TE OGH 1993/1/12 10ObS330/92

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Veröffentlicht am 12.01.1993
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Fritz Steyskal (AG) und Dr.Renate Klenner (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M***** O*****, vertreten durch Dr.Teja H.Kapsch, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 2, 1021 Wien, vertreten durch Dr.Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 7.Oktober 1992, GZ 7 Rs 49/92-66, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. Dezember 1991, GZ 33 Cgs 51/91-61, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am 20.3.1941 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war in den letzten 15 Jahren vor dem 1.11.1985 als Stationsgehilfin, Stubenmädchen, Buffet- und Thekenkraft sowie als Raumpflegerin beschäftigt.

Am 19.4.1985 stellte sie einen Antrag auf Berufsunfähigkeitspension. Am 30.9.1985 teilte die beklagte Partei an die Klägerin in einem als Verständigung bezeichneten Schreiben mit, daß der Anspruch auf eine zeitlich befristete Berufsunfähigkeitspension gemäß § 271 iVm § 256 ASVG anerkannt und der Klägerin ab 1.11.1985 bis 31.12.1986 ein laufender, jederzeit widerruflicher und verrechenbarer Vorschuß gewährt werde, weil über die Höhe der Leistung zur Zeit mit Bescheid nicht abgesprochen werden könne. Über Antrag der Klägerin vom 17.11.1986 gab die beklagte Partei der Klägerin mit Verständigung vom 3.3.1987 bekannt, daß die bisher befristet gewährte Berufsunfähigkeitspension gemäß § 271 iVm § 256 ASVG ab 1.1.1987 weitergewährt werde. Die beklagte Partei gab in diesem Schreiben die Höhe der Pensionsleistung bekannt und teilte der Klägerin mit, daß ein Bescheid mit einer Pensionsberechnung übermittelt werde, sobald dies möglich sei. Am 18.3.1987 erging ein Bescheid der beklagten Partei, mit dem der Anspruch der Klägerin auf Berufsunfähigkeitspension ab 1.11.1985 anerkannt, die Pensionsleistung betraglich von diesem Tag bis zur Bescheiderlassung festgesetzt und der Klägerin mitgeteilt wurde, daß die bisher an sie ergangenen Verständigungen gegenstandslos seien.

Grundlage der Gewährung der Berufsunfähigkeitspension war ein orthopädisches Gutachten vom 29.5.1985, nach dem die Klägerin aufgrund einer erheblichen Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule, eines Cervikalsyndroms, einer Wurzelirritation C 3 und C 7 links und einer stark verminderten Gebrauchsfähigkeit des linken Armes mit Einschränkung des Schultergelenkes nach allen Richtungen um ein Drittel zu geregelten Arbeiten nicht imstande war. Eine neurologische Untersuchung fand anläßlich der Pensionsgewährung nicht statt. Am 28.8.1985 unterzog sich die Klägerin einer neuerlichen Bandscheibenoperation; dies führte zu einer Rückbildung der diffusen Kraftabschwächung, eine Restlähmung verblieb. Ihr Zustand war unmittelbar vor dem 18.3.1987 gleich wie unmittelbar vor dem 6.5.1988. Vom 1.7.1988 bis 31.12.1988 war die Klägerin wieder in der Lage, unter Einhaltung der üblichen Pausen alle leichten und mittelschweren Arbeiten auszuführen, die im Sitzen, Gehen und Stehen in aufrechter, aber auch gebückter Körperhaltung, im Freien sowie in geschlossenen Räumen ausgeübt werden. Ständige gleichförmige Erschütterungen sind zu vermeiden. Alle Arbeiten können nur zu ebener Erde und nicht an exponierten Arbeitsstellen verrichtet werden. Witterungseinflüsse sind nicht zu berücksichtigen. Überkopfarbeiten sind zu vermeiden. Bei den zumutbaren Hebearbeiten ist zu beachten, daß die erlaubte Gewichtsmenge (bis mittelschwer) wohl angehoben, aber nicht getragen werden kann. Die Fingergeschicklichkeit ist nicht eingeschränkt; Akkord- und Fließbandarbeiten sind zulässig. Die Klägerin ist auf alle bisher ausgeübten, aber auch auf Tätigkeiten in grundsätzlich anderen Arbeitsbereichen verweisbar, wobei auch das Erlernen völlig neuer Kenntnisse im Sinne einer Umschulung zumutbar ist. Im Falle eines Ortswechsels ist nicht mit maßgeblichen Anpassungsschwierigkeiten zu rechnen. Ab 1.1.1989 hat sich der Zustand der Klägerin verändert. Seither sind ständige Bück- und Hebearbeiten um ein Drittel eines Arbeitstages zu kürzen und relativ gleichmäßig auf einen Arbeitstag aufzuteilen.

