TE OGH 1992/9/15 10ObS225/92

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Veröffentlicht am 15.09.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Oskar Harter und Dr.Othmar Roniger aus dem Kreis der Arbeitgeber in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopold G*****, vertreten durch Dr.Hans Pritz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft (Landesstelle Niederösterreich), 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Alterspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.Juni 1992, GZ 31 Rs 89/92-8, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St.Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10. März 1992, GZ 5 Cgs 281/91-4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Oberste Gerichtshof stellt beim Verfassungsgerichthof den

A n t r a g ,

1. im § 130 Abs 1 GSVG BGBl 1978/560 idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 die Wortfolge "nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufzuheben oder

2. auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1.April bis 30.November 1991 verfassungswidrig war.

Text

Begründung:

1. Sachverhalt:

Mit Bescheid vom 25.10.1991 lehnte die beklagte Partei den am 18.9.1991 gestellten Antrag des am 4.5.1931 geborenen Klägers auf Alterspension zum Stichtag 1.10.1991 mit der Begründung ab, daß er das 65.Lebensjahr noch nicht vollendet habe.

Die dagegen fristgerecht erhobene Klage richtet sich auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.10.1991 und stützt sich auf die Verfassungswidrigkeit des ungleichen Pensionsalters für Frauen und Männer.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der nach der geltenden Gesetzeslage unbegründeten Klage.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, weil der eingeklagte Anspruch nach der geltenden Gesetzeslage nicht begründet sei.

Das Berufungsgericht gab der nur wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Berufung des Klägers nicht Folge.

Durch die Verfassungsbestimmung des Art I des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1991/627 sei bis 31.12.1992 eine allfällige Verfassungswidrigkeit dieser unterschiedlichen Altersgrenzen saniert, weshalb § 130 Abs 1 GSVG derzeit als verfassungsgemäß zu gelten habe.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die nicht beantwortete Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, beim Verfassungsgerichtshof die Überprüfung der Verfassungsgemäßheit des § 130 Abs 1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 zu beantragen und das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

2. Präjudizialität:

Die Revision ist nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig.

Einer sachlichen Erledigung dieses Rechtsmittels steht jedoch vorerst entgegen, daß der Oberste Gerichtshof gegen Teile der von ihm anzuwendenden Bestimmung des § 130 Abs 1 GSVG folgende

3. verfassungsrechtlichen Bedenken

hat:

Der gemäß § 113 Abs 2 GSVG für den Anspruch des Klägers maßgebende Stichtag liegt jedenfalls nach dem 31.3.1991. Es ist daher § 130 GSVG idF des am 1.4.1991 in Kraft getretenen Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 BGBl 157 anzuwenden (Art V Abs 6 leg cit). Nach der angeführten Bestimmung hat "der Versicherte nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres" Anspruch auf Alterspension, wenn die im Anschluß daran festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind.

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 6.12.1991 G 223/88 (= JBl 1991, 372 = RdA 1991, 380 = ÖJZ 1991, 358 = ZAS 1992,

61) im § 236 Abs 1 Z 1 lit a ASVG die Wortfolge "bei männlichen, vor Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten", im § 236 Abs 1 Z 1 lit b ASVG die Wortfolge "bei männlichen, nach Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten", im § 236 Abs 2 Z 1 ASVG die Wortfolge "bei männlichen Versicherten bzw nach Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" und schließlich im § 253b Abs 1 ASVG die Wortfolge "nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte" aufgehoben und ausgesprochen, daß die Aufhebung mit Ablauf des 30.11.1991 in Kraft tritt. Er war der Ansicht, daß diesen - bloß nach dem Geschlecht differenzierenden - Regelungen die sachliche Rechtfertigung fehle und sie daher den Gleichheitsgrundsatz verletzten. Die Verfassungsgemäßheit des § 130 GSVG wurde dagegen vom Verfassungsgerichtshof bisher noch nicht geprüft.

Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs bestehen gegen § 130 Abs 1 GSVG dieselben Bedenken, die zur teilweisen Aufhebung der angeführten Bestimmungen des ASVG geführt haben. Es verstößt auch die hiedurch getroffene Regelung gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie bloß nach dem Geschlecht unterscheidet und Frauen als einheitliche Gruppe Männern gegenüberstellt und damit in Wahrheit nicht jene Besonderheiten berücksichtigt, die zu ihrer Rechtfertigung dienen sollen. Die Regelung kommt vorwiegend jenen Frauen zugute, deren Rollenbild sich von jenem der Männer nicht unterscheidet, während jene Frauen, die durch Haushaltsführung und Obsorge für Angehörige besonders belastet sind, von ihr in wesentlich geringerem Maß Gebrauch machen können. Das unterschiedliche Maß der Belastung von Frauen und die tatsächliche körperliche Beanspruchung finden darin keinen Niederschlag. Bei selbständig erwerbstätigen Frauen, die kleinere Unternehmen führen, wird die Doppelbelastung besonders ausgeprägt sein, während bei größeren Unternehmen Frauen, Beruf, Haushalt und Kindererziehung leichter koordinieren können und damit auch keine Versicherungszeiten verlieren. Überdies ist an die Fälle der Wanderversicherung (§ 129 GSVG) zu denken, in denen ein Versicherter auch Versicherungsmonate nach dem ASVG erworben hat. In diesen Fällen kommen die für die Aufhebung einzelner Bestimmungen des ASVG maßgebenden Gründe unmittelbar zum Tragen. Wie der Verfassungsgerichtshof in dem angeführten Erkenntnis vom 6.12.1990 schon andeutete, ist die unterschiedliche Regelung des Pensionsalters für Männer und Frauen schließlich auch deshalb bedenklich, weil sie mit Regelungen betreffend Pensionssysteme, welche die gesetzliche Pensionsversicherung ergänzen (wie etwa das BPG), nicht im Einklang stehen.

Von den von der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof betroffenen Bestimmung ist vor allem § 253b ASVG mit dem hier anzuwendenden § 130 GSVG vergleichbar, weil er die Voraussetzungen für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer regelt. Der Unterschied, der zwischen der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer (die im Bereich des GSVG im § 131 geregelt ist) und der Alterspension nach § 130 GSVG und zwischen einer Pension nach dem ASVG und einer solchen nach dem GSVG besteht, vermag die bloß nach dem Geschlecht differenzierende Regelung im § 130 Abs 1 GSVG nicht zu rechtfertigen. Daß für selbständig und unselbständig Erwerbstätige in dem hier erörterten Zusammenhang der gleiche Maßstab anzulegen ist, geht auch aus dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 4.3.1991 G 22/90 hervor, mit dem vergleichbare Bestimmungen des BSVG teilweise als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Es ist daher die im § 130 Abs 1 GSVG enthaltene Wortfolge "nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte" verfassungsrechtlich bedenklich.

Ohne Einfluß auf die Verfassungsgemäßheit der angeführten Bestimmung ist für die Zeit des hier als Stichtag in Betracht kommenden 1.10.1991 das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1991/627. Nach dessen im Rang einer Verfassungsbestimmung stehenden Art I sind zwar gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. Diese Bestimmung trat aber gemäß dem Art IV des Gesetzes erst mit 1.12.1991 in Kraft. Da die Rückwirkung nicht angeordnet ist und nach der Begründung des dem Gesetz zugrundeliegenden Initiativantrags im übrigen auch nicht beabsichtigt war (vgl die Worte "für den erwähnten Zeitraum" in 251 BlgNR 18.GP 2), kann das Gesetz die Verfassungsgemäßheit einer Bestimmung für einen vor seinem Inkrafttreten liegenden Zeitraum nicht bewirken. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, hätte er ausdrücklich die Rückwirkung anordnen müssen.

