Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 2.Februar 1993 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Rzeszut, Dr.Hager, Dr.Schindler und Dr.Mayrhofer als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Munsel als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Peter Wilhelm P***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach dem § 83 Abs. 1 StGB zu AZ 5 U 390/91 des Bezirksgerichtes St.Veit an der Glan über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Berufungsgericht vom 2.Juni 1992, AZ 4 Bl 108/92, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr.Weiß, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten und seines Verteidigers zu Recht erkannt:
Spruch
Das Landesgericht Klagenfurt hat im Berufungsverfahren (AZ 4 Bl 108/92) dadurch, daß es den Antrag des Angeklagten Peter Wilhelm P***** auf Vernehmung der Zeugen Monika Z***** und Christian P***** mit Stillschweigen überging und seine Berufung zurückwies, das Gesetz in der Bestimmung des § 3 (in Verbindung mit § 281 Abs. 1 Z 4) StPO verletzt.
Das Urteil dieses Gerichtes vom 2.Juni 1992, AZ 4 Bl 108/92 (= GZ 5 U 390/91-17 des Bezirksgerichtes St.Veit an der Glan), wird zur Gänze aufgehoben (womit auch die Endverfügung vom 22.Juni 1992, ON 18 dA, verfällt), und es wird die Erneuerung des Berufungsverfahrens durch das Landesgericht Klagenfurt als Berufungsgericht angeordnet.
Text
Gründe:
Mit dem Urteil des Bezirksgerichtes St.Veit an der Glan vom 12. Februar 1992, GZ 5 U 390/91-8, wurde der am 29.Juni 1951 geborene Gastwirt Peter Wilhelm P***** des Vergehens der Körperverletzung nach dem § 83 Abs. 1 StGB schuldig erkannt. Ihm wurde zur Last gelegt, am 22. September 1991 in Silbereck Otto Sandro H***** mit einem Gummiknüppel Schläge auf den Rücken versetzt zu haben, die Verletzungen leichten Grades, nämlich Prellungen der Brustwirbelsäule und im Bereich des rechten Schulterblattes sowie einen Bluterguß am Rücken, zur Folge hatten. Der Richter stützte den Schuldspruch vorwiegend auf die Aussage des Verletzten, die Angaben von zwei Auskunftspersonen im sicherheitsbehördlichen Vorverfahren (Reinhold G***** und Eva M*****) und die charakteristische, auf einen Schlag mit einem Gummiknüppel hinweisende Form des ärztlicherseits festgestellten Blutergusses am Rücken des Verletzten und erachtete die leugnende Verantwortung des Beschuldigten für widerlegt.
Dieses Urteil bekämpfte der Beschuldigte mit Berufung wegen Nichtigkeit und Schuld, der Bezirksanwalt mit Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe. Im Rahmen der Schuldberufung verwies der Beschuldigte darauf, daß die belastenden Angaben des Verletzten auf Verärgerung wegen seiner Entfernung aus dem Gastlokal und die Anzeigeerstattung gegen ihn zurückzuführen und daher unglaubwürdig seien. Die sonstigen Tatzeugen hätten ihn in der Hauptverhandlung nicht belastet. Zum Beweis der Richtigkeit seiner Darstellung, am 22. September 1991 gegenüber Otto Sandro H***** keinen Gummiknüppel eingesetzt zu haben, beantragte der Beschuldigte die Einvernahme der im Verfahren bisher nicht bekannten Zeugen Monika Z***** und Christian P*****. Der Berufungsantrag lautete, der Berufung nach Beweiswiederholung und Beweisergänzung unter Berücksichtigung der neu angebotenen Beweise Folge zu geben und den Berufungswerber entweder freizusprechen oder das angefochtene Urteil aufzuheben und die Strafsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (ON 11 dA). In der Berufungsverhandlung beim Landesgericht Klagenfurt am 2.Juni 1992 begehrte der Verteidiger die Zurückweisung der Strafberufung der Anklagebehörde, verwies auf die Berufungsschrift und beantragte, der Berufung des Angeklagten Folge zu geben, allenfalls nach Beweiswiederholung und Beweisergänzung (AS 118).
Das Berufungsgericht kam dem Begehren auf Beweiswiederholung und Beweisergänzung nicht nach und wies mit dem Urteil vom 2.Juni 1992, AZ 4 Bl 108/92, beide Berufungen zurück. In Erledigung der Schuldberufung übernahm es die erstgerichtlichen Feststellungen als unbedenklich und ging auf den Beweisantrag auf Einvernahme der neu angebotenen Zeugen nicht ein. Zusammenfassend kam es zu dem Ergebnis, das Erstgericht habe sich mit der teilweise leugnenden Verantwortung des Angeklagten ausführlich auseinandergesetzt, diese mit den Ergebnissen des Beweisverfahrens abgewogen und unbedenkliche, weil auf lebensnaher, schlüssiger und mit den Verfahrensergebnissen übereinstimmender Beweiswürdigung beruhende Feststellungen getroffen.
