Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Griehsler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Huber, Dr.Graf, Dr.Jelinek und Dr.Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K*****sparkasse,*****, vertreten durch Schuppich, Sporn & Winischhofer, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1011 Wien, Singerstraße 17-19, wegen S 238.883,56 s. A. infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 25.Mai 1992, GZ 14 R 59/92-27, womit das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 7.Jänner 1992, GZ 32 Cg 182/89-23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben.
Dem Berufungsgericht wird eine neue Entscheidung aufgetragen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Am 6./13.3.1987 wurde Peter S***** vom klagenden Kreditverein ein Kredit von 850.000,-- S eingeräumt; zu dessen Sicherstellung wurde ein Rahmenzessionsvertrag auch für zukünftige Forderungen des Kreditnehmers gegen die Burghauptmannschaft abgeschlossen. Die Klägerin informierte die Burghauptmannschaft von diesem Vertrag, ohne aber den Zessionsvertrag in Abschrift oder Original anzuschließen. Aufgrund zweier Aufträge vom 1.10. und 13.10.1987 erbrachte Peter S***** Installationsarbeiten in der Hofburg. Am 10.11.1987 legte er eine Rechnung über S 100.883,56, am 17.11.1987 eine solche über S 138.000,--. Diese Rechnungen enthielten einen Zessionsvermerk.
Gestützt auf den Generalzessionsvertrag vom 6./13.3.1987 begehrte der klagende Kreditverein von der beklagten Republik Österreich die Zahlung der Rechnungen vom 10.11.1987 und 30.12.1987.
Die Beklagte bestritt und wendete ein, der Verständigung über die Zession sei kein urkundlicher Nachweis im Sinne der Verordnung RGBl. 251/1897 beigelegen. Der urkundliche Nachweis sei frühestens erst mit Rechnungslegung erfolgt, weil sich auf den Rechnungen ein entsprechender Zessionsvermerk befunden habe. Peter S***** habe dem Finanzamt für den ***** Bezirk spätestens Ende September 1987 an vollstreckbaren Abgabenforderungen (Umsatzsteuer für die Monate Mai bis September 1987 in der Höhe von je S 72.000,--) insgesamt S 360.000,-- geschuldet. Da die Werklohnforderungen des Peter S***** frühestens mit Abschluß der jeweiligen Verträge im Oktober 1987 entstanden seien, handle es sich bei den Abgabenforderungen für Umsatzsteuer um vorher entstandene Forderungen, die trotz der (später erfolgten) Zession kompensierbar gewesen seien. Weiters sei mit Rückstandsausweis vom 5.2.1991 eine weitere Abgabenschuld des Peter S***** an Umsatzsteuer für 1986 in der Höhe von S 190.319,08 festgestellt worden. Mit Schreiben vom 8.3.1991 sei auch diese Forderung mit den klagsgegenständlichen Rechnungsbeträgen kompensiert worden. Auch diese Forderung werde nun kompensationsweise als Gegenforderung eingewendet.
Die klagende Partei bestritt die von der beklagten Partei geltend gemachten Gegenforderungen dem Grunde und der Höhe nach und erhob hinsichtlich des Umsatzsteuerrückstandes für 1986 in der Höhe von S 190.319,08 die Einrede der Verjährung. Peter S***** habe gegenüber dem Finanzamt aus dem Titel Umsatzsteuer ein Guthaben in der Höhe von S 241.081,-- gehabt, dieser Betrag sei gemäß § 215 BAO zur Tilgung fälliger Abgabenschulden zu verwenden gewesen; daraus folge, daß diese Forderung mit der ältesten Abgabenschuld aufzurechnen sei (AS 89).
