TE OGH 1992/11/11 2Ob49/92

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Veröffentlicht am 11.11.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber, Dr.Kropfitsch, Dr.Zehetner und Dr.Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Rosa F*****, vertreten durch Dr.Michael Goller, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei I***** Aktiengesellschaft, *****, vertreten durch Dr.Heinz Bauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen S 220.900,-- s.A. und Feststellung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 15.Juli 1992, GZ 3 R 182/92-21, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 16.April 1992, GZ 40 Cg 301/91-15, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind gleich weiteren Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung:

Die Klägerin brachte vor, sie habe dadurch schwere Verletzungen erlitten, daß sie beim Einsteigen in eine Straßenbahn von der sich automatisch schließenden Tür überrascht und nach rückwärts auf die Haltestelleninsel geworfen worden sei. Die Beklagte hafte nach den Bestimmungen des EKHG für den Schaden. Die Klägerin begehrt Schadenersatz in der Höhe von S 220.900,-- samt Zinsen sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden, die sie als Folge des Unfalles erleidet.

Die Beklagte wendete ein, die Klägerin sei unabhängig von einem versuchten Einsteigen auf der Verkehrsinsel zu Sturz gekommen. Ihre Ansprüche seien auch überhöht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß die Klägerin auf dem Kopfsteinpflaster der Haltestelleninsel stolperte und zu Sturz kam. Daraus folgerte es in rechtlicher Hinsicht, daß sich der Unfall nicht beim Betrieb der Straßenbahn ereignet habe und die Beklagte weder nach dem EKHG noch nach den §§ 1295 ff ABGB hafte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das Ersturteil auf, verwies die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück und erklärte den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig. Es traf nach Beweiswiederholung folgende wesentlichen Feststellungen:

Die Klägerin wollte in die Straßenbahn einsteigen. Nachdem sie mit dem Einsteigen begonnen hatte und zumindest einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt hatte, ging die vor ihr befindliche Tür zu. Da die Klägerin wußte, daß die Straßenbahn nach dem Schließen der Tür sofort abfährt und nach einer kurzen Distanz eine scharfe Kurve zu durchfahren hat, fürchtete sie sich und wollte wieder absteigen. Bei diesem Absteigen - für die 75jährige Klägerin war es ein Abspringen - stürzte sie nach rückwärts auf die Haltestelleninsel, wo sie verletzt liegenblieb. Die Türen der Straßenbahn waren mit je drei voneinander getrennten Lichtschrankeneinheiten gesichert, die beim Einsteigen ein Schließen der Türen verhindern bzw. einen eingeleiteten Schließvorgang unterbrechen. Beim Zusammentreffen ungünstiger Umstände kann es bei einem gerade begonnenen Einsteigevorgang aber dazu kommen, daß ein Fahrgast mit dem in Gang gesetzten Schließmechanismus konfrontiert wird. Hiebei ist es erforderlich, daß der Fahrgast kurz vor dem beginnenden automatischen Schließvorgang mit dem Einsteigen beginnt und erst einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt hat, aber nicht so weit in die Stufe hinein, daß ein waagrechter Lichtschranken anspricht. Außerdem darf sich der Fahrgast nicht beim Haltegriff in der Türmitte festhalten, sondern höchstens an einem der Griffe, die sich an den Türflügeln befinden. Bei dieser Konstellation ist es möglich, daß keiner der Lichtschranken aktiviert und deshalb der automatische Schließmechanismus in Gang gesetzt wird. Allerdings befindet sich der einsteigende Fahrgast dabei in einer derart instabilen Lage, daß er sich schleunigst irgendwo anhalten muß, um nicht abzustürzen. Ein Signalton wird von der automatischen Türschließanlage vor Beginn des Schließvorganges nicht gegeben. Bei U-Bahnen und neueren Straßenbahngarnituren gibt es dieses Signal.

