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41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Trefil, über die Beschwerde des F, vertreten durch Mag. Martin Karbiener, Rechtsanwalt in 4650 Lambach, Marktplatz 7, gegen Spruchpunkt 1. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom 13. August 2002, Zl. 222.017/6-I/03/02, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Spruchpunkt wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Tadschike und Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte im Juli 2000 zusammen mit seiner Ehefrau und mehreren Kindern in das Bundesgebiet und beantragte Asyl.
Bei Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 24. August 2000 und offenbar am 26. Februar 2001 (im angefochtenen Bescheid wörtlich wiedergegeben, aber mit 26. Februar 2002 datiert; in den vorgelegten erstinstanzlichen Akten fehlen diese Aktenteile) gab er an, er sei schon nach der Einnahme von Mazar-i-Sharif im August 1998 im Zusammenhang mit der Beschlagnahme seines Autos von den Taliban so heftig geschlagen worden, dass er seither auf dem linken Ohr nichts mehr höre. Sein Onkel, dessen Familie ein benachbartes Haus bewohnt habe, sei damals von den Taliban ermordet und einer der beiden Söhne dieses Onkels verhaftet worden. Der andere Sohn des Onkels habe bei der Einnahme Mazar-i-Sharifs als Kommandant gegen die Taliban gekämpft und sei geflohen. Im Frühjahr 2000 habe die restliche Familie des Onkels das Haus aufgegeben und den Beschwerdeführer aufgefordert, es zu beziehen. Wenige Tage später sei der Beschwerdeführer von den Taliban verhaftet worden. Sie hätten vom Beschwerdeführer wissen wollen, wo die verbliebenen Angehörigen seines Onkels und wo die Waffen seien, die sie in deren Haus vermutet hätten, und dem Beschwerdeführer gedroht, ihn nach Kandahar zu bringen. Grund der gegen die Familie des Onkels und zuletzt gegen den Beschwerdeführer gerichteten Maßnahmen sei die Beteiligung seines flüchtigen Cousins am Kampf gegen die Taliban gewesen. Nach achttägiger Haft habe der Beschwerdeführer durch ein kleines hoch gelegenes Fenster fliehen können und in der Folge das Land verlassen. Dem Fluchtentschluss sei - in Verbindung damit, dass schon sein Onkel von den Taliban umgebracht worden war - zugrunde gelegen, dass dem Beschwerdeführer die Verbringung in das Hauptgefängnis der Taliban in Kandahar gedroht habe. Man wisse, dass man von dort meist nicht lebend zurückkomme. Am Tag nach seiner Flucht hätten die Taliban auf der Suche nach dem Beschwerdeführer dessen Vater aufgesucht, diesen geschlagen und ihn schwer am Kopf sowie an der Hand verletzt.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 22. März 2001 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für zulässig. Es schenkte seinem Vorbringen über die fluchtauslösenden Ereignisse vom Frühjahr 2000 keinen Glauben, erklärte die Misshandlung vom August 1998 wegen des zeitlichen Abstands für irrelevant und führte zu den behaupteten Fluchtgründen in eventu aus:
" ... Der von Ihnen als Fluchtgrund vorgebrachte Sachverhalt steht mit keinem dieser Konventionsgründe im Zusammenhang, sondern gründet sich Ihre Furcht lediglich auf den Umstand, dass sich die Taleban durch Ihre Befragung bzw. Inhaftierung die Aufklärung eines allgemein strafbaren Tatbestandes erhoffen, also einer generell abstrakten Norm, deren Übertretung für jedermann strafbar ist, ganz egal von wem begangen."
In Bezug auf die Frage, ob Abschiebungsschutz zu gewähren sei, enthielt der Bescheid u.a. folgende Ausführungen:
"... Die Taleban versuchen weiters, mögliche bei der Rückkehr und der Wiedereingliederung auftauchenden Schwierigkeiten durch eine gewisse Toleranz gegenüber den Rückkehrern zu mildern. So wird Männern, die mit kurzen Bärten nach Afghanistan einreisen, genug Zeit gegeben, diese wachsen zu lassen."
