Index
L8 Boden- und VerkehrsrechtNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Keine sachliche Rechtfertigung der Verpflichtung zur unentgeltlichen Grundabtretung zur Schaffung von Verkehrsflächen ohne Berücksichtigung eines angemessenen Verhältnisses der abzutretenden FlächeSpruch
§17 Abs4 lita der Bauordnung für Wien, LGBl. Nr. 11/1930 in der Fassung LGBl. Nr. 18/1976, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 28. Februar 2003 in Kraft.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.
Der Landeshauptmann von Wien ist verpflichtet, diesen Ausspruch unverzüglich im Landesgesetzblatt für Wien kundzumachen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1859/98 ein Beschwerdeverfahren anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
Im Zuge eines Verfahrens zur nachträglichen Baubewilligung eines konsenslos errichteten Kleingartenhauses beantragten die nunmehrigen Beschwerdeführer beim Magistrat der Stadt Wien die Bekanntgabe der Bebauungsbestimmungen für die Grundstücke Nr. 261/3 und Nr. 261/46, beide KG Neuwaldegg.
Im Bescheid vom 5. Juni 1997 über die Bekanntgabe der Bebauungsbestimmungen wurde vom Magistrat ua. eine Baulinie zu den beiden die Liegenschaft im Norden ("Eigenheimweg", öffentliche Verkehrsfläche) und im Südwesten ("Tiefauweg", Verkehrsfläche gemäß §53 der Bauordnung für Wien) begrenzenden, jeweils 6 m breiten Straßen bekannt gegeben. Auf der Grundlage dieses Bescheides wurde ein Teilungsplan für die betreffenden Grundstücke erstellt.
Die nunmehrigen Beschwerdeführer beantragten daraufhin mit Schreiben vom 4. August 1997 die Abteilung der Grundstücke Nr. 261/46 und Nr. 261/3, KG Neuwaldegg, zur Schaffung eines Bauplatzes "samt der damit verbundenen Abtretung an das Öffentliche Gut" sowie der Schaffung einer Verkehrsfläche gemäß §53 Bauordnung für Wien.
Mit Bescheid vom 30. September 1997 erteilte der Magistrat der Stadt Wien die beantragte Genehmigung zur Abteilung der angeführten Grundstücke. Gleichzeitig schrieb er den nunmehrigen Beschwerdeführern gemäß §17 Abs1 und 4 der Bauordnung für Wien (im Folgenden: BO für Wien) ua. die unentgeltliche und lastenfreie Abtretung einer im Teilungsplan als Teilstück 4 bezeichneten, 115 m² großen Fläche entlang der Baulinie am Eigenheimweg und deren Übergabe in den physischen Besitz der Stadt Wien zum Zweck der Vereinigung mit dem Grundstück Nr. 259/18 öffentliches Gut (Eigenheimweg) vor. Außerdem wurden die Beschwerdeführer in Punkt 2. und 3., 5.b und 5.c der Vorschreibungen dieses Bescheides gemäß §53 BO für Wien verpflichtet, das im Teilungsplan mit (261/3) bezeichnete, 91 m² große, provisorische Grundstück (Teilstück 2) entlang des Tiefauweges gemäß §53 BO für Wien straßenmäßig herzustellen und zu erhalten, zu reinigen und zu beleuchten, die notwendigen Einbauten herzustellen und zu erhalten, sowie auf diesem Grundstück den Durchgang und die Durchfahrt zu dulden. Weiters wurde ihnen die Ersichtlichmachung dieser Verpflichtungen im Grundbuch aufgetragen.
Gegen diesen Bescheid erhoben die nunmehrigen Beschwerdeführer mit Schreiben vom 5. November 1997 Berufung, in der sie behaupteten, sie hätten aufgrund des erstinstanzlichen Abteilungsbescheides mehr als die Hälfte ihres Grundstückes an das öffentliche Gut abzutreten. Die Verpflichtung zur unentgeltlichen Grundabtretung und zur Herstellung der Höhenlage auf den unentgeltlich abzutretenden Grundflächen sei zwar eine Anliegerverpflichtung, sie erfahre jedoch eine Grenze, soweit diese Verpflichtungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerstritten. Eine entschädigungslose Abtretung sei in ihrem Fall nicht vorgesehen; die Erstbehörde hätte eine Schadloshaltung aussprechen müssen.