Rechtlich beurteilte das Berufungsgericht diesen Sachverhalt dahin, der Unfall habe sich beim Betrieb der Straßenbahn ereignet, in die die Klägerin einzusteigen versucht habe. Die Beklagte als Betriebsunternehmer sei daher verpflichtet, für den entstandenen Schaden gemäß den Bestimmungen des EKHG einzustehen, sofern sie nicht das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses beweise. Dabei gingen unaufklärbare Ungewißheiten zu ihren Lasten. Die mögliche Konfrontation eines Fahrgastes mit dem automatisch in Gang gesetzten Schließmechanismus der Straßenbahntür stelle eine typische Betriebsgefahr dar, weil sie in einem inneren Zusammenhang mit einer dem Straßenbahnbetrieb eigentümlichen Gefahr stehe. Die Beklagte habe den Entlastungsbeweis nach § 9 Abs.2 EKHG nicht zu erbringen vermocht. Da es bei U-Bahnen und neueren Straßenbahngarnituren vor Beginn des automatischen Schließvorganges der Türen bereits eine akustische Warnung gebe, sei davon auszugehen, daß die Straßenbahn nicht nach dem letzten Stand technischer Entwicklung ausgestattet gewesen sei. Es sei nicht auszuschließen, daß mit einer optischen oder akustischen Warnung des Fahrgastes vor dem Schließvorgang eine Konfrontation mit der sich unerwartet schließenden Türe vermieden oder zumindest wesentlich entschärft werden könnte. Dies umso mehr, als der einsteigende Fahrgast vom einsetzenden automatischen Schließvorgang in einer instabilen Lage überrascht werden könne. Unabwendbar im Sinne des § 9 Abs.2 EKHG sei ein Ereignis für den Betriebsunternehmer nur dann, wenn es trotz aller erdenklichen Sachkunde und Vorsicht nicht abgewendet werden könne, bzw. wenn in der dem Unternehmer zurechenbaren Sphäre keinerlei Mangel vorliege. Allerdings werde auch der Standpunkt vertreten, daß der Haftungsausschluß gemäß § 9 Abs.2 EKHG nicht auf in jeder Beziehung ideale Fahrzeuge beschränkt werden könne und es genügen müsse, wenn die technische Leistungsfähigkeit des Fahrzeuges den gesetzlichen Vorschriften entspräche. Ein Fahrzeug sei nicht fehlerhaft, wenn es so beschaffen sei und arbeite, wie dies bei derartigen Fahrzeugen normaler Beschaffenheit der Fall sei. Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeuges schlössen die Haftung des Betriebsunternehmers selbst dann nicht aus, wenn der Unternehmer und die beim Betrieb tätigen Personen die äußerste nach den Umständen gebotene Sorgfalt beobachtet hätten. Auch wenn man in der festgestellten Funktion der automatischen Türschließanlage keinen Fehler in der Beschaffenheit des Straßenbahnwagens erblicke, sei eine Entlastung der Beklagten nicht zu gewinnen, weil der dem Betriebsunternehmer nach § 9 Abs.2 EKHG obliegende Entlastungsbeweis jedenfalls nur dann als erbracht gelten könne, wenn der Betriebsunternehmer und die mit seinem Willen beim Betrieb tätigen Personen nach der vor dem Unfall bestehenden Sachlage die äußerste nach den Umständen zumutbare Verkehrssorgfalt beobachtet haben, wobei alle Zweifel zu Lasten des in Anspruch genommenen Betriebsunternehmers gehen. Bei Beachtung der äußersten nach den Umständen zumutbaren Verkehrssorgfalt wäre für die beklagte Partei bzw. die mit ihrem Willen beim Betrieb tätigen Personen aber bereits vor dem Unfall der Klägerin zu erkennen gewesen, daß ein einsteigender Fahrgast unter gewissen Umständen in einer unstabilen Lage vom automatisch einsetzenden Schließmechanismus der Straßenbahntüren überrascht werden könne. Die im Rahmen des Verfahrens vom Sachverständigen durchgeführten Versuche wären für das Personal der Beklagten möglich und unter dem Gesichtspunkt der äußersten Verkehrssorgfalt auch bereits vor dem Unfall der Klägerin zumutbar gewesen. Ob der auf diese Weise feststellbaren Gefahrenträchtigkeit durch Anbringung optischer oder akustischer Warneinrichtungen oder andere technische Maßnahmen - etwa einer Verlangsamung des Schließvorganges bei den Türen - zu begegnen gewesen wäre, brauche in diesem Zusammenhang nicht weiter untersucht zu werden. Ein gemäß § 7 Abs.1 EKHG zu berücksichtigendes Verschulden der Klägerin, das zu einer Schadensteilung im Sinne des § 1304 ABGB führen würde, habe die Beklagte im Verfahren erster Instanz nicht behauptet, weshalb auf die Frage eines relevanten Eigenverschuldens der Klägerin nicht einzugehen sei. Somit habe die Beklagte für den Unfall der Klägerin als Betriebsunternehmer nach den Bestimmungen des EKHG einzustehen. Es seien daher Feststellungen zur Schadenshöhe und zum Feststellungsinteresse erforderlich.

Die Beklagte bekämpft den Beschluß des Berufungsgerichtes mit Rekurs und beantragt die Wiederherstellung des Ersturteils.