Mit Bescheid vom 6.5.1988 entzog die beklagte Partei der Klägerin aufgrund der Ergebnisse von Nachuntersuchungen im Feber und März 1988 die Berufsunfähigkeitspension ab 1.7.1988.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zu verpflichten, die Berufsunfähigkeitspension über den Monat Juni 1988 hinaus weiter zu gewähren. Im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt sei keine wesentliche Änderung eingetreten, sodaß die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung nicht gegeben seien.

Das Erstgericht gab im dritten Rechtsgang dem Begehren der Klägerin statt. Unter Zugrundelegung der vom Berufungsgericht in einem Aufhebungsbeschluß überbundenen Rechtsansicht führte es aus, daß für die Frage, ob eine die Entziehung rechtfertigende Besserung im Zustand der Klägerin eingetreten sei, auf den Zeitpunkt des Gewährungsbescheides vom 18.3.1987 abzustellen sei. Da sich der Zustand der Klägerin und das Leistungskalkül seit diesem Zeitpunkt nicht wesentlich verändert hätten, fehlten die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es verwies auf die im früheren Aufhebungsbeschluß dargelegte Rechtsansicht, daß für die Frage der Entziehung der Zustand der Klägerin im Zeitpunkt des Gewährungsbescheides vom 18.3.1987 und im Zeitpunkt des Entziehungsbescheides vom 6.5.1988 zu vergleichen seien. Da sich eine wesentliche Änderung in dieser Zeit nicht ergeben habe, sei die Entziehung nicht zu Recht erfolgt. Die Ausführungen in den Entscheidungen SSV-NF 1/44, 4/149 und 5/5 seien auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar, da sie nur Fälle der Weitergewährung von befristeten Berufsunfähigkeitspensionen und nicht Fälle einer Erstgewährung nach vorangegangener Bevorschussung betroffen hätten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Begehren der Klägerin abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Gemäß § 368 Abs.2 ASVG hat der Versicherungsträger, wenn er einen Bescheid zu erlassen hat, dies aber innerhalb der in § 368 Abs. 1 ASVG normierten Frist nicht kann, weil der Sachverhalt noch nicht ausreichend geklärt ist, dann, wenn seine Leistungspflicht dem Grunde nach feststeht die Leistung zu bevorschussen. Voraussetzung für eine Vorschußleistung nach dieser Bestimmung ist daher, daß die Leistungspflicht dem Grunde nach feststeht und lediglich die Höhe des Anspruches einer weiteren Klärung bedarf.

Mit Schreiben der beklagten Partei vom 30.9.1985 wurde der Klägerin bekanntgegeben, daß ihr Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension ab 1.11.1985 dem Grunde nach anerkannt werde. Das Schreiben ist zwar als "Verständigung" bezeichnet, stellt inhaltlich jedoch einen Bescheid dar, mit dem über den Grund des Anspruches entschieden und der Klägerin (offenbar zufolge fehlender Entscheidungsgrundlagen betreffnd die Anspruchshöhe) ein Vorschuß zuerkannt wurde. Diese Vorgangsweise steht auch mit der zitierten Bestimmung des § 368 Abs. 1 ASVG im Einklang. Der Klägerin wurde hiemit eine mit 31.12.1986 befristete Berufsunfähigkeitspension gewährt. In gleicher Weise erfolgte mit Verständigung vom 3.3.1987 die (unbefristete) Weitergewährung der Leistung ab 1.1.1987.

Mit Bescheid vom 18.3.1987 wurde neuerlich über den gesamten Anspruch der Klägerin abgesprochen und nunmehr eine Pensionsleistung ab 1.11.1985 ohne Ausspruch einer Befristung gewährt. Ob die beklagte Partei im Hinblick auf die mit Verständigung vom 30.9.1985 erfolgte Entscheidung über den Anspruch der Klägerin für die Zeit bis 31.12.1986 sowie die mit Verständigung vom 3.3.1987 erfolgte Entscheidung über den Anspruch ab 1.1.1987 über den Grund des Anspruches neuerlich absprechen durfte, ist nicht zu prüfen. Auszugehen ist davon, daß der Klägerin mit Bescheid vom 18.3.1987 ab 1.11.1985 eine unbefristete Berufsunfähigkeitspension gewährt wurde.

Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Der Leistungsentzug nach § 99 Abs. 1 ASVG setzt eine wesentliche, entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus (Schrammel ZAS 1990, 73 und 79 f und in Tomandl System 181 f; SSV-NF 1/27, 2/43 ua), wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch ein Leistungsentzug sachlich gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben (SSV-NF 1/27, 1/43, 2/43 ua). Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft des Gewährungsbescheides der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (SSV-NF 4/149 mwN).