Der Oberste Gerichtshof ist schließlich der Meinung, daß die Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit des § 130 Abs 1 GSVG durch die in der Berufungsbeantwortung ins Treffen geführten Argumente nicht hinreichend beseitigt werden können. Es ist ohne Bedeutung, daß diese Bestimmung in einer Fassung anzuwenden ist, die vom Gesetzgeber erst nach dem schon wiederholt angeführten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6.12.1990 beschlossen wurde. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Erkenntnis schon darauf hingewiesen, daß die verfassungswidrige Regelung nicht deshalb beibehalten werden darf, weil erworbene Anwartschaften unberührt bleiben müssen. Es trifft zwar zu, daß es dem Gesetzgeber wegen des Schutzes des Vertrauens verwehrt war, das Pensionsalter für Männer und Frauen sofort schematisch gleichzusetzen. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis aber noch ausgeführt, daß auch für jene Personen, die dem Pensionsalter nahe sind, im Sinne des Vertrauensschutzes auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechtes die bisherigen Unterschiede im Pensionsalter nur dann aufrecht erhalten werden dürfen, "wenn - und nur wenn - " gleichzeitig Regelungen geschaffen werden, die einen allmählichen Abbau der bloß geschlechtsspezifischen Unterscheidungen bewirken. Dies ist hier jedoch nicht geschehen.

Daß der Gesetzgeber im Hinblick auf die Schwierigkeiten der zu regelnden Materie nicht in der Lage war, schon früher eine verfassungskonforme Lösung herbeizuführen, kann die Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung nicht beseitigen. Es wäre ihm im übrigen freigestanden, die Rückwirkung des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten anzuordnen. Der Umstand, daß der Verfassungsgerichtshof für das Inkrafttreten der Aufhebung der im ASVG enthaltenen Bestimmungen eine Frist setzte, kann im Bereich anderer Gesetze, also auch im Bereich des GSVG, keine Bedeutung haben. Das Argument, daß ein Pensionswerber, dessen Anspruch sich nach einem vor dem 1.12.1991 liegenden Stichtag richtet, besser gestellt wäre als ein Pensionswerber mit einem späteren Stichtag, geht schon deshalb fehl, weil dies nur auf Pensionswerber zutrifft, denen die Begünstigung der Regelung über den Anlaßfall im Art 140 Abs 7 B-VG zugutekommt.

Zusammenfassend ist der Oberste Gerichtshof der Meinung, daß gegen den von ihm anzuwendenden § 130 Abs 1 GSVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 diesselben Bedenken bestehen, die dazu geführt haben, daß der Verfassungsgerichtshof mit dem Erkenntnis vom 6.12.1990 G 223/88 ua, verschiedene Bestimmungen des ASVG teilweise aufgehoben hat, oder die er in diesem Erkenntnis andeutete. Dies verpflichtet ihn gemäß Art 89 Abs 2 B-VG, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag auf Aufhebung der verfassungsrechtlich bedenklichen Wortfolge zu stellen. Ginge man davon aus, daß die Verfassungswidrigkeit durch das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten ab 1.12.1991 beseitigt wurde, so käme in Betracht, daß die bezogene Wortfolge nicht mehr aufgehoben werden, sondern daß gemäß dem sinngemäß anzuwendenden Art 140 Abs 4 B-VG nur mehr ausgesprochen werden könnte, daß die Wortfolge in der Zeit vom 1.4. bis 30.11.1991 verfassungswidrig war. Der Oberste Gerichtshof hat daher auch in diesem Sinne einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof gestellt (vgl Art 89 Abs 3 B-VG). Entsprechende Anträge wurden bereits am 16.Juni 1992 zu 10 Ob S 95, 127 und 128/92 und am 7.Juli 1992 zu 10 Ob S 179/92 gestellt.

Anmerkung

E30336

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00225.92.0915.000

Dokumentnummer

JJT_19920915_OGH0002_010OBS00225_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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