Rechtliche Beurteilung

Die Klägerin beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Der Rekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Rekurswerberin führt im wesentlichen aus, bei Richtigkeit der Ansicht des Berufungsgerichtes könnte nie ein Entlastungsbeweis erbracht werden, weil immer behauptet werden könne, eine technische Änderung hätte einen positiven Einfluß auf den Geschehensablauf gehabt. Es könne nicht verlangt werden, daß die Beklagte jeden Monat technische Erneuerungen, die allenfalls eine Verbesserung der Sicherheit bedeuten, ins Auge fasse. Optische und akustische Warnanlagen seien zur Verhinderung eines Unfalles ungeeignet, sie könnten durch eine Schreckwirkung sogar das Gegenteil bewirken. Die Beklagte habe den Entlastungsbeweis daher erbracht. Es könne ihr auch nicht vorgeworfen werden, einen Mitschuldeinwand unterlassen zu haben, da ein solcher nur relevant gewesen wäre, wenn der Unfall von vornherein als dem Betrieb des Unternehmens zugehörig angesehen worden wäre. Der Beklagten sei erst dadurch der Entlastungsbeweis auferlegt worden, daß ein Zeuge in der Berufungsverhandlung seine Aussage abgeschwächt habe. Überdies hätte die Klägerin ohnedies kein Mitverschulden zu verantworten, wenn es richtig sei, daß sie wegen des Fehlens einer akustischen oder optischen Warnanlage nicht rechtzeitig gewarnt worden sei.

Hiezu ist folgendes zu erwägen:

Nach ständiger Rechtsprechung ist das Einsteigen in ein Fahrzeug ein mit dem Betrieb zusammenhängender Vorgang (8 Ob 167/81; 2 Ob 64/91; vgl. auch ZVR 1973/41), der Unfall der Klägerin ereignete sich somit im Sinne des § 1 EKHG beim Betrieb der Straßenbahn, weshalb die Beklagte als Betriebsunternehmerin der Straßenbahn gemäß § 5 EKHG haftet, sofern sie nicht nach § 9 EKHG von der Haftung befreit ist. Nach § 9 Abs.1 EKHG ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Verrichtungen der Eisenbahn oder des Kraftfahrzeuges beruhte. Die Frage, ob ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 Abs.2 EKHG vorliegt, ist daher nur von Bedeutung, wenn das den Unfall verursachende Ereignis weder auf einen Fehler in der Beschaffenheit noch auf ein Versagen der Verrichtungen der Straßenbahn zurückzuführen war. Um ein Versagen der Verrichtungen handelte es sich nach den Feststellungen nicht, es ist daher zu prüfen, ob ein Fehler in der Beschaffenheit vorlag. Die Tür des von der Klägerin benützten Einstieges hatte eine automatische Schließvorrichtung, es war also nicht Sache des Straßenbahnfahrers, den Schließmechanismus zu betätigen, wenn keine Fahrgäste mehr aus- oder einsteigen. Schließt sich eine Tür während des Aus- oder Einsteigens, kann dies insbesondere ältere oder gebrechliche Personen gefährden. Daher sind automatisch schließende Türen öffentlicher Verkehrsmittel mit entsprechenden Vorrichtungen ausgestattet, die verhindern sollen, daß sich die Tür schließt, wenn ein Einstieg benützt wird. Auch im vorliegenden Fall war eine derartige Einrichtung vorhanden, sie war jedoch so beschaffen, daß beim Zusammentreffen ungünstiger Umstände der automatische Schließmechanismus in Gang gesetzt wurde, auch wenn ein Fahrgast bereits mit dem Einsteigen dadurch begonnen hat, daß er einen Fuß auf die unterste Stufe setzte und sich an einem Haltegriff an einem Türflügel anhielt. Eine Tür, die sich - wenn auch nur beim Zusammentreffen ungünstiger Umstände - während des Einsteigens eines Fahrgastes schließt, weist aber einen Fehler in der Beschaffenheit auf, der eine Haftungsbefreiung nach § 9 EKHG ausschließt. Die Beklagte haftet daher, auch wenn man ihr nicht zum Vorwurf macht, daß vor Beginn des Schließvorganges keine akustische oder optische Warnung erfolgt.

Ein Mitverschulden der Klägerin hat das Berufungsgericht schon deshalb mit Recht nicht berücksichtigt, weil die Beklagte keinen Mitverschuldenseinwand erhob. Nicht richtig ist, daß die Beklagte zu einem derartigen Einwand keine Gelegenheit hatte. Nach den Tatsachenbehauptungen der Beklagten ereignete sich der Unfall zwar nicht beim Betrieb der Straßenbahn, im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin, nach welchem ein Betriebsunfall vorlag, wäre es der Beklagten aber freigestanden, ein Mitverschulden einzuwenden. Da sie dies nicht getan hat, ist nicht zu erörtern, ob der Klägerin ein Mitverschulden anzulasten ist. Überdies behauptet die Beklagte auch im Rekurs kein Mitverschulden der Klägerin, sie rügt nur, daß ihr die Unterlassung eines Mitverschuldenseinwandes zum Vorwurf gemacht wurde.

Aus diesen Gründen war dem Rekurs ein Erfolg zu versagen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E30648

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:0020OB00049.92.1111.000

Dokumentnummer

JJT_19921111_OGH0002_0020OB00049_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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