Die beklagte Partei verweist in ihrer Berufung darauf, daß im Hinblick darauf, daß der Gewährungsbescheid erst 1 1/2 Jahre nach der Antragstellung erging, der für die Entziehung maßgebliche Vergleich mit dem Zustand der Klägerin im Zeitpunkt der Erstellung des Gewährungsgutachtens sohin mit dem 29.5.1985 vorzunehmen sei. Dem kann nicht beigetreten werden. Einer neuen Sachentscheidung steht die Rechtskraft eines früher in derselben Angelegenheit ergangenen Bescheides nur dann nicht entgegen, wenn in den für die Entscheidung maßgebenden Umständen eine Änderung eingetreten ist. Res judicata liegt nur dann nicht vor, wenn sich seit Erlassung des Bescheides wesentliche Änderungen im Sachverhalt ergeben (idS auch VwGH vom 24.9.1980, 1691/79). Die bescheidmäßige Entscheidung hat sich unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung oder dem Zeitpunkt der Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren auf den gesamten Zeitraum bis zur Erlassung des Bescheides zu erstrecken. Maßgeblich ist daher für die Entziehung einer Leistung nur der Zustand im Zeitpunkt der bescheidmäßigen Leistungsgewährung. Waren etwa im Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Leistung erfüllt und sind diese Voraussetzung während des Verfahrens zufolge einer Änderung der Verhältnisse weggefallen, so ist dies im Bescheid (durch Gewährung der Leistung nur bis zu einem vor der Bescheiderlassung liegenden Zeitpunkt) zu berücksichtigen. Der Umstand, daß der bescheidmäßigen Gewährung unrichtige (weil nicht mehr aktuelle) Ermittlungsergebnisse zugrunde gelegt wurden, rechtfertigt nicht die Entziehung der Leistung, wenn sich später ergibt, daß im Zeitpunkt der Entscheidung die Voraussetzungen für den Leistungsbezug nicht mehr gegeben waren. Da die Entscheidung auf der Grundlage des Sachverhaltes im Zeitpunkt ihrer Erlassung zu ergehen hat, steht ihre Rechtskraft der Entziehung der Leistung entgegen, wenn sich die Verhältnisse gegenüber diesem Zeitpunkt nicht wesentlich geändert haben.

Ist im Zustand der Klägerin seit dem Zeitpunkt des Bescheides vom 18.3.1987 keine Besserung eingetreten so ist die Entziehung der Leistung nicht zulässig. Ob sich der Gesundheitszustand der Klägerin in dieser Zeit gebessert hat, kann allerdings auf Grund der vorliegenden Feststellungen nicht beurteilt werden. Die Vorinstanzen haben ihren Entscheidungen zugrunde gelegt, daß der Zustand der Klägerin unmittelbar vor dem 6.5.1988 gleich war wie unmittelbar vor dem 18.3.1987 und haben im weiteren das Leistungskalkül der Klägerin für die Zeit ab 1.7.1988 erhoben. Ob die Leistungsfähigkeit der Klägerin allerdings zum 1.7.1988 in gleicher Weise gegeben war, wie in der Zeit vor dem 6.5.1988 kann nicht mit Sicherheit beurteilt werden. Feststellungen hierüber sind jedoch erforderlich, weil sich die Entscheidung auf den gesamten Zeitraum bis Schluß der Verhandlung in erster Instanz zu erstrecken hat und Änderungen bis zu diesem Zeitpunkt zu berücksichtigen sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Zustand der Klägerin im Zeitpunkt der Erlassung des Entziehungsbescheides zwar gleich war, wie im Zeitpunkt der bescheidmäßigen Gewährung, daß jedoch in beiden Zeitpunkten die Voraussetzungen für die Berufsunfähigkeitspension erfüllt waren und sich erst in der folgenden Zeit bis 1.7.1988 eine maßgebliche Besserung ergeben hat. In diesem Fall könnten die Voraussetzungen für die Entziehung der Leistung zu einem späteren, als dem im Bescheid genannten Zeitpunkt gegeben sein; das erhobene Begehren wäre dann für die nach diesem Zeitpunkt gelegene Zeit nicht berechtigt. Hat der für 1.7.1988 festgestellte Zustand jedoch bereits seit Anfang Mai 1988 und damit - ausgehend von den vorliegenden Feststellungen - im wesentlichen unverändert bereits seit dem Zeitpunkt des Gewährungsbescheides bestanden, so wäre die Entziehung nicht zu Recht erfolgt.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 ZPO.

Anmerkung

E32336

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1993:010OBS00330.92.0112.000

Dokumentnummer

JJT_19930112_OGH0002_010OBS00330_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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