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19/05 Menschenrechte;Norm
MRK Art8;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):2003/21/0063Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Thurin, über die Beschwerden des E und des S, beide vertreten durch die Mutter A, diese vertreten durch Dr. Gottfried Waibel, Rechtsanwalt in 6850 Dornbirn, Schulgasse 7, gegen die Bundesministerin für Inneres wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in einer Angelegenheit Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Gemäß § 42 Abs. 4 VwGG iVm § 66 Abs. 4 AVG wird den Berufungen der Beschwerdeführer gegen die Bescheide der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn vom 15. Juni 2001 je zur Zl. III- 1454-442/1993 Folge gegeben und den Beschwerdeführern gemäß § 46 Abs. 4 iVm § 73 Abs. 1 und 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG je eine "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" mit einer Gültigkeit bis 1. Dezember 2006 erteilt.
Die Behörde erster Instanz wird aufgefordert, die Aufenthaltstitel auszustellen und den Beschwerdeführern auszuhändigen.
Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von je EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit den zitierten Bescheiden hat die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn die Anträge der Beschwerdeführer, türkische Staatsangehörige, auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck Familiengemeinschaft gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 des (bis 31. Dezember 2005 in Geltung gestandenen) Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, abgewiesen. Gemäß dieser Bestimmung ist die Erteilung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels zu versagen, wenn der Aufenthaltstitel zeitlich an den durch ein Reise- oder Durchreisevisum ermöglichten Aufenthalt anschließen und nach der Einreise erteilt werden soll.
Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer bei der erstinstanzlichen Behörde am 4. Juli 2001 Berufungen. Wegen Nichterledigung dieser Berufungen durch den dafür zuständigen Bundesminister für Inneres (§ 94 Abs. 4 FrG) brachten die Beschwerdeführer am 24. Juni 2002 und 2. Mai 2003 Säumnisbeschwerden ein. Durch das ergebnislose Verstreichen der zur Nachholung der versäumten Bescheide gesetzten Frist ist die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Berufungen der Beschwerdeführer gegen die genannten Bescheide auf den Verwaltungsgerichtshof übergegangen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen:
Nach Ausweis der Verwaltungsakten wurden der Erstbeschwerdeführer am 2. Juni 1992 und der Zweitbeschwerdeführer am 14. Mai 1993 in Österreich geboren. Die Beschwerdeführer haben im September 1996 Österreich verlassen und sind im Jänner 2000 mit einem Visum "D" wieder eingereist. Zuvor wurden - den erstinstanzlichen Feststellungen zufolge - die gegenständlichen Anträge am 21. September 1999 bei der österreichischen Vertretungsbehörde in Ankara gestellt. Nach der mit der Stellungnahme vom 3. Mai 2006 vorgelegten Schulbesuchsbestätigung besuchten sie u.a. "vom Schuljahr 1999/00 bis zum Schuljahr 2003/2004 die Volksschule O".
Aus den eingeholten Auszügen des Zentralen Fremdenregisters ergibt sich, dass die Eltern der Beschwerdeführer über aufrechte - bis 1. Dezember 2006 befristete - Niederlassungsbewilligungen verfügen; dies trifft nach den vorgelegten Kopien des Reisepasses der Mutter auch auf die Geschwister der Beschwerdeführer, Merve und Sefa, beide geboren am 20. Mai 2002, zu. Nach der Aktenlage hält sich der Vater der Beschwerdeführer seit dem Jahr 1989 in Österreich auf. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass er Österreich seither verlassen hätte.
Gemäß § 81 Abs. 1 NAG sind Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes anhängig sind, nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen. Die weiters maßgeblichen Bestimmungen des NAG lauten auszugsweise:
"Verfahren bei Erstanträgen
21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.
...
Bestimmungen über die Familienzusammenführung
§ 46.
...
(4) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' zu erteilen, wenn
1.
sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen;
2.
ein Quotenplatz vorhanden ist und
3.
der Zusammenführende
a)
einen Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt - EG' innehat;
b)
eine 'Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt' innehat;
c)
eine Niederlassungsbewilligung außer eine 'Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' nach § 42 innehat und die Integrationsvereinbarung (§ 14) erfüllt hat oder
d) Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt.
...
Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen
§ 72. (1) Die Behörde kann im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses (§ 11 Abs. 1), ausgenommen bei Vorliegen eines Aufenthaltsverbotes (§ 11 Abs. 1 Z 1 und 2), in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Besonders berücksichtigungswürdige Gründe liegen insbesondere vor, wenn der Drittstaatsangehörige einer Gefahr gemäß § 50 FPG ausgesetzt ist. Drittstaatsangehörigen, die ihre Heimat als Opfer eines bewaffneten Konflikts verlassen haben, darf eine solche Aufenthaltsbewilligung nur für die voraussichtliche Dauer dieses Konfliktes, höchstens jedoch für drei Monate, erteilt werden.
...
Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen
§ 73. (1) Die Behörde kann Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 72 eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' oder eine 'Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit' erteilen. Die Bestimmungen über die Quotenpflicht finden keine Anwendung.
...
(4) Soll aus humanitären Gründen eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' im Fall einer Familienzusammenführung (§ 46 Abs. 4) erteilt werden, hat die Behörde auch über einen gesonderten Antrag als Vorfrage zur Prüfung humanitärer Gründe (§ 72) zu entscheiden und gesondert über diesen abzusprechen, wenn dem Antrag nicht Rechnung getragen wird. Ein solcher Antrag ist nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht wird oder ein solcher bereits anhängig ist. Die Pflicht zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung entfällt.
Inlandsantragstellung
§ 74. Die Behörde kann von Amts wegen die Inlandsantragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 erfüllt werden."
§ 72 NAG stellt insbesondere auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen; weiters liegt ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Familiennachzug besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. April 2006, Zl. 2006/21/0060). Diesfalls darf gemäß § 74 NAG - wie zitiert - der Antrag ausnahmsweise im Inland gestellt und - dies bedurfte keiner ausdrücklichen gesetzlichen Erwähnung - auch dessen Erledigung im Inland abgewartet werden.
Im Unterschied zu sonstigen Familiennachzugsfällen zu in Österreich bereits lange aufhältigen Bezugspersonen fällt vorliegend ins Gewicht, dass die Beschwerdeführer selbst eine äußerst starke inländische Integration aufweisen können, die aus ihrer Geburt und dem daran anschließenden Aufenthalt (mit Ausnahme der Jahre 1996 bis 2000) in Österreich und aus ihrem inländischen Schulbesuch abzuleiten ist. Wenn nun sämtliche anderen Familienmitglieder über Niederlassungsbewilligungen verfügen, stünde es mit Art. 8 EMRK nicht in Einklang, den Beschwerdeführern, auch wenn sie die Erledigung ihrer Anträge nicht im Ausland abgewartet haben, Niederlassungsbewilligungen zu verweigern; weiters ist gemäß § 73 Abs. 1 NAG die Quotenpflicht nicht anzuwenden. Somit kann den Beschwerdeführern nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie nach Ablauf der Gültigkeit ihrer Visa das Bundesgebiet nicht verlassen haben. Diese Überlegung stünde im Übrigen dem von der belangten Behörde herangezogenen Versagungsgrund entgegen, der wegen der geänderten Rechtslage aber nicht näher zu behandeln ist.
Aus diesen Erwägungen war den Berufungen Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff, insbesondere auf § 55 Abs. 1 erster Satz VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 22. Juni 2006
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2006:2002210107.X00Im RIS seit
18.09.2006Zuletzt aktualisiert am
27.02.2009