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch folgende wesentliche Feststellungen:
Peter S***** hat von Mai bis Dezember 1987 keine Umsatzsteuervoranmeldungen vorgenommen. Das Finanzamt schätzte daher die für diese Monate fällige Umsatzsteuer mit je S 72.000,--, insgesamt sohin mit S 360.000,--, später für den Zeitraum Oktober bis Dezember 1987 mit S 300.000,--. Für das Jahr 1986 bestand eine Umsatzsteuerschuld von S 207.415,-- samt Säumniszuschlag von S 11.348,--, zusammen sohin von S 578.763,--. In der Folge verfaßte Peter S***** eine Umsatzsteuererklärung für das Gesamtjahr 1987. Die Umsatzsteuer wurde neu geprüft und für 1987 ein Betrag von S 241.081,-- gutgeschrieben. Die Gutschrift erfolgte für den Zeitraum Mai bis Dezember 1987, sie wurde mit den (in diesem Zeitpunkt bestehenden) Verbindlichkeiten von S 578.763,-- verrechnet. Die Teilbeträge von S 360.000,--, S 207.415,-- und S 11.348,-- wurden mit Bescheiden festgesetzt, Rechtsmittel wurden dagegen nicht erhoben. Mit Rückstandsausweis vom 5.3.1991 wurde ein weiterer Umsatzsteuerrückstand für 1986 in der Höhe von S 190.319,08 festgestellt. Auch dagegen wurde kein Rechtsmittel ergriffen. Das Finanzamt teilte der Burghauptmannschaft mit, daß wegen der bestehenden Umsatzsteuerschulden auf eine Aufrechnung mit den Rechnungen über S 100.883,56 und S 138.000,-- nicht verzichtet werde. Diese Beträge wurden sodann von der Burghauptmannschaft dem Finanzamt überwiesen.
Das Erstgericht kam zu dem Schluß, daß die Unterlassung des Anschlusses einer Zessionsurkunde bei der Verständigung über die Abtretung nicht schade, weil die Tatsache der Zession für die Burghauptmannschaft nie in Frage gestanden sei. Bei der Zession künftig entstehender Forderungen könne der debitor cessus mit all seinen Forderungen gegen den Zedenten, die bis zum Zeitpunkt des Entstehens der abgetretenen Forderung begründet wurden, aufrechnen. Die Umsatzsteuerschuld entstehe gemäß § 19 Abs.2 Z 1 lit.a UStG 1972 für Lieferungen und Leistungen mit Ablauf des Kalendermonats, in dem diese erbracht wurden. Dieser Zeitpunkt verschiebe sich um ein Kalendermonat, wenn die Rechnungsausstellung erst nach Ablauf des Kalendermonats erfolge, in dem die Lieferung oder Leistung erbracht wurde. Gemäß § 19 Abs.2 Z 1 lit.b UStG entstehe die Steuerschuld in den Fällen der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten mit Ablauf des Kalendermonats, in dem die Entgelte vereinnahmt wurden. Gemäß § 21 Abs.1 UStG 1972 habe der Unternehmer am 10.Tag des auf einen Kalendermonat zweitfolgenden Kalendermonats seine Voranmeldung beim zuständigen Finanzamt einzureichen. Diese Voranmeldung gelte als Steuererklärung. Wenn der Unternehmer die Einreichung der Voranmeldung unterlasse, so habe das Finanzamt die Steuer festzusetzen (§ 21 Abs 3 UStG 1972). Es könne zwar nicht festgestellt werden, wann Peter S***** die umsatzsteuerpflichtigen Leistungen erbrachte oder ob er eine Istbesteuerung durchgeführt habe, doch sei seine Abgabenschuld mit Erbringung der Leistung oder der Einnahme der Entgelte, die jeweils in den Monaten Mai bis September 1987 gelegen seien, gegeben. Zu diesem Zeitpunkt sei die Forderung des Finanzamtes für die Monate Mai bis September 1987 entstanden. Davor habe noch eine weitere Forderung des Finanzamtes in der Höhe von S 207.415,-- und S 11.348,-- an Umsatzsteuernachzahlungen für 1986 bestanden. Auch diese Forderungen gingen den hier abgetretenen Forderungen voran, doch habe "die beklagte Partei dieses Vorbringen nicht erstattet". Diese Tatsache werde auch nicht dadurch geändert, daß der Entwurf für die Festsetzung der Umsatzsteuervorauszahlungen vom 20.11.1987 stamme. Da somit die Forderungen des Finanzamtes vor den Forderungen des Peter S***** aus den gegenständlichen Werkverträgen entstanden seien, die Höhe der Abgabenschuld sich aus der Festsetzung der Umsatzsteuervorauszahlungen ergebe und das Guthaben des Peter S***** daraus erst später entstanden sei, sei die Höhe der Abgabenschuld für die Monate Mai bis September 1987 davon nicht berührt. Dies umso weniger, als das Guthaben bereits mit Rückständen aus dem Jahr 1986 nahezu zur Gänze verrechnet wurde und sich das Guthaben nicht auf den Zeitraum Mai bis September, sondern auf jenen Mai bis Dezember 1987 beziehe.