Weiters brachten sie vor, sie bekämpften überhaupt die Anwendung von §17 Abs4 lita der BO für Wien, weil mit dem angefochtenen Bescheid ein Bebauungsplan vollzogen würde, der gegen den Gleichheitssatz und gegen das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums verstoße.
Sie bekämpften weiters die Verpflichtungen, die ihnen gemäß §53 BO für Wien durch den angefochtenen Bescheid auferlegt worden seien.
Mit Berufungsbescheid vom 11. August 1998 hob die belangte Behörde die angeführten Punkte 2., 3., 5.b und 5.c der Vorschreibungen des erstinstanzlichen Bescheides auf, da sie die Ansicht vertrat, Punkt 2. sei aufgrund seiner Formulierung einer Vollstreckung gemäß §53 Abs2 BO für Wien im Wege der Ersatzvornahme nicht zugänglich, die in Punkt 3. ausgesprochene Verpflichtung resultiere bereits unmittelbar aus der Tatsache, dass auch Straßen nach §53 BO für Wien straßenrechtlich öffentliche Straßen seien und die Punkte 5.b und 5.c stünden in untrennbarem inhaltlichem Zusammenhang mit den Vorschreibungen unter Punkt 2. und 3. Im Übrigen wurde der erstinstanzliche Bescheid bestätigt.
II. §17 Abs1 und 4 und §53 Abs1 und 3 der BO für Wien, idF LGBl. Nr. 18/1976, sowie §53 Abs2 der BO für Wien idF LGBl. Nr. 11/1930 lauten:
"§17
Grundabtretungen zu Verkehrsflächen bei Abteilungen im Bauland
(1) Bei Abteilung einer Grundfläche auf Bauplätze, Baulose oder Teile von solchen (§13 Abs2 lita und b) sind die nach Maßgabe der Baulinien zu den Verkehrsflächen entfallenden Grundflächen bei beiderseitiger Bebauungsmöglichkeit bis zur Achse der Verkehrsfläche, bei einseitiger Bebauungsmöglichkeit bis zur ganzen Breite der Verkehrsfläche, in beiden Fällen aber nur bis zu 20 m, senkrecht zur Baulinie und von dieser aus gemessen, gleichzeitig mit der grundbücherlichen Durchführung satz- und lastenfrei in das öffentliche Gut zu übertragen. Bei Bruchpunkten und bei Eckbildungen erstrecken sich diese Verpflichtungen auch auf die zwischen den Senkrechten gelegenen Grundflächen. Sind in den in das öffentliche Gut zu übertragenden Grundflächen Versorgungs- oder Entsorgungsleitungen für benachbarte Liegenschaften verlegt, hindern diese, sofern nicht öffentliche Interessen entgegenstehen, die Übertragung der Grundflächen in das öffentliche Gut nicht und können bis zur Herstellung der öffentlichen Versorgungs- oder Entsorgungsleitungen belassen werden. Über Auftrag der Behörde ist der jeweilige Eigentümer (Miteigentümer) des anliegenden Bauplatzes oder Bauloses bzw. eines Teiles von solchen weiters verpflichtet, diese Grundflächen lastenfrei und geräumt der Stadt Wien zu übergeben; bis zur Übergabe steht dem jeweiligen Eigentümer (Miteigentümer) des anliegenden, mit der Übergabeverpflichtung belasteten Bauplatzes, Bauloses bzw. eines Teiles von solchen das Nutzungsrecht zu. Grundflächen, die bebaut sind, dürfen nicht ins öffentliche Gut übertragen werden.
(...)
