TE OGH 1993/1/14 2Ob66/92

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Veröffentlicht am 14.01.1993
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Graf, Dr.Schinko und Dr.Tittel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Karin O***** geboren am 21. August 1989„ vertreten durch den Vater Nikolaus O*****, dieser vertreten durch Dr.Gottfried Eisenberger und Dr.Jörg Herzog, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagten Parteien 1.) Paul D*****,

2.) S*****Gesellschaft mbH, ***** und 3.) G***** Versicherung, ***** alle vertreten durch Dr.H.Klement und Dr.A.Schreiner, Rechtsanwälte in Graz, wegen Zahlung von S 2,005.000,-- s.A., einer monatlichen Rente von S 30.000,-- und Feststellung, infolge Revision der beklagten Parteien gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 2.Juli 1992, GZ 6 R 28/92-44, womit infolge Berufung aller Parteien das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 4.November 1991, GZ 24 Cg 253/90-31, teilweise bestätigt und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das vom Berufungsgericht erlassene Teilurteil wird dahin abgeändert, daß es insgesamt wie folgt zu lauten hat:

"Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei den Betrag von S 1,800.000,-- samt 4 % Zinsen aus S 1,700.000,-- vom 1.12.1990 bis 4.11.1991 und aus S 1,800.000,-- ab 5.11.1991 binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Das Mehrbegehren auf Zahlung von S 200.000,-- samt 4 % Zinsen ab 1.12.1990 wird abgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten."

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt ebenfalls der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 29.9.1989 wurde die damals knapp über ein Monat alte Klägerin bei einem Verkehrsunfall, den der Erstbeklagte mit einem LKW allein verschuldet hat, lebensbedrohlich verletzt. Die zweitbeklagte Gesellschaft ist Halter dieses LKW, die drittbeklagte Partei Haftpflichtversicherer. Die Klägerin befand sich zum Unfallszeitpunkt in einer Tragtasche, die am Rücksitz des am Unfall beteiligten PKW abgestellt war. Sie erlitt schwerste Schädelverletzungen, und zwar insbesondere ein Schädelhirntrauma mit Blutungen unter der Kopfschwarte, Sauerstoffmangel, Schaden des Gehirngewebes, Zugrundegehen von Hirngewebe, Lochbildung im Gehirngewebe, durch Gehirngewebsverlust, vermehrte Hirnwasseransammlung sowie Lähmung sämtlicher Gliedmaßen und des Körperstammes sowie Verdacht auf Sehstörung mit schwersten Hirnleistungsdefekten und Ausfällen. Die Klägerin kann nur in einem speziellen Bett liegen, aus dem sie sich nicht bewegen kann. Sie kann weder sitzen, noch gehen oder sprechen. Eine Besserung dieses Zustandes ist für den Rest des Lebens der Klägerin nicht zu erwarten; sie ist auf Dauer pflegebedürftig.

Derzeit bestehen noch folgende Unfallsfolgen: Tetraspastik mit deutlicher Rechtsbetonung, spastische Halbseitenlähmung links, spastische Spitzfußstellung beidseits, partielle Schädigung der Sehnerven, mangelnde Augenfixation, fehlende Kopf- und Rumpfkontrolle, fehlende verbale Äußerungen, Wasserkopfbildung, Zustand nach Shunt-Operation.

Die Klägerin begehrt Schadenersatz wegen der erlittenen Verletzungen. Unter Berücksichtigung einer Teilzahlung in der Höhe von S 150.000,-- (Pflegekosten) und einer weiteren von S 33.272,20 (Heilbehelfe) begehrt die Klägerin die Zahlung eines Betrages von S 2,005.000,-- (S 1,7 Mill. Schmerzengeld, S 300.000,-- Verunstaltungsentschädigung und S 5.000,-- restliche Pflegekosten); weiters begehrt sie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden und die Zahlung einer monatlichen Rente von S 30.000,--.

