnte, daß der Kläger das 65.Lebensjahr noch nicht vollendet habe.
Der Kläger begehrt in seiner fristgerecht eingebrachten Klage, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm ab dem Stichtag 1.4.1991 die Alterspension im gesetzlichen Ausmaß zuzuerkennen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Den verfassungsrechtlichen Bedenken hielt es entgegen, der Kläger übersehe das inzwischen erlassene Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl.1991/627, dessen Art.I Verfassungsrang habe; demnach seien gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Damit sei rückwirkend eine Sanierung auch des § 130 GSVG eingetreten, der vom Verfassungsgerichtshof nicht aufgehoben wurde. Die Regelung des § 130 GSVG sei damit (zumindest derzeit) verfassungskonform.
Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Revision, mit der er im wesentlichen verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 130 GSVG aber auch gegen die Verfassungsbestimmung des Art.I des Gesetzes BGBl.1991/627 geltend machte. Er beantragt, nach Aufhebung der verfassungswidrigen Gesetzesstellen, das Urteil der Vorinstanzen im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern.
Rechtliche Beurteilung
Die beklagte Partei beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Der gemäß § 113 Abs 2 GSVG für den Anspruch des Klägers maßgebende Stichtag liegt nach dem 31.3.1991. Es ist daher § 130 idF des am 1.4.1991 in Kraft getretenen Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 anzuwenden (Art V Abs 6 dieses Gesetzes). Nach der angeführten Bestimmung hat "der Versicherte nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 60.Lebensjahres" Anspruch auf Alterspension, wenn die im Anschluß daran festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.
Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 6.12.1991, G 223/88 (= JBl 1991, 372 = RdA 1991, 380 = ÖJZ 1991, 358 = ZAS 1992,
61) im § 236 Abs 1 Z 1 lit a ASVG die Wortfolge "bei männlichen, vor Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten", im § 236 Abs 1 Z 1 lit b ASVG die Wortfolge "bei männlichen, nach Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten", im § 236 Abs 2 Z 1 ASVG die Wortfolge "bei männlichen Versicherten bzw nach Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" und schließlich im § 253 b Abs 1 ASVG die Wortfolge "nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte" aufgehoben und ausgesprochen, daß die Aufhebung mit Ablauf des 30.11.1991 in Kraft tritt. Er war der Ansicht, daß diesen - bloß nach dem Geschlecht differenzierenden - Regelungen die sachliche Rechtfertigung fehle und sie daher den Gleichheitsgrundsatz verletzten. Die Verfassungsmäßigkeit des § 130 GSVG wurde dagegen vom Verfassungsgerichtshof bisher noch nicht geprüft.
Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs bestehen gegen § 130 Abs 1 GSVG dieselben Bedenken, die zur teilweisen Aufhebung der angeführten Bestimmungen geführt haben. Es verstößt auch die hiedurch getroffene Regelung gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie bloß nach dem Geschlecht unterscheidet und Frauen als einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellt und damit in Wahrheit nicht jene Besonderheiten berücksichtigt, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Die Regelung kommt vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsführung und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von ihr in wesentlich geringerem Maß Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung findet darin keinen Niederschlag. Bei weiblichen selbständig Erwerbstätigen, die kleinere Unternehmen führen, wird die Doppelbelastung besonders ausgeprägt sein, während bei größeren Unternehmen Frauen Beruf, Haushalt und Kindererziehung leichter koordinieren können und damit auch keine Versicherungszeiten verlieren. Überdies ist an die Fälle der Wanderversicherung (§ 129 GSVG) zu denken, in denen ein Versicherter auch Versicherungsmonate nach dem ASVG erworben hat. In diesen Fällen kommen die für die Aufhebung einzelner Bestimmungen des ASVG maßgebenden Gründe unmittelbar zum Tragen. Wie der Verfassungsgerichtshof in dem angeführten Erkenntnis vom 6.12.1990 schon andeutete, ist die unterschiedliche Regelung des Pensionsalters für Männer und Frauen schließlich auch deshalb bedenklich, weil sie mit Regelungen betreffend Pensionssysteme, welche die gesetzliche Pensionsversicherung ergänzen (wie etwa das BPG), nicht im Einklang stehen.
Von der von der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof betroffenen Bestimmung ist vor allem § 253b ASVG mit dem hier anzuwendenden § 130 GSVG vergleichbar, weil er die Voraussetzungen für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer regelt. Der Unterschied, der zwischen der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer (die im Bereich des GSVG im § 131 geregelt ist) und der Alterspension nach § 130 GSVG und zwischen einer Pension nach dem ASVG und einer solchen nach dem GSVG besteht, vermag die bloß nach dem Geschlecht differenzierende Regelung im § 130 Abs 1 GSVG nicht zu rechtfertigen. Daß für selbständig und unselbständig Erwerbstätige in dem hier erörterten Zusammenhang der gleiche Maßtstab anzulegen ist, geht auch aus dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 4.3.1991, G 22/90, hervor, mit dem vergleichbare Bestimmungen des BSVG teilweise als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Es ist daher die im § 130 Abs 1 GSVG enthaltene Wortfolge "nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte" verfassungsrechtlich bedenklich.