(4) Soweit die Verpflichtung zur Übertragung in das öffentliche Gut gemäß Abs1 besteht, sind hiebei entlang der Baulinien unentgeltlich abzutreten:
a) alle zu den neuen Verkehrsflächen entfallenden Grundflächen, wobei als neue Verkehrsflächen solche anzusehen sind, an die nach Maßgabe des festgesetzten Bebauungsplanes erstmals angebaut werden soll,
b) die zur Verbreiterung bestehender Verkehrsflächen entfallenden Grundflächen bei Abteilung einer Grundfläche, die bisher unbebaut war und als Bauplatz beziehungsweise als Baulos noch nicht behördlich genehmigt worden ist.
(...)"
"§53
Verpflichtung der Anlieger zur Herstellung und Erhaltung
von Straßen
(1) Dienen neue Verkehrsflächen, die auf Antrag eines Eigentümers (aller Miteigentümer) einer Liegenschaft im Bebauungsplan festgesetzt werden sollen, lediglich der besseren Aufschließung seiner (ihrer) Grundfläche, kann anläßlich der Festsetzung des Bebauungsplanes angeordnet werden, daß diese Verkehrsflächen von den Eigentümern (Miteigentümern) der anliegenden Bauplätze oder Baulose nach den Anordnungen der Gemeinde hergestellt, erhalten, gereinigt, beleuchtet und ebenso die notwendigen Einbauten hergestellt und erhalten werden.
(2) Kommen die Eigentümer diesen Verpflichtungen nicht nach und wird die Leistung nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften im Wege der Ersatzvornahme durchgeführt, so werden die Kosten der Ersatzvornahme unbeschadet des Rückgriffsrechtes der Eigentümer untereinander auf die einzelnen Eigentümer nach den Frontlängen der Baulinien aufgeteilt.
(3) Übernimmt die Gemeinde diese Verpflichtungen, haben die Eigentümer (Miteigentümer) die zur Verkehrsfläche entfallenden Grundflächen ohne Anspruch auf Entschädigung vorher an die Gemeinde abzutreten."
III. 1. Aus Anlass dieser Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof am 28. September 2001 gemäß Art140 Abs1 B-VG beschlossen, die Verfassungsmäßigkeit des §17 Abs4 lita der BO für Wien, LGBl. Nr. 11/1930 in der Fassung LGBl. Nr. 18/1976, vom Amts wegen zu prüfen.
2. In seinem Prüfungsbeschluss ging der Verfassungsgerichtshof vorläufig davon aus, dass die Beschwerde zulässig ist, die belangte Behörde bei Erlassung des angefochtenen Bescheides §17 Abs4 lita BO für Wien angewendet hat und dass daher auch der Verfassungsgerichtshof bei seiner Entscheidung über die Beschwerde diese Bestimmung anzuwenden hätte.
3. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des §17 Abs4 lita BO für Wien sind folgende Bedenken entstanden:
"(...) Das verfahrensgegenständliche Grundstück der Beschwerdeführer ist im Flächenwidmungs- und Bebauungsplan des Gemeinderates der Stadt Wien vom 24. November 1994, Plandokument 6536, als "Bauland - Wohngebiet" gewidmet. Es handelt sich dabei um ein Eckbaugrundstück, das durch die Festlegungen im Flächenwidmungs- und Bebauungsplan im Norden durch den als öffentliche Verkehrsfläche ausgewiesenen Eigenheimweg (öffentliches Gut), im Südwesten im spitzen Winkel durch den als Verkehrsfläche gemäß §53 BO für Wien ausgewiesenen Tiefauweg begrenzt ist. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde den Beschwerdeführern gemäß §17 Abs1 und 4 lita der BO für Wien anlässlich einer Grundabteilung ua. die unentgeltliche und lastenfreie Abtretung einer 115 m² großen, entlang der Baulinie zum Grundstück Nr. 259/18 (öffentliches Gut, Eigenheimweg) entfallenden Grundfläche vorgeschrieben.