Die Beklagten anerkannten das Feststellungsbegehren, worüber am 7.11.1990 ein Teilanerkenntnisurteil erging (ON 6). Das Erstgericht verurteilte die Beklagten weiters zur Zahlung des von der Klägerin begehrten Betrages von S 2,005.000,-- s.A. sowie einer monatlichen Rente von S 20.000,-- beginnend ab 1.6.1990. Das Rentenmehrbegehren von monatlich S 10.000,-- wurde abgewiesen. Um der Klägerin, deren Leben zerstört sei, eine gewisse Linderung ihrer Leiden zu verschaffen, erachtete es gemäß § 273 ZPO ein Schmerzengeld von S 1,7 Mill. für angemessen. Da sie alle Freuden des Lebens entbehren müsse, verunstaltet sei und es nie zum Abschluß einer Ehe durch sie kommen könne, gebühre ihr auch eine Verunstaltungsentschädigung von S 300.000,--.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte den Zuspruch von S 2,000.000,-- (umfassend Schmerzengeld und Verunstaltungsentschädigung) als Teilurteil; im übrigen, nämlich hinsichtlich des Zuspruches eines weiteren Betrages von S 5.000,-- s. A. und der Entscheidung über das Rentenbegehren wurde das angefochtene Urteil einschließlich der Kostenentscheidung aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die ordentliche Revision nach § 502 Abs.1 ZPO und der Rekurs nach § 519 Abs.1 Z 2 ZPO wurden für zulässig erklärt.

In rechtlicher Hinsicht führte das Berufungsgericht zum Zuspruch von Schmerzengeld aus, es gebe keine starre Obergrenze für derartige Ansprüche. Die tatsächliche rechtliche Wertung des Schmerzengeldanspruches liege darin, daß eine haftungsbegründende Einwirkung auf die Persönlichkeitsstruktur einer Person, die diese außerstande setze, Schmerz und Leid im Gegensatz zu Wohlbefinden und Freude zu empfinden, und sie damit elementarster menschlicher Empfindungen beraube, für den darin gelegenen immateriellen Nachteil als solchen entschädigungspflichtig mache. Wem die Erlebnisfähigkeit genommen werde, der erleide einen schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutenden Nachteil an seiner Person wie durch eine Störung seines Wohlbefindens durch "Schmerz". Die mit S 1,7 Mill. bemessene Höhe des Schmerzengeldes werde der Schwere des Eingriffes in die anlagenmäßige Persönlichkeitsstruktur der Klägerin gerecht.

Es bedürfe auch keines bewußten Erlebens konkreter Unfallsfolgen, um einen Anspruch auf Verunstaltungsentschädigung gemäß § 1326 ABGB zu begründen. Es stehe fest, daß die Klägerin weder sitzen noch gehen oder sprechen könne und eine Besserung dieses Zustandes nicht zu erwarten sei. Aus diesen Dauerfolgen ergebe sich ein äußeres Erscheinungsbild der Klägerin, bei dem sowohl ihre Heiratsaussichten als auch ihr Fortkommen praktisch vernichtet sei. Mit Rücksicht auf die Schwere der Beeinträchtigungen und das Alter der Klägerin sei ein Betrag von S 300.000,-- nicht überhöht.

Gegen das bestätigende Urteil des Berufungsgerichtes - soweit es den Zuspruch eines Betrages von S 565.000,-- übersteigt - richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Klagebegehren mit Ausnahme des unbekämpft gebliebenen Betrages von S 565.000,-- zur Gänze abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragte, die Revision der Beklagten zurückzuweisen bzw. ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht einen höheren Betrag an Schmerzengeld, als vom Obersten Gerichtshof bisher zuerkannt, zugesprochen hat, sodaß die Voraussetzungen des § 502 Abs.1 ZPO vorliegen; sie ist zum Teil berechtigt.

