TE OGH 1992/11/12 8Ob647/92

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Veröffentlicht am 12.11.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof.Dr.Griehsler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Huber, Dr.Graf, Dr.Jelinek und Dr.Schinko als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H***** K*****, vertreten durch DDr.Gunter Peyrl, Rechtsanwalt in Freistadt, wider die beklagten Parteien 1. Ing.L***** P***** jun., ***** und 2. Ing.L***** P*****Baugesellschaft mbH, ***** beide vertreten durch Dr.Wilfried Raffaseder, Rechtsanwalt in Freistadt, wegen S 584.961 sA und Feststellung (Gesamtstreitwert S 634.961 sA), infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei (Revisionsstreitwert S 116.666,66) gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes vom 18.September 1991, GZ 2 R 156/91-42, mit dem das Teilurteil des Landesgerichtes Linz vom 29.November 1990, GZ 9 Cg 315/88-28, teilweise abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der a.o. Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben. Die Entscheidung wird dahin abgeändert, daß sie als Teilurteil insgesamt lautet:

"Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei S 350.000 samt 4 % Zinsen seit 31.5.1988 binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen."

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Erstbeklagte ist Geschäftsführer der zweitbeklagten GmbH, die ein Bauunternehmen betreibt. Er war bei Umbauarbeiten an einem Haus als verantwortlicher Bauleiter tätig. Auf dieser Baustelle fiel der Kläger, ein Rauchfangkehrergeselle, der mit der Kehrung in diesem Haus beauftragt war, am 2.4.1987 am Dachboden in den noch nicht fertiggestellten Liftschacht, stürzte ca. 10 m ab und verletzte sich schwer. Aufgrund dieses Vorfalls wurde der Erstbeklagte im Strafverfahren U 22/87 des Bezirksgerichtes Freistadt wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung rechtskräftig verurteilt.

Der Vorarbeiter der zweitbeklagten Partei hatte die noch offene Liftschachtöffnung, die sich zwischen der Kaminmauer und dem Eingang zu dem Dachbodenraum befand, mit einer 40 bis 45 cm breiten Leiter und einem daran befestigten Holzpfosten abgeschrankt. Der Erstbeklagte beanstandete diese Art der Abdeckung nicht. Die Eingangstür zu diesem Dachbodenraum war nicht versperrt und daher für jedermann zugänglich. In diesem Raum waren verschiedene Materialien, wie Tellwolle, Rigips- und Styroporplatten, gelagert. Die Maurer der beklagten Parteien und auch andere Professionisten holten laufend nach Bedarf Materialien aus diesem Raum.

Der Kläger meldete sich am Unfallstag beim Hauseigentümer, der ihn an die auf der Baustelle befindlichen Maurer der beklagten Parteien verwies. Nachdem er einem Maurer mitgeteilt hat, was er vorhabe, äußerte dieser, daß er, der Kläger, hinaufgehen könne. Kontakt mit den Bauaufsichtsorganen der beklagten Parteien nahm der Kläger nicht auf; er wurde auch von niemandem vor dem offenen Aufzugsschacht gewarnt. Die vom Vorarbeiter angebrachte Abschrankung des Liftschachtes war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden; es ist nicht feststellbar, wann und auf welche Art sie weggekommen ist. Der Kläger wollte von der Dachfensterluke aus überprüfen, ob er vom Dach her kehren könne. Er sah zwar Kunststoffisolierplatten herumliegen, beachtete sie aber nicht weiter und trat auf sie, um zur Dachfensterluke zu gelangen. Infolge der Abdeckung mit diesen Platten bemerkte er den darunterbefindlichen offenen Liftschacht nicht, die Platten brachen unter seinem Gewicht durch und er stürzte ab.

Durch den Sturz erlitt der Kläger schwere Verletzungen mit Dauerfolgen. Es wurde ihm eine 30 %ige Versehrtenrente und eine 50 %ige Invalidität zugebilligt. Den erlernten Beruf eines Rauchfangkehrers kann er nicht mehr ausüben; er muß umgeschult werden.