(...) Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg. 3475/1958 unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Grundrechtes auf Unversehrtheit des Eigentums ausgesprochen, dass eine Grundabteilung grundsätzlich einen sachlichen Anlass für den Gesetzgeber abgeben kann, anzuordnen, dass bestimmte Grundstücksteile für die öffentlichen Verkehrsflächen unentgeltlich abzutreten sind; eine gewisse Schadloshaltung liege nämlich in der Natur der Sache, denn dem Wert des abzutretenden Grundes stünden die so genannten 'Aufschließungsvorteile' gegenüber, die jede Neuanlage einer Verkehrsfläche für die angrenzenden Grundstücke mit sich bringe. Dazu gehörten insbesondere auch die Werterhöhungen, die diese Grundstücke durch die Neuanlage von Verkehrsflächen erführen. Der Wert dieser Aufschließungsvorteile werde zwar selten mit dem Wert der abzutretenden Grundfläche genau übereinstimmen, es würden Überschneidungen nach der einen oder nach der anderen Richtung vorkommen. In Bezug auf §17 Abs4 der BO für Wien hat der Verfassungsgerichtshof dann angenommen, dass sich diese Überschneidungen in Grenzen halten, die es rechtfertigen, aus Gründen der Verwaltungsökonomie von der Einrichtung eines Verfahrens zum Zwecke einer genauen Kompensation Abstand zu nehmen. In seinem Erkenntnis VfSlg. 6770/1972 hat der Verfassungsgerichtshof einen ähnlichen Standpunkt bezüglich der Verpflichtung zur Gehsteigherstellung gemäß §54 der BO für Wien eingenommen.
(...) Der Verfassungsgerichtshof geht nun aber vorläufig davon aus, dass diese Erwägungen auf den vorliegenden Fall nicht zutreffen. Das Grundstück der Beschwerdeführer stellt ein Eckbaugrundstück dar; durch die Festlegung der beiden das Grundstück begrenzenden öffentlichen Verkehrsflächen im Flächenwidmungs- und Bebauungsplan, PD 6536, und die daraus im Endeffekt resultierende Abtretungs- bzw. Herstellungs- und Erhaltungsverpflichtung ergibt sich für die Beschwerdeführer die Einbuße einer Grundfläche von insgesamt 206 m² (115 m² entlang des Eigenheimweges, 91 m² entlang des Tiefauweges) bei einer nach dem Grundbuchstand ursprünglichen Grundstücksgröße von 546 m². Die Beschwerdeführer müssen zwar auf Grund des angefochtenen Bescheides nur den auf den Eigenheimweg entfallenden Grundstücksteil im Ausmaß von 115 m² abtreten, jedoch besteht für den auf den Tiefauweg entfallenden Grundstücksteil im Ausmaß von 91 m² für die Beschwerdeführer die potentielle Verpflichtung zur Herstellung, Erhaltung und Duldung der Benützung der öffentlichen Verkehrsfläche. Im Fall der Übernahme dieser Verpflichtungen durch die Gemeinde droht die Abtretungsverpflichtung gemäß §53 Abs3 BO für Wien.
(...) Der Verfassungsgerichtshof hegt vorläufig das Bedenken, dass die in Prüfung gezogene Gesetzesstelle aus den nachstehend ausgeführten Gründen dem Gleichheitsgebot widerspricht:
Wie der Verfassungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat (zur 'Sonderopfer-Theorie' vgl. zB. VfSlg. 10.841/1986), ist es grundsätzlich als verfassungswidrig anzusehen, wenn durch eine entschädigungslose Enteignung mehreren Personen zwar gleiche Vorteile, aber nicht auch gleiche Vermögenseinbußen entstehen.