Die Beklagten machen in ihrem Rechtsmittel geltend, im Rahmen der psychischen Alteration könne im gegenständlichen Fall nur der Verlust jener Annehmlichkeiten berücksichtigt werden, die auch ein 6 Wochen altes Kleinkind in seinem kurzen Leben erfahren habe. Es handle sich dabei um den Leibkontakt mit der Mutter, Streicheleinheiten und ähnliches. Da die Klägerin auf Schmerzen mit "kreatürlichem Unwohlsein" reagiere, stehe ihr ein Schmerzengeldanspruch zu; dieser errechne sich auf der Basis der vom Sachverständigen festgestellten Schmerzperioden mit einem Betrag von S 565.000,--. Daß die Klägerin im besonderen Ausmaß seelische Schmerzen erlitten habe, sei aber unzutreffend. Die Klägerin werde niemals wissen, was ihr entgangen ist, welche Lebensgefühle und Zustände für sie immer unerreichbar sein werden. Sie werde es niemals als bedrückend empfinden, daß sie keine zwischenmenschlichen Kontakte pflegen und keine Familie gründen könne. Die Klägerin erlebe nicht einmal im Grenzbereich des menschlichen Denkens und Fühlens diese Umstände. Der Verlust des Lebensgefühles sei nur dritten Personen schmerzhaft bewußt, nicht jedoch der Klägerin selbst. Folgte man der Argumentation der Vorinstanzen, hätte das Schmerzengeld reine Genugtuungsfunktion, zumindest im Umfang des Zuspruches der psychischen Alteration. Die Unrichtigkeit der Argumentation der Vorinstanzen zeige sich auch darin, daß die Klägerin keine Möglichkeit habe, durch zusätzliche Geldbeträge ihr Lebensgefühl zu verbessern oder sich auch nur annähernd einen Ausgleich für den erlittenen Verlust zu verschaffen. Der von den Vorinstanzen zugesprochene Betrag von S 2,000.000,-- werde unter der Aufsicht des zuständigen Pflegschaftsgerichtes mündelsicher anzulegen sein, es sei nicht vorstellbar, unter welchen Voraussetzungen eine Auszahlung dieses Betrages an die Klägerin oder deren gesetzlichen Vertreter erfolgen könne. Ein Sonderbedarf werde ohnehin durch die Schädiger abgedeckt. Darüber hinausgehende Wünsche und Bedürfnisse könnten bei der Klägerin aufgrund ihres Zustandes nicht existieren. Daraus folge, daß der von den Vorinstanzen zugesprochene Betrag im Falle des Ablebens der Klägerin an deren Erben auszuzahlen sein werde, ohne daß sich die Klägerin selbst jemals einen Ausgleich für die erlittenen Verletzungen verschaffen könne.

Genauso verhalte es sich auch mit dem Zuspruch einer Verunstaltungsentschädigung. Gerade bei einer derartigen Entschädigung sei auf das subjektive Empfinden des Verunstalteten Bedacht zu nehmen. Die Klägerin sei aber nicht in der Lage, ihre Situation zu erkennen.

Diesen Ausführungen kann nur zum Teil gefolgt werden:

