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97 VergabewesenNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Keine Anlaßfallwirkung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Schwellenwertregelung im Bundesvergabegesetz; keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte des Auftraggebers und keine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit durch teilweise Stattgabe der Nachprüfungsanträge eines übergangenen Bieters; ausreichende Determinierung des Begriffs "echte Chance" im Bundesvergabegesetz; keine verfassungswidrige Annahme des Vorliegens gleichartiger Lieferungen und regelmäßig wiederkehrender AufträgeSpruch
Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Im Laufe des Jahres 1997 führten die beschwerdeführenden Österreichischen Bundesbahnen (künftig: ÖBB) insgesamt 18 Verfahren zur Vergabe von Aufträgen zur Beschaffung von verschiedenen elektro- und dieselbetriebenen Gabel- und Hubstaplern in Form von Verhandlungsverfahren nach der ÖNORM A 2051 durch.
2. a) Am 31. Oktober 1997 stellte ein übergangener Bieter beim Bundesvergabeamt mehrere Nachprüfungsanträge, bei denen er davon ausging, daß auf die durchgeführten Vergaben das Bundesvergabegesetz anzuwenden gewesen wäre, da die Auftragswerte der einzelnen Vergabeverfahren zusammenzurechnen seien, womit der für Lieferaufträge allgemein geltende Schwellenwert von 200.000 ECU (§5 Abs2 des Bundesvergabegesetzes, BGBl. I 56/1997 (künftig: BVergG 1997)), aber auch der für Lieferaufträge im sogenannten Sektorenbereich geltende Schwellenwert nach §9 Abs1 BVergG 1997 in der Höhe von 400.000 ECU überschritten sei; dies hätte zur Folge, daß entweder ein offenes Verfahren durchzuführen gewesen wäre oder - für den Fall, daß es sich um einen Sektorenauftrag handle - zumindest eine öffentliche Bekanntmachung hätte durchgeführt werden müssen.
b) Mit dem an den übergangenen Bieter und die ÖBB als Auftraggeber ergangenen Bescheid vom 29. April 1998 gab das Bundesvergabeamt (BVA) den Anträgen teilweise statt und stellte mit Spruchpunkt 1 fest, daß die ÖBB die Bestimmungen des BVergG 1997 dadurch verletzt haben, daß sie jegliche Form von öffentlicher Bekanntmachung unterlassen und infolge dessen den Zuschlag nicht an den im Einklang mit den Bestimmungen des Gesetzes ermittelten Bestbieter erteilt haben und daß sie durch Bieterverhandlungen den Gleichbehandlungsgrundsatz (§16 Abs1 BVergG 1997) verletzt haben. Dem im Verfahren von den ÖBB gestellten Antrag festzustellen, daß die antragstellende Gesellschaft auch bei Einhaltung der Bestimmungen des BVergG 1997 keine echte Chance auf Zuschlagserteilung gehabt hätte, wurde nur hinsichtlich zweier Verfahren (an denen die Antragstellerin nicht teilgenommen hatte) stattgegeben, im übrigen wurde er aber mit Spruchpunkt 6 des Bescheides abgewiesen. (Andere Anträge wurden als unzulässig zurückgewiesen.)
3. a) Gegen die Spruchpunkte 1 und 6 des Bescheides wendet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde der ÖBB an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes sowie des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides begehrt wird.
b) Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrt wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige (vgl. VfGH 26.2.2001, G43/00) - Beschwerde erwogen:
1. Beim Verfassungsgerichtshof sind bei Behandlung der Beschwerde Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit jener Wortfolge in §9 Abs1 Z1 des BVergG 1997 entstanden, durch die die gesetzliche Regelung des Vergabeverfahrens und des vergabespezifischen Rechtsschutzes für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung auf Aufträge beschränkt wird, deren geschätztes Auftragsvolumen einen bestimmten Betrag übersteigt. Der Verfassungsgerichtshof hat daher ein Gesetzesprüfungsverfahren betreffend die Wortfolge ", wenn der geschätzte Auftragswert ohne Umsatzsteuer mindestens 400 000 ECU," in §9 Abs1 Z1 BVergG 1997 eingeleitet; mit Erkenntnis vom 26. Februar 2001, G43/00, hat er ausgesprochen, daß die geprüfte Wortfolge verfassungswidrig war.
Diese Entscheidung hat aber keine Auswirkungen auf das Ergebnis des vorliegenden Bescheidprüfungsverfahrens, da es nach Lage des Falles ausgeschlossen ist, daß die beschwerdeführenden ÖBB durch den bekämpften Bescheid infolge Anwendung der als verfassungswidrig erkannten Wortfolge in ihrer Rechtssphäre nachteilig betroffen wurden. Das BVA hat seine Zuständigkeit zur Erlassung des in Teilen angefochtenen Bescheides bejaht. Die Nichtanwendung der geprüften und als verfassungswidrig qualifizierten Wortfolge in §9 Abs1 Z1 des BVergG 1997 hätte im vorliegenden Fall nichts an dieser Zuständigkeit und (im Hinblick auf die von der belangten Behörde konstatierten Rechtswidrigkeiten) am materiellen Prüfungsmaßstab geändert.
2. Die beschwerdeführenden ÖBB behaupten durch die in Anfechtung gezogenen Spruchpunkte des Bescheides in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit vor dem Gesetz sowie auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden zu sein.
Sub titulo Verletzung des Gleichheitssatzes wird den Annahmen des BVA entgegengetreten, die in Rede stehenden Beschaffungsvorgänge wären als wiederkehrende Leistungen anzusehen gewesen; die Entscheidung des BVA sei aufgrund mangelnder Beweiswürdigung sowie fehlender Begründung in wesentlichen Punkten "nicht nachvollziehbar" und belaste den Bescheid mit Willkür.
