Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichte Dr.Peter Scheuch (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Karl Dirschmied (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H*****, Arbeiter, ***** vertreten durch Dr.Karl Safron, Dr.Franz Großmann und Dr.Leopold Wagner, Rechtsanwälte in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1020 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versorgung mit Körperersatzstücken gemäß § 202 ASVG, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Oktober 1992, GZ 7 Rs 64/92-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 14.Feber 1992, GZ 35 Cgs 112/90-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 20.3.1933 geborene Kläger erlitt im Jänner 1976 (der genaue Tag ist nicht mehr feststellbar) einen Arbeitsunfall. Der Kläger erhielt dabei einen Schlag gegen die rechte Stirnseite oberhalb des rechten Auges. Dieser Unfall wurde der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt erst im Mai 1979 gemeldet, nachdem dem Kläger im Feber 1979 wegen einer Linsentrübung (grauer Star) die Linse des rechten Auges entfernt worden war. In den folgenden Jahren übernahm die Beklagte aufgrund der vom Kläger vorgelegten Rechnungen und Belege die Kosten der Beschaffung von Kontaktlinsen für das rechte Auge, die Kosten der Reinigung dieser Dauertragelinsen sowie auch der damit in Zusammenhang stehenden Fahrtkosten, wobei teilweise einfach die vom Kläger vorgelegten Rechnungen ohne weiteres Schreiben refundiert wurden und teilweise dem Kläger in formlosen Schreiben die Übernahme der begehrten Kosten mitgeteilt wurde. So teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 17.7.1981 mit, daß sie Kosten für eine Dauerkontaktlinse für ihn übernehme. Damals war unklar, ob der genannte Arbeitsunfall für die Augenerkrankung des Klägers überhaupt kausal war. Im Jahr 1989 wurde im Auftrag der Beklagten durch einen ärztlichen Sachverständigen die Unfallskausalität überprüft und zweifelsfrei abgelehnt. Der Sachverständige empfahl, die zu erwartende Pension abzuwarten und dann die weitere Übernahme der Kosten für die Neuverordnung bzw Erneuerung der Dauertragelinse abzulehnen; es müßten dann entsprechende Starbrillen getragen werden. Ein weiterer Augenfacharzt bestätigte das Fehlen der Unfallskausalität des Arbeitsunfalles für die Linsentrübung und wies im Hinblick auf Gefäßeinsprossungen an der Hornhaut auf eine Kontraindikation für das Tragen von Kontaktlinsen hin. Daraufhin lehnte die Beklagte mit (formlosem) Schreiben vom 19.4.1990 die weitere Übernahme von Kosten der Neubeistellung und der Reinigung von Kontaktlinsen für das rechte Auge sowie der damit in Zusammenhang stehenden Fahrtspesen ab. Der Kläger beantragte daraufhin die Ausfertigung eines Bescheides, worauf die Beklagte mit dem Bescheid vom 19.6.1990 den Anspruch auf weitere Übernahme der Kosten von Kontaktlinsen für das rechte Auge gemäß § 202 Abs 1 ASVG ablehnte. In der Begründung dieses Bescheides wurde ausgeführt, daß nach den eingeholten augenfachärztlichen Gutachten und Stellungnahmen keine Notwendigkeit bestehe, wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom Jänner 1976 Kontaktlinsen zu verwenden.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger rechtzeitig Klage mit dem Begehren, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihm die Kosten für die Anschaffung von Kontaktlinsen für das rechte Auge im bisherigen Ausmaß weiterhin zu ersetzen.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Unfall vom Jänner 1976 sei nicht geeignet gewesen, eine Linsentrübung oder die nun bestehende Linsenlosigkeit am rechten Auge des Klägers zu verursachen oder zu beschleunigen. Darüber hinaus bestehe auch eine Kontraindikation für das Tragen von Kontaktlinsen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, daß nicht nachweisbar sei, daß der Arbeitsunfall zu einer Traumatisierung des rechten Auges des Klägers führte. Damit sei aber auch ein Kausalzusammenhang zwischen der Augenerkrankung des Klägers (Linsenlosigkeit nach Staroperation, Hornhautepithelschaden und geringfügige Einsprossung oberflächlicher Gefäße in die Hornhaut) und dem Arbeitsunfalll nicht nachweisbar und auch nicht wahrscheinlich. Die Notwendigkeit des Tragens einer Kontaktlinse könne daher nicht auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden. Rechtlich folgerte das Erstgericht aus diesem Sachverhalt, daß dem Kläger die nun begehrten Leistungen seinerzeit zwar gewährt worden seien, daß die Beklagte diesbezüglich