In den Erkenntnissen zum Kärntner Wohnsiedlungsgesetz (VfSlg. 6884/1972) und zum Tiroler Wohnsiedlungsgesetz (VfSlg. 7234/1973) erblickte der Verfassungsgerichtshof eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes in der vermögensmäßigen Belastung von Grundstückseigentümern durch die Verpflichtung zur unentgeltlichen Grundabtretung zum Zweck des Straßenbaues, weil - und wenn - damit allen Anrainern Aufschließungsvorteile erwachsen, aber nur abtretungspflichtige Grundeigentümer dafür (außer Verhältnis zu dem ihnen zukommenden Vorteil stehende) Vermögenswerte hingeben müssen. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes, der unter Hinweis auf seine Judikatur davon ausging, dass der Gleichheitsgrundsatz dem Gesetzgeber verbietet, Differenzierungen zu schaffen, die sachlich nicht begründbar sind, war es in diesen Fällen durchaus zu rechtfertigen, dass gerade der Grundstückseigentümer einer bestimmten Liegenschaft zur Abtretung verhalten wurde, es gab aber nach den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes keine sachliche Begründung dafür, dass die Abtretung ohne Entschädigung erfolgen muss, dass also eine Vermögenseinbuße in unterschiedlichem Umfang (nicht bloß eine Vermögensumschichtung) statuiert wird, sodass der eine mehr, der andere weniger oder gar kein Vermögen an Gegenwert für die Aufschließungsvorteile hingeben muss.
Der hinter der geschilderten 'Sonderopfer-Theorie' stehende, aus dem Gleichheitssatz abgeleitete Gedanke kommt auch in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs zu den Benützungsgebühren zum Ausdruck: Die gesamtzulässigen Gebühren müssen auf die einzelnen Gebührenpflichtigen (etwa: die Benützer einer Kanalisationsanlage) nach sachlichen Kriterien verteilt werden (vgl. VfSlg. 7583/1975, 11.172/1986). Ihre Festsetzung muss in einer sachgerechten Beziehung zum Ausmaß der Benützung stehen; die Tarife können typisierend festgelegt werden, wenn die tatsächlichen Inanspruchnahmen durch die Benützer - im Sinne einer Durchschnittsbetrachtung: im Großen und Ganzen - miteinander vergleichbar sind (vgl. VfSlg. 13.310/1992).
(...) Der Verfassungsgerichtshof hegt nun aus Anlass des zugrundeliegenden Beschwerdefalles vorläufig das Bedenken, dass die uneingeschränkte Verpflichtung gemäß §17 Abs4 lita der BO für Wien, bei Abteilung einer Grundfläche auf Bauplätze alle zu neuen Verkehrsflächen entfallenden Grundflächen nach Maßgabe der Baulinien unentgeltlich in das öffentliche Gut zu übertragen, insofern sachlich nicht gerechtfertigt ist, als sie eine unentgeltliche Grundabtretung auch für solche Fälle verlangt, in denen die abzutretende Fläche in keinem angemessenen Verhältnis zur Größe des Bauplatzes steht. Diese Regelung dürfte - wie der vorliegende Fall zeigt (vgl. I/5.) - beispielsweise zu einer Benachteiligung der Eigentümer von Eckbauplätzen im Vergleich zu Anliegern, deren Grundstück an nur eine öffentliche Verkehrsfläche angrenzt, führen.
Wenn auch, wie der Verfassungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, im Falle der Erschließung eines Grundstückes einer unentgeltlichen Grundabtretungsverpflichtung typischerweise auch 'Aufschließungsvorteile' gegenüberstehen, die ungeachtet möglicher damit verbundener Belästigungen die Neuanlage einer Verkehrsfläche für die angrenzenden Grundstücke mit sich bringt, so ist der Verfassungsgerichtshof vorläufig der Ansicht, dass dies im Falle einer ein bestimmtes Ausmaß übersteigenden Abtretungsverpflichtung (etwa im Falle mehrerer Fronten eines Bauplatzes) nicht zutrifft.
Wenn also beispielsweise ein Grundeigentümer (wie hier der an mehreren Seiten seines Grundstückes betroffene Eigentümer eines Eckbauplatzes) - sei es durch die Verpflichtung zur unentgeltlichen Grundabtretung zur Herstellung einer öffentlichen Verkehrsfläche, sei es auch teils durch die Verpflichtung zur Herstellung und Erhaltung einer öffentlichen Verkehrsfläche durch den Grundeigentümer selbst - eine Flächeneinbuße erleidet, die ein gewisses - gerade noch typisches - Prozentausmaß übersteigt, als Gegenwert für die Hingabe seines Vermögens aber durchschnittlich - nur - die gleichen Aufschließungsvorteile wie die übrigen Anlieger (hier: die Anlieger, deren Bauplatz an lediglich eine öffentliche Verkehrsfläche angrenzt) erhält, dürfte dieser gegenüber jenen ohne sachliche Begründung benachteiligt sein.