Rechtliche Beurteilung
Das Berufungsurteil des Landesgerichtes Klagenfurt steht mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß dem § 3 StPO haben alle im Strafverfahren tätigen Behörden die zur Belastung und die zur Verteidigung des Beschuldigten dienenden Umstände mit gleicher Sorgfalt zu berücksichtigen. Die Beobachtung dieses Grundsatzes der Erforschung der materiellen Wahrheit (Instruktionsgrundsatz) ist durch das Wesen eines die Strafverfolgung und die Verteidigung sichernden Verfahrens geboten (vgl. § 281 Abs. 1 Z 4 StPO).
Die beantragte Vernehmung von Tatzeugen zur Überprüfung oder Entlastung eines leugnenden Angeklagten darf nicht prinzipiell abgelehnt werden. Nur besondere Erwägungen, die auch durch die Antragsbegründung nicht in Frage gestellt werden und zur Annahme führen, daß die verlangte Beweisaufnahme keinesfalls zur Wahrheitsfindung beitragen kann, rechtfertigen ein solches Vorgehen (vgl. EvBl. 1981/177).
Eine Verletzung des Instruktionsgrundsatzes wird bei Beweisanträgen
in der ersten Instanz von der Nichtigkeitssanktion nach dem § 281
Abs. 1 Z 4 StPO erfaßt. Die Berufungsverhandlung kennzeichnet der
Charakter einer neuen, mit erhöhten Garantien für die Ermittlung der
Wahrheit und des Rechts ausgestatteten Hauptverhandlung (vgl. 9 Os
118/79). Daraus ergibt sich, daß auch dem Berufungsgericht bei der
Entscheidung über die Schuldberufung insoweit kein Ermessensspielraum
eingeräumt ist (vgl. EvBl. 1981/177 = JBl. 1981, 445; abweichend RZ
1980/39 = EvBl. 1980/116). Verstöße des Berufungsgerichtes im
angeführten Sinn sind daher einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nicht verschlossen.
Im vorliegenden Fall bieten die Gründe des Berufungsurteils - ebenso wie die gesamte Aktenlage - für die Annahme keine Deckung, die verlangte Beweisaufnahme könne keinesfalls zur Wahrheitsfindung beitragen. Wenngleich weder aus der Berufungsschrift noch sonst aus den Akten eindeutig hervorgeht, ob es sich bei den im Rahmen der Schuldberufung (zulässigerweise nach den §§ 467 Abs. 1, 473 StPO) beantragten weiteren beiden Zeugen um Tatzeugen handelt, wird dies doch zumindest konkludent aus dem Berufungsvorbringen nahegelegt, wonach diese beiden Zeugen die Darstellung des Angeklagten, den Gummiknüppel gegen Otto Sandro H***** nicht eingesetzt zu haben, bestätigen könnten. Jedenfalls könnten diese Zeugen nach dem Berufungsvorbringen in der Lage sein, die entscheidungswesentlichen Urteilsfeststellungen aus dem schuldigsprechenden Erkenntnis des Erstgerichtes zu widerlegen.
Das Berufungsgericht hätte von der Vernehmung der beiden neu angebotenen Zeugen ohne Verstoß gegen die Pflicht zur materiellen Wahrheitsforschung (§ 3 StPO) nur dann absehen dürfen, wenn aus den Akten oder dem ergänzenden Vorbringen des Angeklagten in der Berufungsverhandlung zu ersehende Gründe die Annahme rechtfertigten, daß die beiden Zeugen nicht in dem angegebenen Sinn aussagen könnten oder daß ihrer Aussage für die zu entscheidende Sache von vornherein keine Bedeutung zukäme (Mayerhofer-Rieder3, E 80 zu § 281 Abs. 1 Z 4 StPO). Derartige Gründe können aber weder dem Berufungsurteil noch sonst dem Akteninhalt entnommen werden.
Da nicht auszuschließen ist, daß sich die Gesetzesverletzung durch das Landesgericht Klagenfurt zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat, war in Stattgebung der von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde das Berufungsurteil nicht nur in seiner Entscheidung über die Schuldberufung, sondern in sinngemäßer Anwendung des § 289 StPO zur Gänze aufzuheben und dem Berufungsgericht die Erneuerung des Rechtsmittelverfahrens aufzutragen. Dabei kann eine Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft - die im Fall eines Freispruchs mit ihrem Rechtsmittel auf diese Entscheidung zu verweisen wäre - nicht mehr in Betracht kommen.
Anmerkung
E30873European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1993:0110OS00006.9300006.0202.000Dokumentnummer
JJT_19930202_OGH0002_0110OS00006_9300006_000