Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Werner Jeitschko (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Rudolf Schleifer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria R*****, vertreten durch Dr.Walter Pfliegler, Rechtsanwalt in Wien, gesetzlich vertreten durch den mit Beschluß des Bezirksgerichtes Liesing vom 14.Mai 1992, GZ 5 SW 50/91-9, bestellten einstweiligen Sachwalter, Dr.Heinrich Preiß, öffentlicher Notar, 1230 Wien, Breitenfurter Straße 282, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Hilflosenzuschusses infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27.Jänner 1992, GZ 33 Rs 167/91-23, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 23.Mai 1991, GZ 8 Cgs 296/90-14, abgeändert wurde, folgenden
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufungsbeantwortung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom 5. 10. 1990 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 31. 8. 1990 auf Hilflosenzuschuß ab, weil sie nicht hilflos iS des § 105a ASVG sei.
Die auf den abgelehnten Zuschuß ab Antragstag gerichtete Klage stützt sich darauf, daß der Klägerin aus gesundheitlichen Gründen die Durchführung der sich regelmäßig wiederholenden lebenswichtigen Verrichtungen nicht zumutbar sei.
Die Beklagte bestritt dies und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.
Die Klägerin war im erstinstanzlichen Verfahren nicht vertreten. Für das Rechtsmittelverfahren und das (allfällige) weitere Verfahren wurde ihr im Rahmen der Verfahrenshilfe ein Rechtsanwalt beigegeben.
Dem schriftlichen Befund und Gutachten des Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie vom 18.März 1991 ON 8 AS 15f ist zu entnehmen, daß der Gedankenablauf der Klägerin damals abspringend war, die Beschwerden jedoch ausreichend geordnet vorgebracht wurden. Sie war affektiv etwas labil, murmelte im Wartezimmer Wörter vor sich hin, dissimulierte jedoch halluzinatorische Erlebnisse. Der Sachverständige diagnostizierte einen schizophrenen Defektzustand mit einer psychotischen Denkstörung und eine leichte halluzinatorische Symptomatik, jedoch keine erhöhte Ängstlichkeit und führte aus, daß dieser Zustand auch im Zeitpunkt der Antragstellung (31. 8. 1990) bestanden habe. Die Klägerin könne sich zwar allein an- und auskleiden, waschen, einfache Speisen zubereiten, die kleine Leibwäsche waschen, den Ofen warten, den Wohnraum oberflächlich instandhalten und Nahrungsmittel einholen. Wegen ihres psychischen Zustandes sei jedoch fünfmal pro Woche eine Anleitung durch jeweils eine Stunde ratsam.
In der einzigen Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung vom 23. 5. 1991 ON 10 ergänzte der erwähnte Sachverständige, bei der Klägerin bestehe ein Restwahn iS von halluzinatorischen Erlebnissen (Stimmenhören). Sie lebe im Einklang mit ihren akustischen Sinnestäuschungen. Wegen ihres im Protokoll beschriebenen Verhaltens während der Tagsatzung - sie ging sprechend im Verhandlungssaal auf und ab und war nicht zu bewegen, sich zu setzen, zeigte einen ausgesprochen sprunghaften Gedankenablauf und sprach "nicht nachvollziehbar" davon, daß sie nicht aus Wien sei und eine höhere Pension, aber keine Heimhilfe und keine Betreuung wolle - hielt dieser Sachverständige nunmehr eine tägliche Betreuung während einer Stunde für zweckmäßig. Die Klägerin müsse bei den lebensnotwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens überwacht und bei der Zubereitung einer kompletten Mahlzeit angeleitet werden. Die notwendigen Medikamente müßten vorbereitet, ihre Einnahme müßte überwacht werden. Es genüge, wenn die Durchführung der lebenswichtigen Verrichtungen täglich einmal kontrolliert "und die nicht verrichteten Tätigkeiten dann von einer Hilfsperson durchgeführt würden". Diese könnte auch im Gefahrenfall wegen einer Einweisung rechtzeitig den Amtsarzt oder den psychosozialen Dienst kontaktieren.
Das Erstgericht verurteilte die Beklagte, der Klägerin den Hilfslosenzuschuß ab dem 31.August 1990 in gesetzlicher Höhe binnen vier Wochen zu gewähren.