In seiner Berufung gegen diesen Bescheid wandte sich der Beschwerdeführer in sehr detaillierter Weise Punkt für Punkt gegen die Beweiswürdigung des Bundesasylamtes. Er hob hervor, als naher Angehöriger eines im bewaffneten Kampf gegen die Taliban stehenden Oppositionellen, nämlich seines geflohenen Cousins, sowie auf Grund seiner ethnischen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tadschiken von den Taliban verfolgt zu werden.
Zu Beginn der mündlichen Berufungsverhandlung am 30. April 2002 hielt die belangte Behörde dem Beschwerdeführer Folgendes vor:
"Seit der Einbringung Ihres Asylantrages und der Zustellung des bekämpften Bescheides haben sich die Verhältnisse in Ihrem Herkunftsstaat wesentlich geändert. Nach Ihren bisherigen Angaben hat sich ein mögliche - Ihre Person betreffende Verfolgungsgefahr -
auf die Existenz des Taliban-Regimes gegründet. Wie aber allgemein bekannt ist, existiert das Taliban-Regime in Afghanistan nicht mehr. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch derzeit für Sie in Afghanistan eine Verfolgungsgefahr besteht."
Hierauf antwortete der Beschwerdeführer wie folgt:
"Es stimmt, dass unsere Schwierigkeiten in erster Linie von den Taliban herrührten und wir deshalb gezwungen waren, das Land zu verlassen. Im Moment ist mein Cousin, der zur Nordallianz gehört, wieder an der Macht und er beschuldigt mich, dass alles, was die Taliban ihm angetan hätten, ich verschuldet hätte."
Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde zunächst die mögliche Bedrohung des Beschwerdeführers durch seinen Cousin und daran anschließend die vom Beschwerdeführer hinzugefügte Behauptung erörtert, ihm drohe auch Gefahr seitens eines ranghohen Mitarbeiters von General Dostum im Zusammenhang mit der teilweisen Rückforderung des Kaufpreises für eine Apotheke, zu deren Durchsetzung der Beschwerdeführer damit gedroht habe, sich bei den Taliban zu beschweren. Zur Beurteilung dieser behaupteten Sachverhalte sowie abschließend zur aktuellen humanitären Lage in Afghanistan wurde auch der beigezogene Sachverständige Dr. Sarajuddin Rasuly befragt. Darüber hinaus beschrieb der Beschwerdeführer - im Zusammenhang mit der Erörterung der behaupteten Bedrohung durch seinen Cousin - noch einmal die schon vor dem Bundesasylamt dargestellten und in der Berufung thematisierten Ereignisse vom August 1998 und Frühjahr 2000.
Mit Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gegen die erstinstanzliche Abweisung seines Asylantrages ab. Mit den Spruchpunkten 2. und 3. erklärte sie die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan für unzulässig und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
Gegen Spruchpunkt 1. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die fallbezogenen Erwägungen, auf die die belangte Behörde (auf den Seiten 26 und 27 des angefochtenen Bescheides) die Bestätigung der erstinstanzlichen Abweisung des Asylantrages gestützt hat, bewegen sich in folgendem Rahmen:
"Herr (Beschwerdeführer) beruft sich im Lichte der derzeit
gegebenen Verhältnisse in seinem Herkunftsstaat (Afghanistan)
zunächst darauf, dass ihm derzeit zwar nicht (mehr) von Seiten der
Taliban, so doch seitens seines Cousins ... Verfolgung drohen
würde ... Insgesamt ist ... nicht glaubhaft, dass der Cousin des
Asylwerbers tatsächlich zu Verfolgungshandlungen ... greifen
würde. ...
Auf Grund der dargestellten Ereignisse um den Kauf einer Apotheke ist eine Herrn (Beschwerdeführer) drohende Verfolgung nicht zu erwarten. ...
Da vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens eine Herrn (Beschwerdeführer) derzeit drohende Verfolgungsgefahr im Herkunftsland, die zumindest auf einem der in Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK genannten Gründe beruht, nicht glaubhaft ist, war die Berufung im Hinblick auf Spruchpunkt I des bekämpften Bescheides abzuweisen. Endigungs- oder Ausschlussgründe nach Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention sind nicht hervorgekommen."