aber - entsprechend dem § 367 Abs 1 ASVG - keinen Bescheid erlassen habe. Da Unfallkausalität der Augenerkrankung des Klägers nicht festgestellt werden konnte, seien auch die damit zusammenhängenden Ansprüche des Klägers nicht berechtigt. Es handle sich auch nicht um die Entziehung einer bescheidmäßig zuerkannten Leistung, sondern um die bescheidmäßige Weigerung einer Weitergewährung von bisher ohne bescheidmäßige Grundlage erbrachten Leistungen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es sei nicht mehr strittig, daß der Arbeitsunfall vom Jänner 1976 für die Augenerkrankung des Klägers nicht kausal sei. Strittig sei nur noch, ob die in den Jahren 1980 bis 1989 vielfach erfolgte Übernahme der Kosten von Kontaktlinsen durch die Beklagte Bescheidcharakter gehabt habe und daher mit dem angefochtenen Bescheid eine bescheidmäßig zuerkannte Leistung - ohne Änderung des Sachverhaltes - entzogen worden sei oder ob es sich bei der Leistung um sogenannte Realakte ohne Bescheidcharakter gehandelt habe. Dem Kläger sei einzuräumen, daß fallweise formlose Schreiben eines Versicherungsträgers Bescheidcharakter haben könnten und rechtlich als Bescheide aufzufassen seien. Dies sei vor allem dann anzunehmen, wenn der Versicherungsträger über den Anspruch nach den gesetzlichen Bestimmungen nur durch Bescheid entscheiden konnte und aus dem Inhalt des Schreibens ein Entscheidungswille hervorgehe. § 367 Abs 1 ASVG unterscheide bei der Verpflichtung des Versicherungsträgers, einen Bescheid zu erlassen, zwischen den Leistungsansprüchen aus der Krankenversicherung und den diesen gleichartigen Ansprüchen aus der Unfallversicherung einerseits und den übrigen Leistungsansprüchen der Unfallversicherung und jenen der Pensionsversicherung andererseits. Hinsichtlich der ersten Gruppe von Ansprüchen, bei denen es sich durchwegs um kurzfristige, im Leben des Versicherten des öfteren entstehende Leistungsansprüche handle, solle ein Bescheid nur dann erteilt werden, wenn die beantragte Leistung ganz oder teilweise abgelehnt werde und der Anspruchswerber ausdrücklich einen Bescheid verlange. Die Übernahme der Kosten von Kontaktlinsen wegen einer operativen Entfernung der Linse sei eine Versorgung mit Körperersatzstücken im Sinne des § 202 Abs 1 und 2 ASVG, weshalb diesbezüglich nur dann ein Bescheid zu erlassen gewesen sei, wenn die Beklagte die vom Kläger begehrte Leistung ablehnte und der Kläger ausdrücklich die Erlassung eines Bescheides forderte. Mit dem angefochtenen Bescheid habe die Beklagte erstmals in einer der Rechtskraft fähigen Weise über den Anspruch des Klägers auf Beistellung von Körperersatzstücken entschieden. Die Beklagte habe daher nicht eine dem Kläger bescheidmäßig zuerkannte Leistung wieder entzogen, sondern erstmals durch Bescheid über den Anspruch abgesprochen. Die dem Kläger in den Jahren 1980 bis 1989 gewährten Sachleistungen seien als sogenannte Realakte ohne nähere Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen gewährt worden. Da unstrittig sei, daß zwischen der Augenerkrankung des Klägers und dem Arbeitsunfall kein kausaler Zusammenhang bestehe, habe das Erstgericht das Begehren des Klägers zutreffend abgewiesen. Es könne unerörtert bleiben, ob das Klagebegehren als Feststellungsbegehren oder im Sinne des § 82 Abs 3 Z 1 ASGG als Leistungsbegehren aufzufassen sei. Das Berufungsgericht sprach schließlich aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes 50.000 S nicht übersteige, daß die Revision aber nach § 46 Abs 1 Z 1 ASGG zulässig sei.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.
Der Kläger vertritt weiterhin die Auffassung, daß die Beklagte durch jahrelange Kostenübernahme für die Versorgung mit Körperersatzstücken und die wiederholt vorgenommene schriftliche Bestätigung des Zurechtbestehens dieses Anspruches ihren autoritativen Willen zum Ausdruck gebracht habe, im Rahmen der ihr zukommenden Befugnisse die Leistung im Sinn des § 202 ASVG zu erbringen. Daran ändere die Bestimmung des § 367 Abs 1 ASVG nichts. Die schriftliche Zusage der Kostenübernahme und auch die Bezahlung der zugesandten Rechnungen habe Bescheidcharakter. Die Beklagte hätte daher nur die Möglichkeit gehabt, die bescheidmäßig bereits zuerkannte Leistung gemäß § 99 ASVG wiederum zu entziehen. Dafür bestehe jedoch mangels Änderung des Sachverhaltes keine Handhabe. Im angefochtenen Bescheid sei der Anspruch auch nicht mangels Kausalität abgelehnt worden, sondern mit der Begründung, es bestehe keine Notwendigkeit für die Verwendung von Kontaktlinsen.
