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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
AsylG 1997 §15 Abs1 idF 1999/I/004;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. B. Trefil, über die Beschwerde des F in W, geboren 1980, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25, gegen den am 3. November 2000 mündlich verkündeten Spruchpunkt I. und den am 7. September 2001 mündlich verkündeten Spruchpunkt III. des am 21. September 2001 schriftlich ausgefertigten Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 217.774/25-II/04/01, betreffend § 7 und § 15 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres),
Spruch
1. zu Recht erkannt:
Spruchpunkt I. (Abweisung der Berufung gemäß § 7 Asylgesetz 1997) wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
2. den Beschluss gefasst:
Soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. (Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 1. Juni 2002) richtet, wird sie als gegenstandslos geworden erklärt und das Verfahren eingestellt.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste am 28. April 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 2. Mai 2000 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 15. Mai 2000 gab er als Fluchtgrund an, sein Vater sei ein religiöser Moslem gewesen, der vor 7 1/2 Monaten von den Taliban ermordet worden sei. Die Taliban hätten auch dem Beschwerdeführer mit dem Umbringen gedroht; sie hätten geglaubt, dass er von einem Waffenversteck seines Vaters wisse, und bei ihm eine Hausdurchsuchung durchgeführt, aber nichts gefunden. Der Beschwerdeführer sei ins Gebirge geflüchtet, während sein Bruder seine Flucht organisiert und ihm einen Freund geschickt habe, der ihm bei der Flucht behilflich gewesen sei. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde er von den Taliban gefoltert, weil er Schiite und Hazara sei. Auf Vorhalt, es sei unglaubwürdig, dass die Taliban ihn verfolgt, seinen älteren Bruder aber unbehelligt gelassen hätten, gab der Beschwerdeführer an, dieser habe "die gleiche Adresse", er wohne "in der Nähe von unserem Haus", aber in einem "anderen Haus". Es könnte sein, dass auch der Bruder Schwierigkeiten bekomme.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 28. Juni 2000 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (in der Folge: AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei.
Der Beschwerdeführer erhob Berufung und brachte in der Folge in einem ergänzenden Schriftsatz vom 9. Oktober 2000 vor, die Taliban hätten die Adresse seines Bruders nicht gekannt, weshalb sie zuerst zum Beschwerdeführer gekommen seien. Sein Vater sei Mullah gewesen und vom Iran aus unterstützt worden. Man habe daher dem Beschwerdeführer unterstellt, Mitglied der Hezb-e Wahdat zu sein. Da die Hezb-e Wahdat ihre Kämpfer ausschließlich aus der Volksgruppe der Hazara rekrutieren würde, werde jeder Hazara verdächtigt, Mitglied der Hezb-e Wahdat zu sein.
Die belangte Behörde führte zunächst am 12. Oktober 2000 und am 3. November 2000 eine Berufungsverhandlung durch. Bei der zuletzt genannten Verhandlung sagte der Beschwerdeführer aus, er habe seit dem Tod seines Vaters nichts mehr von seinem Bruder gehört; es sei ihm von einem Freund des Bruders geholfen worden. Der Sachverständige für die politische Lage in Afghanistan, der schon in der Verhandlung am 12. Oktober 2000 ein Gutachten zur Lage der Hazara im Talibangebiet erstattet hatte, führte ergänzend aus, es bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass das Verbrechen des Vaters des Beschwerdeführers von den Taliban als so schwerwiegend gewertet würde, dass es durch dessen Ermordung nicht gesühnt sei. Darauf deute auch hin, dass der ältere Bruder des Beschwerdeführers im Zeitpunkt seiner Abreise aus Afghanistan dort unbehelligt leben und die Ausreise des Beschwerdeführers habe organisieren können. Der Sachverständige führte allerdings unter Hinweis auf eine Auskunft des UNHCR an die belangte Behörde vom 30. Oktober 2000 betreffend die unfreiwillige Rückkehr über afghanische Grenzübergänge, die von den Taliban kontrolliert würden, aus, die dabei erfolgende Kontrolle sei für Hazara "einer Krisensituation gleichzuhalten", in der die Taliban gegenüber den Hazara eine "gefährliche Haltung" einnehmen würden; daher gehe der Sachverständige jedenfalls bei Hazara weiterhin davon aus, dass diesen aufgrund ihrer "ethnischen Herkunft" im Falle ihrer Rückführung nach Afghanistan Inhaftierung und willkürliche Gewaltanwendung, wie in der Berufungsverhandlung am 12. Oktober 2000 näher geschildert, drohe.