Dem hält die Beschwerde u.a. entgegen, die belangte Behörde habe das "einzig wirklich relevante Motiv" für die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers durch dessen Cousin, nämlich dass ihn dieser für den Tod seines Vaters und die Verhaftung seines Bruders verantwortlich mache, nicht ausreichend in ihre Betrachtungen einbezogen. Dieser Vorwurf scheint nicht ganz unberechtigt zu sein, bedarf jedoch aus den im Folgenden darzustellenden Gründen keiner näheren Prüfung, sodass auch nicht untersucht werden muss, ob die privaten Motive, aus denen der Beschwerdeführer - seinen Behauptungen zufolge - nach Meinung seines Cousins dessen Familie verraten haben soll, einer Anknüpfung einer daraus nun resultierenden Verfolgungsgefahr an einen Konventionsgrund entgegenstünden.
Im Vordergrund der Beschwerde steht nämlich - in Verbindung mit Hinweisen auf Berichte, bei deren Zugrundelegung eine künftige Verfolgung durch die Taliban selbst noch im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung nicht ausgeschlossen erscheine - das Argument, die belangte Behörde habe sich mit dem ursprünglichen Fluchtgrund des Beschwerdeführers überhaupt nicht mehr auseinander gesetzt. Für die Annahme, der Beschwerdeführer habe auf die Geltendmachung dieses Asylgrundes "verzichtet", biete das Verhandlungsprotokoll keine ausreichende Grundlage.
Dieser Kritik vermag die Begründung des angefochtenen Spruchpunktes nicht standzuhalten, weil die belangte Behörde auf die Fluchtgründe des Beschwerdeführers tatsächlich nicht mehr eingegangen ist. Träfen seine diesbezüglichen Behauptungen zu, so wäre der Beschwerdeführer mit dem Verlassen des Landes zunächst jedenfalls Flüchtling im Sinne der FlKonv geworden. Die gegenteilige Rechtsansicht des Bundesasylamtes, das sich - in einem anderen Teil seiner Entscheidung - sogar in der Lage sah, eine "gewisse Toleranz" der Taliban festzustellen, ist offenkundig verfehlt und liegt dem angefochtenen Bescheid nicht zugrunde. Der angefochtene Bescheid bringt aber auch nicht zum Ausdruck, dass und aus welchen Gründen die in der Berufung ausführlich bekämpfte Beweiswürdigung des Bundesasylamtes in Bezug auf die fluchtauslösenden Erlebnisse des Beschwerdeführers richtig gewesen sein soll. Bei dieser Sachlage ist schwer nachvollziehbar, weshalb sich die belangte Behörde in der Begründung ihrer Entscheidung darauf bezieht, dass u.a. Endigungsgründe nach Art. 1 Abschnitt C FlKonv nicht hervorgekommen seien. Jedenfalls liegt aber in dem Umstand, dass über die stillschweigend zugrunde gelegte Änderung der Verhältnisse und deren Auswirkungen auf die im Einzelfall zu beurteilenden Fluchtgründe keine Feststellungen getroffen wurden, ein Begründungsmangel, der angesichts der zur Darlegung seiner Relevanz in der Beschwerde erhobenen Behauptungen zur Aufhebung des angefochtenen Spruchpunktes führen muss.
Dem ist zur Klarstellung hinzuzufügen, dass sich entsprechende Feststellungen durch die Erwägungen in dem - dem angefochtenen Spruchpunkt auch nicht erkennbar zugrunde gelegten - hg. Erkenntnis vom 3. Mai 2000, Zl. 99/01/0359, schon deshalb nicht erübrigten, weil die dort behandelte, auf einem Abkommen beruhende Einrichtung einer UN-Verwaltung im Kosovo mit den Umständen des Sturzes der Taliban in Afghanistan nicht vergleichbar ist (vgl. in diesem Sinn auch die Erkenntnisse vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0030 und Zl. 2006/19/0032).
Der angefochtene Spruchpunkt war auf Grund des dargestellten Begründungsmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 16. Februar 2006
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2006:2006190045.X00Im RIS seit
22.03.2006