Ohne Einfluß auf die Verfassungsmäßigkeit der angeführten Bestimmung ist für die Zeit des hier als Stichtag in Betracht kommenden 1.6.1991 das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1991/627. Nach dessen im Rang einer Verfassungsbestimmung stehenden Art I sind zwar gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Diese Bestimmung trat aber gemäß dem Art IV des Gesetzes erst mit 1.12.1991 in Kraft. Da die Rückwirkung nicht angeordnet ist und nach der Begründung des dem Gesetz zugrundeliegenden Initiativantrags im übrigen auch nicht beabsichtigt war (vgl die Worte "für den erwähnten Zeitraum" in 251 BlgNR 18.GP 2), kann das Gesetz die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung für einen vor seinem Inkrafttreten liegenden Zeitraum nicht bewirken. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, hätte er ausdrücklich die Rückwirkung anordnen müssen.
Der Oberste Gerichtshof ist schließlich der Meinung, daß die Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs 1 GSVG durch die in der Revisionsbeantwortung ins Treffen geführten Argumente nicht hinreichend beseitigt werden können. Es ist ohne Bedeutung, daß diese Bestimmung in einer Fassung anzuwenden ist, die vom Gesetzgeber erst nach dem schon wiederholt angeführten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6.12.1990 beschlossen wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis schon darauf hingewiesen, daß die verfassungswidrige Regelung nicht deshalb beibehalten werden darf, weil erworbene Anwartschaften unberührt bleiben müssen. Es trifft zwar zu, daß es dem Gesetzgeber wegen des Schutzes des Vertrauens verwehrt war, das Pensionsalter für Männer und Frauen sofort schematisch gleichzusetzen. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis aber noch ausgeführt, daß auch für jene Personen, die dem Pensionsalter nahe sind, im Sinne des Vertrauensschutzes auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechtes die bisherigen Unterschiede im Pensionsalter nur dann aufrecht erhalten dürfen, "wenn - und nur - wenn" glechzeitig Regelungen geschaffen werden, die einen allmählichen Abbau der bloß geschlechtsspezifischen Unterscheidungen bewirken. Dies ist hier jedoch nicht geschehen.
Daß der Gesetzgeber im Hinblick auf die Schwierigkeiten der zu regelnden Materie nicht in der Lage war, schon früher eine verfassungskonforme Lösung herbeizuführen, kann die Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung nicht beseitigen. Es wäre ihm im übrigen freigestanden, die Rückwirkung des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten anzuordnen. Der Umstand, daß der Verfassungsgerichtshof für das Inkrafttreten der Aufhebung der im ASVG enthaltenen Bestimmungen eine Frist setzte, kann im Bereich anderer Gesetze, also auch im Bereich des GSVG, keine Bedeutung haben. Das Argument, daß ein Pensionswerber, dessen Anspruch sich nach einem vor dem 1.12.1991 liegenden Stichtag richtet, besser gestellt wäre als ein Pensionswerber mit einem späteren Stichtag, geht schon deshalb fehl, weil dies nur auf Pensionswerber zutrifft, denen die Begünstigung der Regelung über den Anlaßfall im Art 140 Abs 7 B-VG zugutekommt.
Zusammenfassend ist der Oberste Gerichtshof der Meinung, daß gegen den von ihm anzuwendenden § 130 Abs 1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 dieselben Bedenken bestehen, die dazu geführt haben, daß der Verfassungsgerichtshof mit dem Erkenntnis vom 6.12.1990, G 223/88 ua, verschiedene Betstimmungen des ASVG teilweise aufgehoben hat, oder die er in diesem Erkenntnis andeutete. Dies verpflichtet ihn gemäß Art 89 Abs 2 B-VG, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Aufhebung der verfassungsrechtlich bedenklichen Wortfolge zu stellen. Ginge man davon aus, daß die Verfassungswidrigkeit durch das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten ab 1.12.1991 beseitigt wurde, so käme in Betracht, daß die bezogene Wortfolge nicht mehr aufgehoben werde, sondern daß gemäß dem sinngemäß anzuwendenden Art 140 Abs 4 B-VG nur mehr ausgesprochen werden könnte, daß die Wortfolge in der Zeit vom 1.4. bis 30.11.1991 verfassungswidrig war. Der Oberste Gerichtshof hat daher auch in diesem Sinne einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof gestellt (vgl Art 89 Abs 3 B-VG).
Anmerkung
E30289European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00096.92.0616.000Dokumentnummer
JJT_19920616_OGH0002_010OBS00096_9200000_000