Am 7. September 2001 führte die belangte Behörde eine weitere mündliche Berufungsverhandlung durch, in der der Sachverständige ein Gutachten zur Versorgungslage in Afghanistan erstattete.
Mit den in der Berufungsverhandlung vom 3. November 2000 mündlich verkündeten Spruchpunkten I. und II. des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.).
In der fortgesetzten Berufungsverhandlung vom 7. September 2001 verkündete die belangte Behörde einen Bescheid, mit dem sie dem Beschwerdeführer gemäß § 15 Abs. 1 und 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 1. Juni 2002 erteilte. Dieser Ausspruch ist in der schriftlichen Ausfertigung des angefochtenen Bescheides als Spruchpunkt III. bezeichnet.
In der gemeinsamen schriftlichen Ausfertigung dieser Entscheidungen begründete die belangte Behörde die Abweisung des Asylantrages damit, dass dem Beschwerdeführer "insbesondere hinsichtlich seines im Laufe des Asylverfahrens gesteigerten Vorbringens … nur eine eingeschränkte Glaubwürdigkeit beigemessen werden" könne, und führte in diesem Zusammenhang das "relativierte" Vorbringen des Beschwerdeführers zum Aufenthalt seines älteren Bruders im Heimatdorf an, das "erst in einem späten Verfahrensstadium - nachdem sich die zentrale (vom verfahrensrechtlichen Standpunkt des Berufungswerbers aus nachteilige) Relevanz dieses Vorbringenselements herausgestellt hatte", "gesteigert" worden sei. "Unter Zugrundelegung der schon vom Bundesasylamt als glaubhaft erachteten sowie der zunächst (d.h. bis zu dem am zweiten Termin der Berufungsverhandlung an ihn gerichteten Vorhalt) in der Berufungsverhandlung allein wiederholten Angaben" sei kein genügend sicherer Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der Beschwerdeführer gegenwärtig asylrelevant verfolgt werde (weder bestehe im Zeitpunkt dieser Ausführungen eine Gruppenverfolgung von Hazara, noch sei die geltend gemachte, auf den Vater des Beschwerdeführers bezogene Sippenhaftung - wenn der Bruder des Beschwerdeführers, so wie ursprünglich angegeben, zum Ausreisezeitpunkt des Beschwerdeführers noch am Heimatort aufhältig gewesen sei - wahrscheinlich). Refoulementschutz sei dem Beschwerdeführer zu gewähren gewesen, zumal die belangte Behörde die Gefahr, die einem Abgeschobenen im Zuge der zwangsläufig folgenden Einvernahme an der Grenze durch die Taliban drohe, "im Falle eines allgemein ethnisch - wenngleich unterhalb der asylrelevanten Schwelle - diskriminierten Hazara für real und gravierend" erachte. Der Beschwerdeführer wäre während des "kommenden afghanischen Winters" auch nicht in der Lage, in Afghanistan seine notdürftige wirtschaftliche Existenz sicherzustellen.
Gegen die Spruchpunkte I. und III. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
1. Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat (vgl. etwa das Erkenntnis vom 26. November 2003, Zl. 2002/20/0090).
2. Die belangte Behörde hat ausgeführt, dem Beschwerdeführer habe "insbesondere hinsichtlich seines im Laufe des Asylverfahrens gesteigerten Vorbringens in Bezug auf den ... Aufenthalt des älteren Bruder des Berufungswerbers noch zum Zeitpunkt der Ausreise" des Beschwerdeführers aus Afghanistan im Heimatdorf "nur eine eingeschränkte Glaubwürdigkeit beigemessen werden" können.