Es trifft zu, daß die ältere Rechtsprechung zum Schmerzengeld in Fällen eines apallischen Syndroms verbal den Grundsatz aufrecht erhalten hat, Voraussetzung für den Zuspruch eines Schmerzengeldes sei das Vorhandensein von Schmerzempfinden beim Verletzten, mag er auch nicht fähig sein, seine Schmerzen bei klarem Bewußtsein zu erleben und rational zu verarbeiten (SZ 44/150; 2 Ob 146/89). Anderseits erachtete aber die Rechtsprechung das Schmerzengeld auch in den Fällen nicht als funktionslos, in denen der Verletzte wegen schwerer Schädigung seiner Gehirnfunktion nach menschlichem Ermessen auch in Zukunft nicht in der Lage sein wird, sich Annehmlichkeiten oder Erleichterungen zu verschaffen oder verschaffen zu lassen (5 Ob 608/84). Als bestimmend wurde vielmehr die "außergewöhnliche Schwere der Unfallsfolgen" an sich und nicht die Intensität des Unlusterlebnisses erkannt. In der Entscheidung vom 23.4.1992 (6 Ob 535, 1558/92) ist der 6.Senat des Obersten Gerichtshofes darüber hinausgegangen und hat ausgeführt, die tatsächliche rechtliche Wertung des Schmerzengeldanspruches liege darin, daß eine haftungsbegründende Einwirkung auf die Persönlichkeitsstruktur einer Person, die diese außerstande setze, Schmerz und Leid im Gegensatz zu Wohlbefinden und Freude zu empfinden und sie damit elementarster menschlicher Empfindungen beraubt, für den darin gelegenen immateriellen Nachteil als solchen entschädigungspflichtig macht. Wem die Erlebnisfähigkeit genommen wird, der erleidet einen schadenersatzrechtlich zumindest ebenso bedeutenden Nachteil an seiner Person wie durch eine Störung seines Wohlbefindens durch "Schmerz". Dieser Ansicht hat sich auch der 8.Senat (8 Ob 581/92) angeschlossen, sie wurde auch bereits vom erkennenden Senat (2 Ob 60/92) geteilt. Von dieser nunmehr herrschenden Rechtsprechung abzugehen besteht kein Anlaß. Daraus folgt, daß der Klägerin schon allein aufgrund der Zerstörung ihrer Persönlichkeit ein Schmerzengeldanspruch zusteht.

Bei der Bemessung des Schmerzengeldes ist einerseits auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, anderseits zur Vermeidung einer völligen Ungleichmäßigkeit der Rechtsprechung aber ein objektiver Maßstab anzulegen. Es darf der von der Judikatur ganz allgemein gezogene Rahmen im Einzelfall nicht gesprengt werden (2 Ob 18/90, 2 Ob 7/91, 2 Ob 60/92 uva). Der Oberste Gerichtshof erkannte bei besonders schweren Verletzungen mit Dauerfolgen wiederholt einen Betrag von S 1,000.000,-- zu (2 Ob 18/90; 2 Ob 7/91); in 2 Ob 55/91 wurde ein Betrag von S 1,2 Mill. als berechtigt angesehen, in 2 Ob 60/92 ein solcher von S 1,3 Mill. Nach Ansicht des erkennenden Senates erscheint es im vorliegenden Fall berechtigt, über diese Beträge hinauszugehen und der Klägerin ein Schmerzengeld von S 1,5 Mill. zuzusprechen, weil sie aufgrund ihres geringen Alters zum Unfallszeitpunkt und der Schwere der Verletzungen nie in der Lage war und nie in der Lage sein wird, die Freuden und Leiden eines normalen menschlichen Lebens zu erfassen und zu erleben. Der von den Vorinstanzen zugesprochene Betrag von S 1,7 Mill. geht jedoch über den ganz allgemein von der Rechtsprechung gezogenen Rahmen hinaus.

Entgegen der in der Revision vertretenen Ansicht steht der Klägerin auch eine Verunstaltungsentschädigung unabhängig davon zu, ob sie in der Lage ist, ihre Verunstaltung als solche zu erkennen. Unter einer Verunstaltung ist eine wesentliche nachteilige Veränderung zu verstehen, die nach außen hin erkennbar ist (Apathy, Komm z EKHG, Rz 46 zu § 13 mwN). Eine derartige wesentliche nachteilige Veränderung hat die Klägerin ohne Zweifel erlitten, daß diese geeignet ist, das "bessere Fortkommen" im Sinne des § 1326 ABGB zu verhindern, liegt auf der Hand.

Aus den angeführten Gründen war daher der Revision der Beklagten teilweise Folge zu geben und ein Schmerzengeld von lediglich S 1,5 Mill. zuzusprechen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 392 Abs.2 ZPO.

Anmerkung

E30658

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1993:0020OB00066.92.0114.000

Dokumentnummer

JJT_19930114_OGH0002_0020OB00066_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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