Der Kläger begehrt von den Beklagten ua S 350.000 Schmerzengeld.

Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens und wendeten ein, den Kläger treffe ein zumindest gleichteiliges Mitverschulden. Am Eingang zur Baustelle sei an gut sichtbarer Stelle die Tafel "Betreten der Baustelle verboten" angebracht gewesen; der Kläger habe es aber unterlassen, sich mit dem Vorarbeiter in Verbindung zu setzen, obwohl er erstmals auf diese Baustelle gekommen sei.

Das Erstgericht sprach dem Kläger letztlich mit Teilurteil Schmerzengeld in der Höhe von S 200.000 zu und wies das Schmerzengeldmehrbegehren von S 150.000 ab; es nahm ein Mitverschulden des Klägers von einem Drittel an und sprach ihm ein angemessenes Schmerzengeld von S 300.000 zu.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Parteien nicht, der des Klägers hingegen teilweise Folge und änderte das Teilurteil dahingehend ab, daß es dem Kläger Schmerzengeld in Höhe von S 233.333,33 zusprach. Es hielt zwar wegen der schweren Verletzungen des Klägers mit Dauerfolgen den gesamten begehrten Schmerzengeldbetrag von S 350.000 für angemessen, kürzte diesen jedoch ebenfalls wegen Mitverschuldens des Klägers um ein Drittel.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es dahin abzuändern, daß ihm das Schmerzengeld ungekürzt zugesprochen werde, weil ihn kein zurechenbares Mitverschulden treffe.

Die beklagten Parteien beantragen, die außerordentliche Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und sie ist auch berechtigt.

Strittig ist im Revisionsverfahren nur mehr, ob den Kläger überhaupt ein zurechenbares Mitverschulden trifft. Zwar hat der Oberste Gerichtshof seit der Wertgrenzennovelle 1983 - von grundsätzlichen Fragen abgesehen - über die Art der Verschuldensteilung nicht mehr zu entscheiden (Petrasch, ÖJZ 1983, 177; ZVR 1992/10 uva). Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die von der Rechtsprechung gezogenen Grenzen bei der Beurteilung des Einzelfalles überschritten werden; das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Vorinstanzen von einem erheblichen Mitverschulden ausgingen, der Oberste Gerichtshof jedoch vermeint, ein relevantes Mitverschulden liege überhaupt nicht vor oder umgekehrt.

Bei der oben geschilderten Sachlage kann dem Kläger nicht eine ein Mitverschulden begründende und daher seine Schadenersatzansprüche schmälernde Sorglosigkeit (EvBl 1977/110 uva; zuletzt 4 Ob 561/91) deshalb vorgeworfen werden, weil er die von den Arbeitern eines anderen Unternehmens über den offenen, aber nicht sichtbaren Liftschacht gelegten Kunststoffisolierplatten nicht vor dem Betreten auf ihre Tragfähigkeit untersucht hat. Eine von dort ausgehende Gefahrenquelle war für ihn selbst nicht unter Bedachtnahme darauf erkennbar, daß auf Baustellen immer besondere Vorsicht geboten ist. Es wäre eine unvertretbare Überspannung der Sorgfaltspflicht in eigenen Angelegenheiten, müßte jedes auf einer Baustelle am Boden liegende Stück Baumaterial vor seinem Betreten im Hinblick auf die Möglichkeit, daß sich darunter eine gefährliche Öffnung im Boden befindet, auf seine Tragfähigkeit geprüft und umgangen oder zum Zweck der Feststellung, ob es eine gefährliche Öffnung verdeckt, aufgehoben werden.

Das angefochtene Teilurteil über das Schmerzengeld ist daher mangels relevanten Mitverschuldens des Klägers am Unfall im Sinn einer gänzlichen Klagsstattgebung abzuändern.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Anmerkung

E30225

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:0080OB00647.92.1112.000

Dokumentnummer

JJT_19921112_OGH0002_0080OB00647_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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