Wie die Beschwerde richtig aufzeigt, lassen diese Ausführungen nicht klar erkennen, inwieweit die belangte Behörde bei ihrer Entscheidung vom Vorbringen des Beschwerdeführers ausgegangen ist bzw. welche konkreten Feststellungen sie ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Sollte die belangte Behörde jenes Vorbringen des Beschwerdeführers als "gesteigert" ansehen, mit dem er auf den Vorhalt des Verhandlungsleiters in der Berufungsverhandlung vom 3. November 2000 - nach den Darlegungen des Sachverständigen spreche gegen eine auf Grund der Tätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers diesem seitens der Taliban drohende Gefahr insbesondere der Umstand, dass sein (älterer) Bruder noch nach der Ermordung des Vaters, jedenfalls noch zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers, unbehelligt leben habe können - antwortete, so ist die Wertung dieses Vorbringens als "gesteigert" nicht schlüssig begründet. Der Beschwerdeführer hat nämlich schon mit seinem Vorbringen in der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 15. Mai 2000 - sein Bruder habe alles organisiert, er wisse aber nicht, wieviel sein Bruder bezahlt oder woher der Bruder das Geld gehabt habe, sein Bruder habe einen Freund mitgeschickt, der die Gegend besser gekannt habe - zu erkennen gegeben, dass er in Afghanistan zu seinem älteren Bruder keinen unmittelbaren Kontakt hatte. Auch konnte der Beschwerdeführer eine Gefährdung seines Bruders durch die Taliban nicht ausschließen ("Es kann sein, dass mein älterer Bruder auch Schwierigkeiten bekommt"). In dieses Bild fügen sich die Angaben des Beschwerdeführers in der Berufungsverhandlung, er habe seit der Ermordung seines Vaters durch die Taliban nichts mehr von seinem Bruder gehört, dieser hätte schon seit vier Jahren nicht mehr mit "uns" zusammengelebt, und - wie der Beschwerdeführer bereits vor dem Bundesasylamt angegeben hatte - ein Freund seines Bruders habe ihm geholfen.
Die Wesentlichkeit dieses Begründungsmangels zeigt sich darin, dass die belangte Behörde die auf den Vater des Beschwerdeführers bezogene Sippenhaftung als nicht wahrscheinlich ansieht, "wenn der Bruder des (Beschwerdeführers), so wie ursprünglich angegeben, zum Ausreisezeitpunkt des (Beschwerdeführers) noch am Heimatort aufhältig war", und der Frage des Aufenthaltes des Bruders des Beschwerdeführers im Zeitpunkt dessen Ausreise aus Afghanistan somit wesentliche Bedeutung für die Verneinung einer individuellen Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers beigemessen hat.
Somit war Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
3. Die Beschwerde wendet sich auch gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides, mit dem dem Beschwerdeführer gemäß § 15 Abs. 1 und 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung (nur) bis zum 1. Juni 2002 erteilt worden ist.
Auf diesen Teil der Beschwerde kann nicht mehr eingegangen werden.
§ 15 Abs. 3 AsylG ordnete in seiner bis zum 30. April 2004 geltenden Fassung an, dass die nach dieser Gesetzesbestimmung zu erteilende befristete Aufenthaltsberechtigung zunächst "für höchstens ein Jahr und nach der zweiten Verlängerung für jeweils höchstens drei Jahre zu bewilligen" war. Die belangte Behörde hat zwar die - von ihr erstmalig erteilte - Aufenthaltsbewilligung mit dem 1. Juni 2002 befristet und damit die gesetzliche Maximalfrist von einem Jahr nicht ausgeschöpft, im vorliegenden Fall hätte aber die von der belangten Behörde erteilte erste Aufenthaltsbewilligung selbst im Falle der Ausschöpfung der gesetzlichen Maximalfrist nicht über den September 2002 hinausreichen können. Die Aufenthaltsbewilligung konnte in der Folge (auch mehrmals) verlängert werden, wobei es für die jeweils zulässige Dauer der verlängerten Bewilligung keine Rolle spielte, für welche Frist die erste Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde.
Der Beschwerdeführer - dessen Aufenthaltsbewilligung mehrmals durch das Bundesasylamt verlängert wurde (zuletzt mit Bescheid vom 26. August 2004 bis zum 23. August 2006) - könnte durch die Aufhebung des angefochtenen Bescheides nicht mehr günstiger gestellt werden, als dies ohne meritorische Erledigung seiner Beschwerde der Fall wäre. Da der Zeitraum, für den die erste Aufenthaltsberechtigung erteilt werden konnte, bereits verstrichen ist und sich die Rechtsstellung des Beschwerdeführers durch eine Aufhebung des Bescheides nicht zu seinem Vorteil ändern würde, kommt der Frage, für welche Frist die erste Aufenthaltsbewilligung zu erteilen war, nur mehr abstrakt-theoretische Bedeutung zu. In einem solchen Fall ist die Beschwerde in sinngemäßer Anwendung des § 33 Abs. 1 VwGG als gegenstandslos zu erklären und das Verfahren ist einzustellen (vgl. dazu den einen Abschiebungsaufschub nach § 56 Abs. 2 FrG 1997 betreffenden hg. Beschluss vom 19. November 2002, Zl. 2002/21/0054, mit weiteren Nachweisen).
Die Beschwerde war daher, soweit sie sich gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides richtete, als gegenstandslos zu erklären und das Verfahren insoweit einzustellen.
4. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Wien, am 30. März 2006
Schlagworte
Allgemein Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2006:2002200027.X00Im RIS seit
24.05.2006