Der Verfassungsgerichtshof ist weiters vorläufig der Meinung, dass §17 Abs4 lita der BO für Wien - angesichts seines eindeutig gegenteiligen Wortlautes - eine verfassungskonforme Interpretation in der Weise, dass dem Grundeigentümer bei einer Abtretungsverpflichtung dieses Ausmaßes (hier: an mehreren Fronten eines Bauplatzes) eine Entschädigung für die - im Hinblick auf die Aufschließungsvorteile im Vergleich zu den anderen Anliegern 'überproportionale' - Hingabe seines Vermögens gebührt, nicht zulässt.
Eine Regelung wie die in ihrem angenommenen präjudiziellen Umfang in Prüfung gezogene dürfte nach der vorläufigen Ansicht des Verfassungsgerichtshofes daher eine unverhältnismäßige unentgeltliche Abtretungsverpflichtung ermöglichen und gegen das Gleichheitsgebot verstoßen."
4. Die Wiener Landesregierung erstattete im Gesetzesprüfungsverfahren eine Äußerung, in der sie den Bedenken des Verfassungsgerichtshofes mit folgenden Argumenten entgegentritt:
"Das Anlegen öffentlicher Verkehrsflächen liegt unbestreitbar im öffentlichen Interesse. Die Anliegerverpflichtung zur unentgeltlichen Abtretung der zu neuen Verkehrsflächen entfallenden Grundflächen gemäß §17 Abs4 lita BO dient dem genannten Zweck und ist nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes - wie auch in dem gegenständlichen Prüfungsbeschluss zum Ausdruck kommt - grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich, da gleichsam als Gegenleistung 'Aufschließungsvorteile' für die angrenzenden Grundstücke gegeben sind. Diese Aufschließungsvorteile bestehen in der Einräumung so genannter 'Frontrechte'. Darunter ist gemäß §10 Abs2 BO nicht nur das Recht zu verstehen, vor der bekannt gegebenen Baulinie Anschlüsse an die in den Verkehrsflächen liegenden Straßenkanäle und öffentlichen Versorgungsleitungen herzustellen, sondern insbesondere auch das Recht, an ihr Fenster und vor ihr die nach §83 Abs1 BO zulässigen Vorbauten herzustellen sowie Ein- und Ausgänge und, wenn der Bebauungsplan nicht anderes bestimmt, Ein- und Ausfahrten anzuordnen.
Es kann nun kein Zweifel bestehen, dass dem Eigentümer eines Eckbauplatzes aus der Möglichkeit, nicht nur an einer einzigen, sondern an zwei Gebäudefronten Fenster herzustellen und damit natürlich belichtete Aufenthaltsräume (vgl. §88 Abs1 BO) zu schaffen, erhebliche Vorteile erwachsen. Diese bestehen vor allem darin, dass durch den Einbau von Fenstern an mehreren Fronten die bauliche Ausnützbarkeit wesentlich gesteigert wird, da eine höherwertige Nutzung (Schaffung von Räumen für Aufenthaltszwecke) des zu errichtenden Gebäudes möglich sind. Damit wird auch der Gestaltungsspielraum in architektonischer Hinsicht enorm gesteigert. Ein Gleiches gilt für die Rechte, gemäß §83 Abs1 BO mit bestimmten Gebäudeteilen vor die Baulinie zu ragen sowie Ein- und Ausgänge bzw. Ein- und Ausfahrten anzuordnen und damit eine größere Freiheit der Gestaltung des Gebäudes zu erreichen.
Wenn den Eigentümer eines Eckbauplatzes somit eine gegenüber den Eigentümern anderer Bauplätze erhöhte Abtretungsverpflichtung trifft, so werden ihm damit auch ungleich höhere Aufschließungsvorteile zuteil.