Sub titulo Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird dem BVA vorgeworfen, seine Vorlagepflicht gemäß Art234 Abs3 EG verletzt zu haben. Der aus Art2 Abs7 der Richtlinie des Rates 92/13/EWG entnommene Begriff des Vorliegens "einer echten Chance auf Zuschlagserteilung" sei auslegungsbedürftig, da sich sein Inhalt weder aus der Sektoren-Rechtsmittelrichtlinie noch aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts zweifelsfrei ableiten ließe. Aber auch zur Frage, ob im Falle von "getrennten Dienststellen eines öffentlichen Auftraggebers" eine andere Betrachtungsweise des für die Schwellenwertberechnung maßgeblichen Art14 der Richtlinie des Rates 93/38/EWG (geändert durch RL 98/4/EWG) zu erfolgen gehabt hätte, bestünde keine Rechtsprechung des EuGH. Der Begriff des "Vorliegens getrennter Dienststellen" eines öffentlichen Auftraggebers sei deshalb ebenso auslegungsbedürftig wie jener der "gleichartigen Lieferung" und des "regelmäßig wiederkehrenden Auftrags".
3. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 10.413/1985, 11.682/1988) vor, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.
Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch einen Bescheid einer Verwaltungsbehörde u.a. dann verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992), aber auch dann, wenn ein vorlagepflichtiges Tribunal seiner Vorlagepflicht nicht nachgekommen ist (vgl. VfSlg. 14.390/1995).
4. a) Was die gerügten Verletzungen der Vorlagepflicht gemäß Art234 Abs3 EG betrifft, so ist diesbezüglich festzuhalten, daß die von der beschwerdeführenden ÖBB behaupteten Auslegungsfragen (vgl. oben II.1.) für die bekämpften Spruchpunkte des Bescheides zum Teil gemeinschaftsrechtlich nicht entscheidungswesentlich waren und zum Teil Zweifelsfragen der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften gar nicht auftraten:
Mit dem vorliegenden Bescheid hat das BVA die Verletzung von grundlegenden Verhaltensanordnungen festgestellt (§§16 Abs1, 61 BVergG 1997) und ist dementsprechend davon ausgegangen, daß die Frage, ob ein übergangener Bieter eine echte Chance auf die Erteilung des Zuschlags gehabt hätte, gar nicht beantwortet werden kann.
Die von der beschwerdeführenden Gesellschaft aufgeworfenen Fragen der Auslegung der Begriffe "wiederkehrende Leistungen" und "gleichartige Lieferungen" bzw. die Frage danach, ob ein öffentlicher Auftraggeber im Falle einer innerorganisatorischen Trennung einzelner Beschaffungsbereiche vergaberechtlich anders zu beurteilen wäre, wurden vom BVA jedenfalls im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben unbedenklich beantwortet. Das diesbezügliche Beschwerdevorbringen übersieht, daß selbst dann, wenn man annimmt, daß für Vergaben der in Rede stehenden Art die gemeinschaftsrechtlichen Vergabevorschriften nicht anzuwenden sind, einer Erweiterung des Anwendungsbereichs bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in innerstaatliches Recht nichts entgegensteht.
b) Auch bestehen nicht nur keine gemeinschaftsrechtlichen, sondern auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken ob der ausreichenden Determinierung des Begriffs der "echten Chance" in §113 Abs3 BVergG 1997. Vor dem Hintergrund seiner ständigen Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Determinierung von unbestimmten Gesetzesbegriffen in wirtschaftsrechtlichen Vorschriften (vgl. etwa VfSlg. 8813/1980, 11.938/1988, S 734) sind beim Verfassungsgerichtshof insoweit keine Bedenken entstanden.
Bei Anwendung der die Begriffe der "wiederkehrenden Leistungen" bzw. "gleichartigen Lieferungen" enthaltenden Bestimmungen hat das BVA diesen aber auch keinen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt: Der vom BVA - auf Basis des festgestellten und aus den Verwaltungsakten nachvollziehbaren Sachverhaltes - eingehend begründeten Einordnung der beurteilten Beschaffungsvorgänge als regelmäßig wiederkehrende Lieferungen ist nicht entgegenzutreten.
c) Mit den weiters erhobenen Vorwürfen - insbesondere betreffend die Frage ausreichender Beweisermittlung - werden keine in die Verfassungssphäre reichenden Fehler geltend gemacht; eine verfassungswidrige Gesetzesanwendung kann dem BVA diesbezüglich nicht vorgeworfen werden. Das BVA hat seine Entscheidung plausibel und nachvollziehbar begründet und seine Entscheidung (wie auch die Verwaltungsakten erweisen) weder leichtfertig getroffen noch sonst Willkür geübt. Ob das Verfahren in jeder Hinsicht rechtmäßig geführt wurde und die materiell-vergaberechtlichen Fragen zutreffend beurteilt wurden, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen; und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen einen Bescheid des BVA - einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG - richtet, der beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. VfSlg. 10.565/1985, 10.659/1985, 12.697/1991).
5. Da das Verfahren sohin nicht ergeben hat, daß die beschwerdeführenden ÖBB in von ihnen geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurden und auch keine Verletzung in von ihnen nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder in Rechten wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen festgestellt werden konnte, war ihre Beschwerde abzuweisen.
6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Determinierungsgebot, EU-Recht Richtlinie, Vergabewesen, VfGH / Anlaßfall, Rechtsbegriffe unbestimmteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2001:B1061.1998Dokumentnummer
JFT_09988788_98B01061_00