Das von der klagenden Partei angerufene Berufungsgericht hat diese Entscheidung bestätigt und in rechtlicher Hinsicht ausgeführt:
Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes seien die Gerichte an rechtskräftige Bescheide - um solche handle es sich bei den diesem Verfahren zugrundeliegenden Feststellungsbescheiden und Rückstandsausweisen - der Verwaltungsbehörden gebunden, sofern es sich nicht um absolut nichtige Verwaltungsakte handle. Im vorliegenden Fall sei zwar nicht von der Richtigkeit des Bescheides vom 20.11.1987 über die Umsatzsteuerrückstände für den Zeitraum Mai bis September 1987 in der Höhe von S 360.000,-- und für den nachfolgenden Zeitraum Oktober bis Dezember 1987 in der Höhe von S 300.000,-- auszugehen, weil das Finanzamt selbst nach Abgabe der Umsatzsteuererklärung für 1987 diese Bescheide richtiggestellt habe. Durch die Ausstellung einer Gutschrift über S 241.081,-- für diesen Zeitraum sei ausgesprochen worden, daß die Umsatzsteuerschuld nur S 418.919,-- ausmache. Selbst wenn man die Gutschrift von S 241.081,-- lediglich dem Zeitraum Mai bis September 1987 zuordne, bleibe für diesen Zeitraum noch immer eine Abgabenschuld von S 118.919,--. Da überdies laut rechtskräftigem Bescheid vom 5.3.1991 eine weitere Abgabenschuld für Umsatzsteuer für 1986 in der Höhe von S 190.319,08 bestanden habe, sei der beklagten Partei zum Zeitpunkte der Entstehung der zedierten Forderungen jedenfalls eine Gegenforderung von S 309.238,08 zugestanden. Mit dieser Forderung habe sie die hier geltend gemachte Forderung von S 238.883,56 kompensieren können, weil die Gegenforderungen vor Entstehung der zedierten Forderung entstanden seien. Es brauche daher nicht darauf eingegangen zu werden, ob zum Zeitpunkt des Entstehens der eingeklagten Forderungen tatsächlich eine weitere Umsatzsteuerschuld für 1986 in der Höhe von S 207.415,-- plus S 11.348,-- an Säumniszuschlägen bestand (aus dem Kontoauszug ergebe sich lediglich ein Rückstand von S 14.535,--). Die Umsatzsteuerschulden seien im Jahre 1986 und im Zeitraum Mai bis September 1987 entstanden, die zedierten Forderungen nach dem 1. und 13.10.1987 (Tage der Auftragserteilung) bzw. 10.11. und 17.11.1987 (Tage der Rechnungslegung). Die am 3.3.1991 und 3.5.1991 abgegebenen Aufrechnungserklärungen der Beklagten seien zu Recht erfolgt.
Die ordentliche Revision wurde nicht für zulässig erklärt, weil die Rechtsfragen im Sinne der einheitlichen Judikatur gelöst wurden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der klagenden Partei mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt, die außerordentliche Revision der klagenden Partei nicht zuzulassen, in eventu, ihr nicht Folge zu geben und das angefochtene Urteil zu bestätigen.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht entgegen herrschender Lehre (Walter-Mayer, Grundriß des österr. Verwaltungsverfahrensrechts5, Rz 1008; Antoniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht2, 483) und Rechtsprechung (3 Ob 91/90) davon ausgegangen ist, dem Rückstandsausweis vom 5.3.1991 komme Bescheidcharakter zu. Das Rechtsmittel der klagenden Partei ist im Sinne des Eventualantrages auf Aufhebung auch berechtigt.