Es stellte im wesentlichen fest, daß der am 7.Februar 1936 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 1. 10. 1968 die Invaliditätspension zuerkannt wurde, weil ihr wegen Schizophrenie keine geregelten Tätigkeiten mehr zugemutet werden konnten. Frühere Anträge auf Hilfslosenzuschuß wurden abgewiesen, weil die Klägerin trotz schizophrenen Defektzustandes und paranoider Ideen die täglich wiederkehrenden lebenswichtigen Verrichtungen noch ohne fremde Hilfe durchführen konnte. Derzeit leidet die Klägerin an einem schizophrenen Defektzustand mit psychotischer Denkstörung und leichter halluzinatorischer Symptomatik und befindet sich bei gewisser Aufregung in einem sehr erregten Zustand. "Sie muß täglich etwa eine Stunde in der Form betreut werden, daß die Verrichtungen des täglichen Lebens wie sich waschen, einfache Speisen zubereiten, aufräumen, insbesondere auch die Einnahme der erforderlichen Medikamente täglich überwacht werden. Sie ist zwar in der Lage einfache Speisen herzustellen, zur Herstellung einer kompletten Hauptmahlzeit benötigt sie aber eine Anleitung. Auch hinsichtlich der einmal täglich durchzuführenden Medikation ist es erforderlich, daß die Klägerin täglich überwacht wird. Eine ständige Überwachung der Klägerin bei der Durchführung der lebenswichtigen täglichen Verrichtungen ist nicht erforderlich, sondern eine einmal tägliche Kontrolle bei der dann die nicht verrichteten Tätigkeiten von einer Hilfsperson durchgeführt werden können bzw die Klägerin zur Durchführung angehalten werden kann."
Die Kosten einer Betreuung für 30 Stunden im Monat schätzte das Erstgericht mindestens in der Höhe des Hilflosenzuschusses ein, weshalb die Klägerin hilflos iS des § 105 (a) ASVG sei.
Das Berufungsgericht gab der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der Beklagten Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil durch Abweisung des Klagebegehrens ab.
Da die Klägerin zur Invaliditätspension die Ausgleichszulage beziehe, wäre ihr in den Jahren 1990 und 1991 ein Mindesthilflosenzuschuß von 2.644 S bzw. 2.776 S, unter Berücksichtigung der beiden Sonderzahlungen sogar von 3.085 S bzw 3.240 S mtl zugestanden. Auch wenn man der Berufungsbeantwortung folgen und weitere Kosten für die Überwachung und Betreuung veranschlagen wollte, würden diese die letztgenannten Beträge nicht erreichen.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Weil sich im vorliegenden Rechtsstreit gewichtige Anzeichen ergaben, daß die Klägerin wegen einer psychischen Krankheit ua ihre Angelegenheiten als Prozeßpartei nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermochte und daß die Voraussetzungen des § 273 ABGB vorliegen könnten, verständigte das Revisionsgericht mit Beschluß vom 12. 5. 1992, 10 Ob S 101/92 davon nach § 6a Satz 1 ZPO das Bezirksgericht Liesing als nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin zuständiges Pflegschaftsgericht (§ 109 Abs 1 JN). Nachdem dieses mitgeteilt hatte, daß es mit Beschluß vom 14. 5. 1992 5 SW 50/91-9 den öffentlichen Notar Dr.Heinrich Preiß zum einstweiligen Sachwalter ua auch für die Vertretung der Klägerin gegenüber Ämtern, Behörden u Sozialversicherungsträgern, also auch im vorliegenden Rechtsstreit, bestellt hat, ersuchte der Oberste Gerichtshof das Bezirksgericht Liesing mit Beschluß vom 7. 7. 1992, 10 Ob S 101/92, ein Gutachten eines ärztlichen Sachverständigen über den für die Beurteilung der Prozeßfähigkeit maßgeblichen Geisteszustand der Klägerin seit Beginn dieses Rechtsstreites einzuholen und den beiden Vertretern der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme, allenfalls Erörterung des Gutachtens zu geben.
Auf Grund des am 23. 2. 1993 ergänzten Gutachtens der Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie Dr.Brigitte Marx vom 19. 2. 1993, gegen das weder vom einstweiligen Sachwalter, noch von der Klägerin im Rahmen der Verfahrenshilfe beigegebenen Rechtsanwalt, noch von der Beklagten Einwände erhoben wurden, steht fest, daß die Klägerin wegen ihrer dem schizophrenen Formenkreis zuzuordnenden psychischen Erkrankung mit produktiven Phasen während des gesamten vorliegenden Verfahrens nicht fähig war, selbständig vor Gericht zu handeln. Sie war daher nicht prozeßfähig iS des § 1 ZPO und bedurfte eines gesetzlichen Vertreters. Aus dem für die Erreichung des Prozeßerfolges durchaus geeigneten Verhalten der Klägerin während des Rechtsstreites (Außerkraftsetzung des den Hilflosenzuschuß ablehnenden Bescheides durch eine Protokollarklage, Erscheinen bei den vom Gericht bestellten Sachverständigen, Beteiligung an der mündlichen Streitverhandlung, Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe und Beigabe eines Rechtsanwaltes für das durch die Berufung der Beklagten ausgelöste Rechtsmittelverfahren) ergibt sich weiters, daß es ihr nicht gänzlich am Gebrauch der Vernunft mangelte (§ 865 S 1 ABGB). Deshalb war der Mangel der Prozeßunfähigkeit und gesetzlichen Vertretung iS des § 6 Abs 2 ZPO behebbar. Er wurde dadurch beseitigt, daß für die Klägerin ein einstweiliger Sachwalter bestellt wurde, dessen Wirkungskreis sich auch auf den vorliegenden Rechtsstreit bezieht, dem er beigezogen wurde, und daß dieser gesetzliche Vertreter die bisherigen Prozeßhandlungen der Klägerin genehmigt hat (Fasching, ZPR2 Rz 352ff; Gitschthaler, Die Verständigungspflicht des § 6a ZPO idF des SachwG, JBl 1991, 291 [300f] mwN).
