Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Robert Letz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Lucia E*****, vertreten durch Dr.Anton und Dr.Alexander Gruber, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr.Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22.Juli 1992, GZ 34 Rs 172/91-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 30.Jänner 1991, GZ 19 Cgs 131/89-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 1.August 1989 wies die beklagte Partei den Antrag der am 22.November 1932 geborenen Klägerin vom 3.April 1989 auf Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit iS des § 273 Abs 1 und 3 ASVG ab.
Die auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.April 1989 gerichtete Klage stützt sich darauf, daß die Klägerin wegen des darin näher beschriebenen körperlichen und geistigen Zustandes berufsunfähig sei.
Die beklagte Partei wendete ein, daß die als Bürokaufmann und Buchhalterin tätig gewesene Klägerin ihre bisherigen oder diesen ähnliche Berufstätigkeiten ausüben könne, und beantragte daher die Abweisung der Klage.
Das Erstgericht erkannte das Klagebegehren ab 1.Mai 1989 als dem Grunde nach zu Recht bestehend, trug der beklagten Partei ab 1. Februar 1991 eine monatliche vorläufige Zahlung von 6.000 S auf und verpflichtete sie auch zum Ersatz der Verfahrenskosten, wies aber das auf eine Berufsunfähigkeitspension für April 1989 gerichtete Mehrbegehren ab.
Es traf im wesentlichen folgende Tatsachenfeststellungen ("Verwendungs-" wurde durch "Beschäftigungsgruppe" ersetzt):
Die am 22.November 1932 geborene Klägerin, die eine zweijährige Handelsschule absolviert hat, war zuletzt von 1956 bis 1969 als Buchhalterin mit folgendem Tätigkeitsbereich berufstätig: Buchung der Eingänge und ausgehender Fakturen, Hauptbuchhaltung, Buchungen im Kassabuch, Debitoren- und Kreditorenbuchhaltung, am Jahresende Saldieren der Konten bis zur Rohbilanz, Gewinn- und Verlustrechnung. Sie arbeitete auf einem Ruf-Buchhaltungsautomaten. Sie kontierte selbst vor, schloß die Konten monatlich ab und gab "das" dann am Jahresende dem Steuerberater weiter. Sie war auch mit der Umsatzsteuer befaßt, rechnete die Summen aus und übergab die Ergebnisse der Kassa zur Durchführung.
Diese Buchhaltertätigkeit stellte eine psychisch-geistig anspruchsvolle Beschäftigung iS der Beschäftigungsgruppe 4 des Kollektivvertrages für Handelsangestellte dar, die sehr gute Konzentrations- und Merkfähigkeit, psychische Ausdauer (wegen der häufigen schwierigen und langwierigen Berechnungsarbeiten), assoziative Beweglichkeit und (wegen oft hoher Sachwerte) sehr verantwortliches und genaues Arbeiten (Arbeiten mit hoher Entscheidungskompetenz), aber auch (bei den häufigen Arbeiten mit Rechenmaschinen) Feinmanipulationen der Hände (Finger) erforderte.
Im Vergleichszeitraum 1969 bis 1989 ergeben sich von den Grundanforderungen an den Buchhalterberuf keine wesentlichen Unterschiede. Was sich im wesentlichen geändert hat, ist die Technologie, insbesondere die EDV-unterstützte Buchhaltung. Die EDV ist jedoch nur ein Hilfsmittel, die Grundanforderungen an den Buchhalter im Hinblick auf Merkfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit und fachliche Voraussetzungen sind gleichgeblieben. Die EDV-Buchhaltung wäre in bis sechs Monate dauernden Buchhaltungskursen erlernbar. Seinerzeit waren die Buchhaltungskräfte wahrscheinlich höheren intellektuellen Anforderungen ausgesetzt, weil es keine Buchhaltungsprogramme gab. Die Änderungen der Steuergesetze, zB hinsichtlich der Umsatzsteuer, ergeben keine wesentlichen Veränderungen im Anforderungsprofil der Buchhalterin. Mit einer betriebsspezifischen Einschulung von etwa vier bis fünf Monaten würde die Klägerin wieder in die Beschäftigungsgruppe 4 des genannten Kollektivvertrages eingestuft werden.
Wegen der massiven Einschränkungen im psychisch-intellektuellen Bereich, der anlernbar und einordenbaren Klägerin sind nur einfache geistige Arbeiten ohne ständigen besonderen Zeitdruck möglich, Denkantrieb und assoziative Beweglichkeit sind erheblich reduziert, kann sie höchstens Angestelltentätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrages leisten, dabei aber auch nur eher körperlich betonte. Weiters ist für Büroarbeiten die Feinmanipulation der Finger eingeschränkt, womit sie auch keine Tastaturen mehr bedienen kann.
Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes ist die Klägerin berufsunfähig iS des § 273 ASVG, weil die Verweisung von den der Beschäftigungsgruppe 4 entsprechenden Buchhaltungstätigkeiten auf eher körperlich betonte Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 2 einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würde. Der abweisende Teil des erstgerichtlichen Urteils blieb unangefochten.
Das Berufungsgericht gab der gegen den stattgebenden Teil gerichteten Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil durch gänzliche Abweisung der Klage ab.
Unter Bezugnahme auf die E SSV-NF 3/108 führte das Berufungsgericht aus, es komme auf jene Ausbildung und jene Kenntnisse und Fähigkeiten an, die im ausgeübten Beruf tatsächlich erforderlich gewesen und auch angewendet worden seien. Ob ein sozialer Abstieg anzunehmen sei, hänge davon ab, welchen Wert die Allgemeinheit diesen Faktoren zur Zeit des Stichtages zumesse. In der E 23.4.1991, 10 Ob S 83/91, habe der Oberste Gerichtshof die Rechtsansicht des (damaligen) Berufungsgerichtes gebilligt, daß die früheren Kenntnisse der damaligen Klägerin, die als Bilanzbuchhalterin das Rechnungswesen eines Unternehmens geleitet hatte und in die Beschäftigungsgruppe 5 einzureihen gewesen wäre, zur Zeit des Stichtages nur mehr als der Beschäftigungsgruppe 3 entsprechend bewertet wurden, weil bei vergleichbaren Angestellten nunmehr Kenntnisse in größerem Umfang und auf anderen Gebieten, vor allem dem Bereich der EDV, verlangt würden. Es entspreche durchaus der Lebenserfahrung, daß Personen, die ihren Beruf längere Zeit nicht ausgeübt hätten, später nur mehr in geringer eingestuften Berufstätigkeiten eingesetzt würden, also gleichsam "von vorn beginnen" müßten. Dies könne bei der Frage der Zumutbarkeit eines sozialen Abstiegs nicht unberücksichtigt bleiben. Die Möglichkeit einer doch erhebliche Zeit erfordernden Nachschulung sei dabei nicht zu berücksichtigen. Hätte die Klägerin zum Stichtag über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die sie zuletzt 1969 bei Ausübung ihrer damals der Beschäftigungsgruppe 4 zuzuordnenden Tätigkeit als selbständige Buchhalterin gehabt habe, so wäre sie bestenfalls in die Stufe 3 einzustufen. Deshalb bedeute eine Verweisung auf die ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden, der Beschäftigungsgruppe 2 zuzuordnenden Tätigkeiten einer Angestellten zB in der Registratur, Kartei oder Postein- und -auslaufstelle keinen unzumutbaren sozialen Abstieg.
Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (der Sache) mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der (hinsichtlich des Beginnes der darin zuerkannten Leistung unrichtig zitierten) erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Rechtliche Beurteilung
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision ist nicht berechtigt.
Die beklagte Partei hat in der Klagebeantwortung die Abweisung der Klage aus den in ihrem Bescheid vom 1.August 1989 angeführten Gründen beantragt. Nach der Begründung dieses Bescheides gelte die Klägerin nicht als berufsunfähig iS des § 273 Abs 1 ASVG, weil ihre Arbeitsfähigkeit nicht so weit herabgesunken sei, daß die Ausübung einer Tätigkeit, die ihr bei Berücksichtigung der Ausbildung und der bisherigen Berufslaufbahn zugemutet werden könne, nicht mehr möglich wäre. Sie sei aber auch nicht als berufsunfähig gemäß Abs 3 leg cit anzusehen, weil die unter dessen lit d angeführten Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Damit hat die beklagte Partei hinsichtlich des letztgenannten Absatzes nur bestritten, daß die Klägerin infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch die in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübte gleiche oder gleichartige Tätigkeit (lit c) wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Hingegen hat der beklagte Versicherungsträger durch diese Prozeßerklärung die im § 273 Abs 3 lit a) bis c) ASVG genannten übrigen Voraussetzungen iS des gemäß § 87 Abs 3 ASGG anzuwendenden § 267 Abs 1 ZPO zumindest schlüssig zugestanden.
Dieses Zugeständnis wurde zwar nicht widerrufen (Fasching, Zivilprozeßrecht2 Rz 847 f), ist aber deshalb unwirksam, weil die zugestandene Tatsache, daß die Klägerin in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag, also in der Zeit vom 1.Mai 1974 bis 30.April 1989, eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat, durch die Feststellung widerlegt ist, daß die Klägerin zuletzt von 1956 bis 1969 berufstätig war. Daraus folgt nämlich, daß sie während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag nicht berufstätig war, weshalb das Gericht an die zugestandene Tatsache ausnahmsweise nicht gebunden ist (Fasching aaO Rz 851).