Dieser Auffassung ist nicht zu folgen. Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Der Leistungsentzug nach § 99 Abs 1 ASVG setzt eine wesentliche entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann ua in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft des Gewährungsbescheides der Entziehung entgegen. An dieser Änderung fehlt es regelmäßig dann, wenn bestimmte Leistungsvoraussetzungen nie vorhanden waren. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (SSV-NF 4/149 mwN; zuletzt 10 Ob S 330/92).
Der Revisionswerber übersieht, daß sich § 99 ASVG nur mit der Entziehung von Ansprüchen auf laufende Leistungen befaßt, d.s. Leistungen, die auf bestimmte oder unbestimmte Dauer gewährt und in regelmäßig wiederkehrenden Zeiträumen flüssig gemacht werden (EB 599 BlgNR 7. GP, 44; ebenso Teschner-Widlar ASVG MGA 53. ErgLfg 580 Anm 1 a zu § 99). Praktisch bedeutsam ist die Entziehung daher vor allem bei Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspensionen (Schrammel in Tomandl SV-System 5. ErgLfg 181), aber auch Versehrtenrenten. Gemäß § 202 Abs 1 ASVG hat der Versehrte Anspruch auf Versorgung mit Körpererstzstücken, orthopädischen Behelfen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder die Folgen des Arbeitsunfalles oder der Berufskrankheit zu erleichtern. Alle diese Hilfsmittel müssen den persönlichen und beruflichen Verhältnissen des Versehrten angepaßt sein. Wenn bei einem Arbeitsunfall ein Körperersatzstück, ein orthopädischer Behelf oder ein anderes Hilfsmittel schadhaft oder unbrauchbar wird oder verloren geht, hat der Träger der Unfallversicherung die Kosten für die Beseitigung des eingetretenen Schadens zu übernehmen (Abs 2). Solche Ansprüche sind ihrem Wesen nach keine Ansprüche auf laufende Leistungen, weil sie nicht auf bestimmte oder unbestimmte Dauer gewährt und nicht in regelmäßig wiederkehrenden Zeiträumen flüssig gemacht werden. Eine Kostenübernahme erfolgte auch im Fall des Klägers nur nach vorheriger Einreichung einer Rechnung etwa über den Ankauf (Nachkauf) einer Kontaktlinse. Solche Kostenübernahmen erfolgen auch nicht in regelmäßig wiederkehrenden Zeiträumen, sondern jeweils nach Bedarf. Selbst die Erlassung eines eine Leistung nach § 202 ASVG gewährenden Bescheides würde nicht über einen Anspruch auf eine laufende Leistung absprechen, sondern nur über die jeweils zu gewährende. Aus diesem Grunde bedarf es keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob die mehrfache schriftliche Zusage der Kostenübernahme und die Bezahlung zugesandter Rechnungen Bescheidcharakter besitze. Entscheidend ist vielmehr, daß die Beklagte niemals bescheidmäßig darüber abgesprochen hat, daß die beim Kläger bestehende Augenstörung die Folge eines Arbeitsunfalles sei (vgl § 82 Abs 5 ASGG). Die materielle Rechtskraftwirkung eines Bescheides erstreckt sich nämlich nur auf den Teil des Anspruches, über den abgesprochen wurde. Eine Bindung an die Entscheidung über Vorfragen besteht darüber hinaus nicht (vgl SZ 60/113 = SSV-NF 1/7 mwN). Schon daraus folgt, daß die Kausalitätsfrage im vorliegenden Fall neuerlich geprüft werden konnte, unabhängig davon, ob die Beklagte über die Ansprüche des Klägers nach § 202 ASVG einen Bescheid erlassen hatte oder nicht. Da die derzeit beim Kläger bestehende Linsenlosigkeit nicht auf den Arbeitsunfall zurückzuführen ist, besteht das Klagebegehren nicht zu Recht. Daß die Beklagte im angefochtenen Bescheid den Anspruch nicht mangels Kausalität, sondern aus einem anderen Grund ablehnte, ist nicht entscheidend: Das durch die Klage des Versicherten eingeleitete gerichtliche Verfahren ist kein Rechtsmittelverfahren und hat daher keine kontrollierende Funktion. Das Gericht prüft vielmehr selbständig den durch die Klage geltend gemachten sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch (Kuderna ASGG 357, 368; vgl auch SSV-NF 5/50).
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an den unterlegenen Kläger nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.
Anmerkung
E32521European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1993:010OBS00033.93.0318.000Dokumentnummer
JJT_19930318_OGH0002_010OBS00033_9300000_000