Deshalb war nicht die Nichtigkeit des von dem Mangel betroffenen Verfahrens auszusprechen (§ 7 Abs 1 ZPO), sondern über die nach § 46 Abs 3 ASGG selbst bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige Revision zu entscheiden.
Das Rechtsmittel ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der erkennende Senat hat schon in seiner Grundsatzentscheidung SSV-NF 1/46 die Beaufsichtigung des Pensionisten zu den Hilfstätigkeiten dritter Personen gezählt, die für die Beurteilung der Hilflosigkeit zu berücksichtigen sind. In der auch in SSV-NF 4/42 erwähnten E SSV-NF 2/32 wurde ausgesprochen, daß ein Versicherter, der zwar körperlich in der Lage wäre, die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst auszuführen, wegen seiner Kritik- und Antriebslosigkeit aber dazu angehalten werden muß, hilflos ist, wenn er zwar nicht rund um die Uhr, aber für die Überwachung der täglich dreimal nötigen Medikamenteneinnahme und zur Anleitung bei der Körperpflege und bei den Hausarbeiten, also praktisch zu allen lebensnotwendigen Verrichtungen, einer Pflegeperson bedarf. In der E SSV-NF 4/42 wurde darauf hingewiesen, daß die Beaufsichtigung und Anleitung ein Tätigwerden und Eingreifen eines Dritten umfaßt. Ein bloßes "Nachschauhalten" kommt dem nicht gleich (SSV-NF 5/33).
Würde die Klägerin seit der Antragstellung täglich nur während einer Stunde, monatlich daher nur während 30 Stunden fremde Hilfe brauchen, dann wäre sie iS der stRsp des erkennenden Senates (zB SSV-NF 5/41) noch nicht hilflos.
Die Revision weist jedoch zutreffend darauf hin, daß das Erstgericht den erwähnten Zeitaufwand nur unter der Voraussetzung als ausreichend angesehen hat, daß die Klägerin die einfachsten täglichen Verrichtungen selbst durchführt und die Hilfsperson neben der Kontrolle nur die schwierigeren Tätigkeiten, vor allem die Zubereitung einer kompletten Hauptmahlzeit, selbst erledigen muß. Dafür bieten die ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie in der Tagsatzung vom 23. 5. 1991 ON 10 AS 23 und die ihnen folgenden erstgerichtlichen Feststellungen ON 14 US 3f AS 35f einen Anhaltspunkt. Danach ist die Klägerin zwar in der Lage, einfache Speisen zuzubereiten, braucht aber sicher für eine komplette Mahlzeit Anleitung. Es genügt, wenn einmal täglich eine Kontrolle vorgenommen wird, bei der die (von der Klägerin) nicht verrichteten Tätigkeiten von einer Hilfsperson durchgeführt werden können oder die Klägerin zur Durchführung angehalten werden kann.
Die bisherigen Feststellungen reichen zu einer gründlichen Beurteilung, für wieviele Stunden im Monat die Klägerin seit der Antragstellung zur Verrichtung der lebenswichtigen Verrichtungen fremde Hilfe benötigen würde, nicht aus.
Es bedarf vielmehr genauerer Feststellungen darüber, welche lebensnotwendigen Verrichtungen die Klägerin infolge ihres psychischen Zustandes regelmäßig ohne Anleitung und welche Verrichtungen sie regelmäßig nur unter Anleitung ausführen kann - in diesen Fällen wären die näheren Umstände der Anleitung festzustellen - , sowie welche Verrichtungen sie regelmäßig trotz Anleitung nicht durchführen kann, so daß sie von einer Hilfsperson erledigt werden müssen.
Deshalb waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).
Sollte dem Klagebegehren stattgegeben werden, wäre die Leistung in einer bestimmten Höhe zuzusprechen, allenfalls iS des § 89 Abs 2 ASGG vorzugehen.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufungsbeantwortung und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E32531European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1993:010OBS00057.93.0415.000Dokumentnummer
JJT_19930415_OGH0002_010OBS00057_9300000_000