Dazu kommt, dass die Annahme nicht zutrifft, die übrigen Grundeigentümer würde eine im Vergleich zum Eigentümer von Eckbauplätzen geringe Abtretungsverpflichtung treffen. Diese ist gemäß §17 Abs1 erster Satz BO generell mit 20 m beschränkt. Dies bewirkt, dass auch die übrigen, nicht an Eckbauplätzen gelegenen Grundeigentümer je nach Breite der Verkehrsfläche bis zu 20 m breite Flächen abtreten müssen.
Die Wiener Landesregierung ist daher nicht der Auffassung, dass im vorliegenden Fall eine im Vergleich zu den übrigen Anliegern überproportionale Hingabe von Grund und Boden bewirkt wird.
Es wird daher der Antrag gestellt, der Verfassungsgerichtshof wolle aussprechen, dass §17 Abs4 lita BO nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird.
Für den Fall, dass der Verfassungsgerichtshof jedoch die Aufhebung dieser Bestimmung ausspricht, wird die längstmögliche Frist für das Außerkrafttreten beantragt."
IV. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die vorläufigen Annahmen, dass das Beschwerdeverfahren, das Anlass zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens gegeben hat, zulässig ist und dass der Verfassungsgerichtshof bei seiner Entscheidung über die Beschwerde §17 Abs4 lita BO für Wien anzuwenden hätte, haben sich als zutreffend erwiesen.
2. Auch die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmungen treffen zu:
Der Verfassungsgerichtshof hatte in seinem Prüfungsbeschluss angenommen, dass die uneingeschränkte Verpflichtung gemäß §17 Abs4 lita der BO für Wien, bei Abteilung einer Grundfläche auf Bauplätze alle zu neuen Verkehrsflächen entfallenden Grundflächen nach Maßgabe der Baulinien unentgeltlich in das öffentliche Gut zu übertragen, insofern sachlich nicht gerechtfertigt ist, als sie eine unentgeltliche Grundabtretung auch für solche Fälle verlangt, in denen die abzutretende Fläche in keinem angemessenen Verhältnis zur Größe des Bauplatzes steht. Die Wiener Landesregierung versucht dieser Annahme des Verfassungsgerichtshofes nur teilweise, und zwar für den Fall einer übermäßigen Grundabtretungsverpflichtung aufgrund eines Eckbauplatzes, entgegenzutreten:
Sie bringt in ihrer Äußerung vor, dass das Anlegen öffentlicher Verkehrsflächen im öffentlichen Interesse liege und dem Verpflichteten als Gegenleistung für die unentgeltliche Grundabtretung Aufschließungsvorteile in der Form von "Frontrechten" eingeräumt seien. Diese bestünden in dem Recht, vor der bekannt gegebenen Baulinie Anschlüsse an Straßenkanäle und öffentliche Versorgungsleitungen sowie die nach §83 Abs1 BO für Wien zulässigen Vorbauten herzustellen, dem Recht, Ein- und Ausgänge, sowie, wenn der Bebauungsplan nichts anderes bestimmt, Ein- und Ausfahrten anzuordnen, und dem Recht, an der bekannt gegebenen Baulinie Fenster herzustellen. Dem Eigentümer eines Eckbauplatzes würden aus diesen Rechten erhebliche Vorteile erwachsen, welche in einer erhöhten baulichen Ausnützbarkeit und einem gesteigerten architektonischen Gestaltungsspielraum bestünden; damit würden diesem bei einer erhöhten Abtretungsverpflichtung gegenüber den Eigentümern anderer Bauplätze auch ungleich höhere Aufschließungsvorteile zuteil.