Die klagende Partei vertritt unter Berufung auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 21.11.1991, 14 Os 127/90, die Ansicht, Gerichte seien an Abgabenbescheide weder dem Grunde noch der Höhe nach gebunden. Diese in einem Finanzstrafverfahren ergangene Entscheidung müsse im Sinne des Gebotes der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auch für Zivilverfahren maßgeblich sein. Die Problematik sei durchaus vergleichbar, dem Zivilrichter müsse ein eigenständiger, durch die Verpflichtung zur unmittelbaren Erforschung sämtlicher Entscheidungsgrundlagen geprägter, Urteilsspielraum garantiert werden. Die Stellung des Abgabenpflichtigen sei im Abgabenverfahren eine gänzlich andere als in einem Gerichtsverfahren, der "Zweifelsgrundsatz" bei einer Sachverhaltserhebung sei der Bestimmung des § 184 BAO gänzlich fremd. Schließlich erfolge im Abgabenverfahren die Entscheidung durch weisungsgebundene Organe. Im übrigen sei im Hinblick auf die Ausführungen von Fasching, LB2, Rz 96, eine Bindung der Gerichte an verwaltungsbehördliche Entscheidungen grundsätzlich abzulehnen. Diesen Ausführungen komme vor dem Hintergrund des Art.6 MRK zusätzliches Gewicht bei. Würde man als Grundlage der Gegenforderungen der beklagten Partei einen rechtskräftigen abgabenbehördlichen Bescheid anerkennen, so käme diesen Gegenforderungen der Charakter zivilrechtlicher Ansprüche im typischen Sinne des Art.6 MRK zu. Die von den Vorinstanzen als bindend erachteten verwaltungsbehördlichen Entscheidungen regelten praktisch nur privatrechtliche Beziehungen zwischen den Streitteilen und seien nur solche Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites. Der Umstand, daß diese Forderungen in einem öffentlich-rechtlichen Abgabenverfahren "festgesetzt" wurden, ändere nichts daran, daß die Bewertung der Frage, ob ein Recht ein Zivilrecht im Sinne des Art.6 Abs.1 MRK sei, nicht davon abhänge, in welchem Verfahren darüber entschieden wurde. Eine reformatorische Gerichtskontrolle von Bescheiden, welche gleichzeitig als Beweismittel zur Untermauerung einer Gegenforderung in einem zivilgerichtlichen Verfahren herangezogen und sohin als zivilrechtliche Ansprüche verwertet wurden, sei gemäß Art.6 MRK verfassungsrechtlich geboten. Andernfalls stünde es einer Prozeßpartei im Zivilverfahren nahezu frei, mit den Mitteln des Abgabeverfahrens weitere Gegenforderungen "nachzuschießen".
Alle diese Ausführungen müßten umso mehr für bloße Schätzungen gelten, denen ohnehin nur die Funktion eines Beweismittels zukomme. Weder Schätzungen noch Rückstandsausweise seien abgabenbehördliche Bescheide; ein Rückstandsausweis sei gemäß § 229 BAO lediglich eine öffentliche Urkunde und diene als Grundlage für die Ausfertigung des Vollstreckungsauftrages. An ihn könne keinesfalls eine Bindung bestehen. Die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen führe dazu, daß es letztlich ausschließlich in der Hand des Finanzamtes läge, zum Schaden eines Dritten, nämlich des durch die Forderungsabtretung gesicherten Gläubigers, einseitig aufrechenbare Gegenforderungen - und dies auch noch nachträglich - zu schaffen.
Diese Ausführungen sind lediglich zum Teil zutreffend.
Der Oberste Gerichtshof bejaht in ständiger Rechtsprechung (zB SZ 13/81, JBl. 1980, 320; RZ 1986/1 ua) die Bindung der Gerichte an rechtskräftige Bescheide der Verwaltungsbehörden, und zwar auch an unvollständige, mangelhafte oder fehlerhafte (SZ 23/176; SZ 45/17; EvBl. 1976/197), nicht aber an "absolut nichtige" Verwaltungsakte (JBl. 1951, 462; EvBl. 1964/185; SZ 45/17; SZ 57/23). Es besteht kein Anlaß, von dieser Ansicht abzugehen. Wie Morscher (Bindung und Bundesverfassung, JBl. 1991, 86) zutreffend ausgeführt hat, zählt es zum Kernbereich des rechtsstaatlichen Prinzips, daß in der Regel alle staatlichen Organe an individuelle Rechtsakte, stammen sie von diesem selbst oder aber von anderen Staatsorganen, gebunden sind. Eine andere Auffassung würde dazu führen, daß der Rechtssicherheit als einem dem Rechtsstaatsprinzip innewohnenden Element praktisch keine Bedeutung zukäme, weil jedes Organ bei jeder sich bietenden Gelegenheit eigenständig und unabhängig von den im Rechtsweg erstrittenen Rechtspositionen der Rechtsunterworfenen neu entscheiden könnte. Ohne die Annahme einer Bindung könnten Gerichte und Verwaltungsbehörden auch von Bescheiden abweichen, die vom VwGH als gesetzmäßig bzw. vom VfGH als verfassungskonform beurteilt wurden. Gleicherweise könnte faktisch beliebig von Urteilen und Beschlüssen des Obersten