Deshalb gilt die Klägerin nicht als berufsunfähig iS des § 273 Abs 3
ASVG.
Die Klägerin gilt aber auch nicht als berufsunfähig iS des Abs 1 leg cit, wonach der Versicherte als berufsunfähig gilt, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.
In der E SSV-NF 3/108 wurde zwar ausgeführt, daß weder der Wortlaut noch der Zweck dieser Bestimmung einen Anhaltspunkt dafür biete, daß die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit - darunter ist iS der in der genannten E bezogenen E SSV-NF 2/73 und 92 der das Verweisungsfeld (die Berufsgruppe) bestimmende, nicht nur vorübergehend ausgeübte letzte Angestelltenberuf zu verstehen - nur deshalb nicht maßgebend sei, weil sie schon längere Zeit zurückliege. Der erkennende Senat betonte aber, daß auch die Frage der Verweisbarkeit nach den Verhältnissen am Stichtag zu beurteilen sei. Ob ein unzumutbarer sozialer Abstieg anzunehmen sei, sei daher nach dem sozialen Wert zu beurteilen, den Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten, die in dem zuletzt ausgeübten Angestelltenberuf von Bedeutung waren, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtages hätten (so auch SSV-NF 4/97).
Im vorliegenden Fall ist zwar festgestellt, daß sich in den rund 20 Jahren zwischen dem Ausscheiden der Klägerin aus ihrer letzten Angestelltentätigkeit als Buchhalterin im Jahre 1969 bis zum Stichtag im Jahre 1989 hinsichtlich der Grundanforderungen des Buchhalterberufes an die Merkfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit und fachlichen Voraussetzungen keine wesentlichen Unterschiede ergeben haben, wohl aber hinsichtlich der Arbeitstechnik, insbesondere die EDV-unterstützte Buchhaltung, aber auch hinsichtlich der Steuergesetze. Die für die Einstufung einer über diese Kenntnisse und Fähigkeiten nicht verfügenden früheren Buchhaltungskraft in die Beschäftigungsgruppe 4 erforderliche betriebsspezifische Einschulung würde etwa vier bis fünf Monate dauern.
Damit steht aber auch iS der E SSV-NF 3/108 und 4/97 fest, daß die Ausbildung sowie die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die die Klägerin bei der Beendigung ihrer Berufstätigkeit als Buchhalterin etwa 20 Jahre vor dem Stichtag verfügte, zur Zeit des Stichtages zwar noch von Bedeutung waren, aber wegen der insbesondere durch die EDV-unterstützte Buchhaltung geänderten Arbeitstechnik für eine Einstufung in die kollektivvertragliche Beschäftigungsgruppe 4 nicht mehr ausreichten, so daß der diesbezügliche Feststellungsmangel nicht vorliegt. Darauf, daß dieses Defizit durch eine betriebsspezifische Nachschulung von etwa vier bis fünf Monaten im wesentlichen ausgeglichen werden könnte, kommt es entgegen der Meinung der Revisionswerberin wegen der längeren Dauer dieser Nachschulung aus den zutreffenden Gründen des Berufungsgerichtes nicht an. Insoweit die Rechtsrüge nicht von der festgestellten Tatsache ausgeht, daß ihr seinerzeitiger Standard an Ausbildung, Kenntnissen und Fähigkeiten für eine Einstufung in die früher angemessene Beschäftigungsgruppe 4 nicht mehr ausreicht, ist sie nicht gesetzgemäß ausgeführt.
Das Berufungsgericht ist daher bei der Beurteilung der Frage, von welcher auf welche Beschäftigungsgruppe der kaufmännischen Angestellten die Klägerin ohne unzumutbaren sozialen Abstieg verwiesen werden darf, ohne Rechtsirrtum nicht von der zur Zeit der Aufgabe ihrer Tätigkeit als Buchhalterin im Jahre 1969 zutreffenden Beschäftigungsgruppe 4, sondern von der dem sozialen Wert der Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten zur Zeit des Stichtages angemessenen Beschäftigungsgruppe 3 ausgegangen.
Daß die Verweisung einer Angestellten der letztgenannten Beschäftigungsgruppe auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Beschäftigungsgruppe, auch wenn es sich dabei um Arbeiten mit geringerer Eigenverantwortung handelt, in der Regel mit keinem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden ist, weil ein Versicherter gewisse Einbußen an Entlohnung und Sozialprestige hinnehmen muß, entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates (zB SSV-NF 3/13, 80, 156; 4/72 und 97; 5/34 uva) und wird in der Revision auch nicht bekämpft.
Deshalb war der Revision nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
Anmerkung
E32291European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00256.92.1124.000Dokumentnummer
JJT_19921124_OGH0002_010OBS00256_9200000_000