Die Wiener Landesregierung vermag mit diesen Argumenten jedoch letztlich die im Einleitungsbeschluss geäußerten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes gegen die in Prüfung gezogene Bestimmung nicht zu zerstreuen:
Auch wenn davon auszugehen ist, dass die Anlage öffentlicher Verkehrsflächen im öffentlichen Interesse liegt und dass der zur Abtretung verpflichtete Grundeigentümer "Aufschließungsvorteile" erhält, so lässt sich mit diesen Argumenten nur die grundsätzliche Verpflichtung zur unentgeltlichen Grundabtretung begründen, nicht jedoch die Verpflichtung zur Abtretung in jeglichem Ausmaß ohne Entschädigung. Selbst wenn man, ungeachtet möglicher, mit der Neuanlage einer Verkehrsfläche zusätzlich verbundener Belästigungen, in Betracht zieht, dass dem Eigentümer eines Eckbauplatzes in Folge des Frontrechtes an zwei Seiten höhere Aufschließungsvorteile zukommen, als dem Eigentümer eines Grundstückes, das nur an einer Seite an eine öffentliche Verkehrsfläche angrenzt, so müsste die erhöhte unentgeltliche Abtretungsverpflichtung in Relation zur Erhöhung der Aufschließungsvorteile stehen. Die in Prüfung gezogene Regelung hingegen ermöglicht eine unentgeltliche Grundabtretungsverpflichtung auch in einem weit über die Aufschließungsvorteile hinausgehenden Ausmaß, weil sie - abgesehen von der Begrenzung auf eine Breite von 20 m - eine überproportionale unentgeltliche Grundabtretungsverpflichtung nicht ausschließt.
Es treffen daher die vom Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Einleitungsbeschluss geäußerten Bedenken zu, dass die in Prüfung gezogene Bestimmung keine Vorsorge für den Fall trifft, dass ein Grundeigentümer, welcher durch eine Verpflichtung zur unentgeltlichen Grundabtretung eine Flächeneinbuße erleidet, die ein gewisses - gerade noch typisches - Prozentausmaß im Verhältnis zur Größe seines Bauplatzes übersteigt, als Gegenwert für die Hingabe seines Vermögens aber durchschnittlich - nur - die gleichen Aufschließungsvorteile wie die übrigen Anlieger erhält. Durch diese Ermöglichung einer unverhältnismäßigen Verpflichtung zur unentgeltlichen Abtretung verstößt die Regelung jedoch gegen das Gleichheitsgebot.
Der Verfassungsgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf landesgesetzliche Bestimmungen anderer Bundesländer, in denen Beschränkungen der Unentgeltlichkeit derartiger Grundabtretungsverpflichtungen vorgesehen sind, wenn die abzutretende Grundfläche ein bestimmtes Prozentausmaß der Grundstücksfläche übersteigt.
Auch der Hinweis der Wiener Landesregierung darauf, dass auch die übrigen, nicht an Eckbauplätzen gelegenen Grundeigentümer je nach Breite der Verkehrsfläche bis zu 20 m breite Flächen abtreten müssen, ist nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes nicht geeignet, die dargestellte Differenzierung sachlich zu rechtfertigen. Auch im Falle einer Verpflichtung zur Grundabtretung an nur einer Straßenfront bietet die in Prüfung gezogene Bestimmung keine Vorsorge für den Fall, dass der Grundeigentümer - gemessen an den ihm dafür durchschnittlich zukommenden Aufschließungsvorteilen - einen völlig außer Verhältnis stehenden Anteil seines Bauplatzes unentgeltlich abtreten muss.
Es ist der Wiener Landesregierung insgesamt nicht gelungen, die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes gegen §17 Abs4 lita BO für Wien zu zerstreuen. Der Verfassungsgerichtshof vermag keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, dass die in Prüfung gezogene Bestimmung eine unentgeltliche Grundabtretung auch für solche Fälle verlangt, in denen die abzutretende Fläche in keinem angemessenen Verhältnis zur Größe des Bauplatzes steht.
§17 Abs4 lita BO für Wien war daher als verfassungswidrig aufzuheben.
3. Um allfällige legistische Vorkehrungen zu ermöglichen, hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten der als verfassungswidrig erkannten Gesetzesbestimmung den Ablauf des 28. Februar 2003 bestimmt.
Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz
B-VG.
4. Die Verpflichtung des Landeshauptmannes von Wien zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aufhebung ergibt sich aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefasst werden.
Schlagworte
Baurecht, Grundabtretung, VerkehrsflächenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2002:G342.2001Dokumentnummer
JFT_09979772_01G00342_00