Gerichtshofes abgewichen werden. Der Bundesverfassung könne aber nicht der Sinn unterstellt werden, sie führe zwar einerseits das Rechtsstaatsprinzip, ein ausgefeiltes Rechtsschutzsystem und als Kontrollorgane hiefür Höchstgerichte ein, lasse aber andererseits zu, daß all diese Einrichtungen schließlich doch ohne Wirkung sein sollten. Auch die Organisationsstruktur der Bundesverfassung geht von der Vorstellung aus, daß die einzelne Rechtssache in der Regel jeweils nur von einem Organ zu entscheiden ist. Dem Trennungsgrundsatz des Art.94 B-VG ist im Verhältnis von Justiz und Verwaltung implizit zu entnehmen, daß mit ihm eine Mißachtung der individuellen Rechtsakte der jeweils anderen Gewalt und damit eine Anmaßung von anderen Organen übertragenen Entscheidungsbefugnissen unvereinbar ist. Schließlich gebietet auch der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung die Bindung der Gerichte und Verwaltungsbehörden an individuelle Rechtsakte anderer Staatsorgane. Auch die überwiegende Lehre (W.Kralik, JBl. 1975, 309; Loebenstein, JBl. 1978, 225, 290; Pichler, JBl. 1965, 494; derselbe, JBl. 1966, 553; derselbe, ÖJZ 1978, 267; gegenteilig Fasching, LB2,
96) bejaht grundsätzlich die Bindung, wenngleich eine wesentliche Einschränkung des Wirkungsbereiches gefordert wird. Eine derartige Bindungswirkung wurde zuletzt auch in der Entscheidung vom 10.7.1991, 9 Ob A 117/91 (= WBl. 1991, 362 = ecolex 1991, 799) bejaht. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 190 ZPO wurde in dieser Entscheidung ausgeführt, daß dieser Bestimmung eine - in ihrem Umfang allerdings nicht festgelegte - Bindung an individuelle Rechtsakte der anderen vollziehenden Gewalt zugrundeliege, weil ohne eine solche Bindung keine Veranlassung zu einer Unterbrechung des Verfahrens bestünde. Allerdings sei die Bindungswirkung auf Bescheide zu beschränken, deren Aussprüche der Entscheidung ohne Verstoß gegen Art.6 Abs.1 MRK zugrundegelegt werden könnten. Der erkennende Senat vertritt daher die Ansicht, daß Zivilrichter an rechtskräftige Bescheide einer Verwaltungsbehörde grundsätzlich gebunden sind, es sei denn, es handelt sich um absolut nichtige Verwaltungsakte oder die Partei war am vorausgegangenen Verwaltungsverfahren nicht beteiligt.
Aus der Entscheidung des verstärkten Senats des Obersten Gerichtshofes vom 21.11.1991, 14 Os 127/90 (= EvBl. 1992, 26) kann für den eine Bindungswirkung verneinenden Standpunkt der beklagten Partei nichts gewonnen werden. In dieser Entscheidung wurde die Präjudizialität von Abgabenbescheiden im gerichtlichen Finanzstrafverfahren mit der Begründung abgelehnt, daß sie mit der gemäß Art.6 Abs.2 MRK verfassungsgesetzlich verankerten Vermutung, daß der Angeklagte bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten habe, nicht in Einklang gebracht werden könne. Weiters wurde ausgeführt, die ungeprüfte Übernahme von Feststellungen eines weisungsgebundenen Organs über Grund und Höhe einer Abgabenschuld durch ein Gericht auch dem in Art.6 Abs.1 MRK normierten Gebot, daß nur ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht ("Tribunal") über die Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen zu entscheiden habe. Im hier zu beurteilenden Fall geht es aber nicht darum, über die Stichhaltigkeit strafrechtlicher Anklagen zu entscheiden; im übrigen ist Art.6 MRK auf Steuerstreitigkeiten nicht anzuwenden (Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 126).
Zutreffend wird in der Revision allerdings geltend gemacht, daß Rückstandsausweise nach herrschender Lehre (Walter-Mayer, Grundriß des österr. Verwaltungsverfahrensrechts5, Rz 1008; Antoniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht2, 483) und Rechtsprechung (3 Ob 91/90) keine Bescheide sind. Vielmehr handelt es sich dabei um "Auszüge aus den Rechnungsbehelfen", mit denen die Behörde "Zahlungsverbindlichkeiten" bekanntgibt, die sich bereits aus dem Gesetz oder aus früher erlassenen Bescheiden ergeben. Rückstandsausweise sind zwar in den gesetzlich vorgesehenen Fällen Exekutionstitel, sie sind aber nicht der Rechtskraft fähig und können jederzeit zurückgenommen werden (Antoniolli-Koja, aaO). Wegen fehlenden Bescheidcharakters kommt auch eine Bindung der Gerichte in dem Sinn, daß endgültig und bindend über eine Vorfrage abgesprochen wird, nicht in Frage. Lediglich bei der Bewilligung der Exekution aufgrund eines Rückstandsausweises ist dessen Gesetzmäßigkeit und Richtigkeit vom Exekutionsgericht nicht zu prüfen (Heller-Berger-Stix, 91; EvBl. 1977/30; 3 Ob 7/88 ua).
Zutreffend haben die Vorinstanzen auch ausgeführt, daß die beklagte Republik mit den ihr zustehenden Gegenforderungen aufrechnen kann; dabei ist es gleichgültig, ob die Forderungen privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Art sind, wenn nur die sonstigen Aufrechnungsvoraussetzungen vorliegen (WBl. 1987, 254; Rummel in Rummel2, ABGB, Rz 21 zu § 1441). Es ist auch richtig, daß abgetretenen künftigen Forderungen gegenüber mit allen Gegenforderungen des Schuldners gegen den Zedenten aufgerechnet werden kann, die bis zur Entstehung der abgetretenen Forderung begründet worden sind, selbst wenn die Verständigung von der Abtretung vorher erfolgte (RdW 1987, 288 = ÖBA 1988, 172).
Dies bedeutet im vorliegenden Fall, daß von einer Gegenforderung der beklagten Partei für eine Umsatzsteuerschuld aus dem Jahre 1986 in der Höhe von S 190.319,08 laut Rückstandsausweis vom 5.3.1991 nicht ungeprüft ausgegangen werden kann. Auch die vom Erstgericht festgestellte Forderung der beklagten Partei an Umsatzsteuer für 1986 in der Höhe von S 207.415,-- samt Säumniszuschlag von S 11.348,-- kann der Entscheidung nicht zugrundegelegt werden, weil das Berufungsgericht die diesbezügliche Feststellung nicht übernommen und überdies die beklagte Partei für 1986 nur die Forderung aus dem Rückstandsausweis vom 5.3.1991 über S 190.319,08 geltend gemacht hat.
Wohl aber besteht im Sinne der obigen Ausführungen eine Bindung der Gerichte an den Bescheid vom 20.11.1987 über die Umsatzsteuerrückstände für den Zeitraum Mai bis September 1987 in der Höhe von 360.000,-- S. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wurde aber in der Folge durch das zuständige Finanzamt ein Guthaben von 241.081,-- S festgestellt, sodaß für den maßgeblichen Zeitraum eine Abgabenschuld für Umsatzsteuer von S 118.919,-- verbleibt. Im Verfahren, das zur Erlassung des Bescheides vom 20.11.1987 führte, hatte Peter S***** Parteistellung (§ 78 Abs.1 BAO), die klagende Partei als Einzelrechtsnachfolger in die Rechtsstellung des Peter S***** ist ebenfalls an die festgestellten Abgabenforderungen gebunden (Walter-Mayer aaO, Rz 488). Die beklagte Partei konnte daher mit der Forderung von S 118.919,-- rechtswirksam aufrechnen.
Die Rechtssache ist aber noch nicht spruchreif, weil auch noch eine weitere Gegenforderung für Umsatzsteuer aus 1986 in der Höhe von S 190.319,08 geltend gemacht wurde. Die diese Gegenforderung betreffende Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, es bestehe eine Bindung an den darüber ausgestellten Rückstandsausweis, ist, wie schon oben ausgeführt, unzutreffend. Das Berufungsgericht hat, ausgehend von seiner unrichtigen Rechtsansicht, sich nicht weiter mit dieser Gegenforderung auseinandergesetzt, weshalb das Berufungsverfahren an einem Mangel leidet, der eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern geeignet war. Gemäß § 510 Abs.1 ZPO war deshalb die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (siehe Fasching, LB2, Rz 1956). Im fortgesetzten Verfahren wird das Berufungsgericht mit der beklagten Partei zu erörtern haben, welche Abgabenschuld dem Rückstandsausweis vom 5.3.1991 über S 190.319,08 zugrundeliegt und ob und in welcher Höhe diese zum Zeitpunkte des Entstehens der Werklohnforderungen des Peter S***** noch offen war. Im Bestreitungsfalle werden darüber Beweise aufzunehmen sein.
Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf § 52 Abs.1 ZPO.
Anmerkung
E30186European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1992:0080OB00632.92.1022.000Dokumentnummer
JJT_19921022_OGH0002_0080OB00632_9200000_000