TE Vwgh Erkenntnis 2006/6/22 2006/19/0057

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Veröffentlicht am 22.06.2006
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §58 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden): 2006/19/0058

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß und die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. B. Trefil, über die Beschwerden 1. des R, geboren 1965, 2. der K, geboren am 1966, 3. des M, geboren 1987, 4. der F, geboren 1994, 5. der S, geboren 1988, und 6. des V, geboren 1992, alle in Graz, vertreten durch Mag. Dr. Michael Pacher, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Kaiserfeldgasse 1/II, jeweils gegen Spruchpunkt I. der am 27. Februar 2002 verkündeten und am 18. Dezember 2002 schriftlich ausgefertigten Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates, Zl. 217.377/13-I/02/02 (Erstbeschwerdeführer) und Zl. 217.378/13-I/02/02 (zweit- bis sechstbeschwerdeführende Parteien), betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Spruchpunkte werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.982,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer (hg. Zl. 2006/19/0058) und die übrigen beschwerdeführenden Parteien, seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder (hg. Zl. 2006/19/0057), Staatsangehörige Afghanistans schiitischen Glaubensbekenntnisses und Angehörige der Volksgruppe der Hazara, reisten im Februar 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragten Asyl. Bei Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 3. April 2000 und am 2. Mai 2000 gab der Erstbeschwerdeführer an, er habe sich von September 1998 bis Anfang 2000 15 Monate lang in Gefangenschaft der Taliban befunden. Die Taliban seien vor allem daran interessiert gewesen, seines Bruders - eines gegnerischen Offiziers - habhaft zu werden. In der Haft sei der Beschwerdeführer geschlagen und gefoltert worden, wodurch er bleibende Verletzungen erlitten habe. Auf einem Gefangenentransport von Kabul nach Kandahar, von wo "noch nie jemand zurückgekommen" sei, habe er fliehen können. Sein Onkel habe sowohl ihn als auch in weiterer Folge seine Familie nach Pakistan gebracht, von wo aus sie nach Österreich gekommen seien.

Das Bundesasylamt wies die Asylanträge mit Bescheiden vom 24. Mai 2000 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Afghanistan für zulässig. Es erachtete sowohl "die gesamte Aussage" des Erstbeschwerdeführers als auch die Angaben der Zweitbeschwerdeführerin u.a. über deren Belästigung durch die Taliban im Zusammenhang mit der Suche nach dem Beschwerdeführer und dessen Bruder als "unglaubwürdig" und ging im Übrigen davon aus, es könne "grundsätzlich nicht mehr von einer eindeutigen systematischen Verfolgung der Volksgruppe der Hazare" durch die Taliban ausgegangen werden, "da es mittlerweile zu Übertritten von Führungsmitglieder der Wahdat-Partei zu den Taliban gekommen ist".

Über die Berufungen der beschwerdeführenden Parteien gegen diese Bescheide verhandelte die belangte Behörde zunächst am 3. April 2001, wobei der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin - eine nach Einschätzung des Sachverständigen "sehr traditionell eingestellte Frau", deren Befragung sich als schwierig erwies - ergänzend über die fluchtauslösenden Ereignisse vernommen wurden.

Im Anschluss daran erteilte der Verhandlungsleiter dem Sachverständigen den Auftrag, sich zur Frage einer asylrelevanten Gefährdung der beschwerdeführenden Parteien unter der Voraussetzung zu äußern, dass nur deren schiitisches Glaubensbekenntnis und die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara als wahr angenommen werde, dem sonstigen Vorbringen aber nicht gefolgt werden könne. Die nachfolgenden Ausführungen des Sachverständigen enthielten dessen ungeachtet den Satz, dass der Erstbeschwerdeführer - hätte man ihn nach Kandahar überstellen wollen - zu den "bedeutenden Gefangenen der Taliban" gehört hätte. Im Übrigen verneinte der Sachverständige nach seinem damaligen Wissensstand eine "allgemeine Verfolgung für die Hazaras" durch die Taliban. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin widersprachen dem.

In der fortgesetzten Berufungsverhandlung am 27. Februar 2002 wurde die durch den Sturz der Taliban geänderte Sachlage erörtert. Der Erstbeschwerdeführer machte geltend, die Bedrohung durch die Taliban sei weiterhin gegeben. Der Sachverständige führte u. a. aus, in Afghanistan seien nun wieder die Mujaheddin-Parteien an der Macht beteiligt, die vor der Machtergreifung der Taliban "brutal die Bevölkerung terrorisiert" hätten. Auch die wirtschaftliche und soziale Lage sei "katastrophal". Dem pflichteten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bei.

Mit den am Schluss der Verhandlung verkündeten Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen gegen die Abweisung der Asylanträge gemäß § 7 AsylG ab. Sie erklärte jedoch die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für unzulässig und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.

Gegen die jeweils ersten, die Antragsabweisungen gemäß § 7 AsylG bestätigenden Spruchpunkte dieser am 18. Dezember 2002 schriftlich ausgefertigten Bescheide richten sich die vorliegenden Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach ihrer Verbindung zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Den Begründungen der angefochtenen Spruchpunkte ist nicht einwandfrei entnehmbar, ob die belangte Behörde das schon im erstinstanzlichen Verfahren erstattete Vorbringen über die insbesondere vom Erstbeschwerdeführer erlittene Verfolgung und die zusätzlichen Angaben des Erstbeschwerdeführers über seine Tätigkeit für die Hezb-e Wahdat in der Berufungsverhandlung ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat oder nicht.

Die "Feststellungen zur Person" (jeweils Punkt II.1.1. der Bescheidbegründung) enthalten nur in jeweils extremer Verkürzung eine Darstellung dessen, was der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin als fluchtauslösend bzw. einer nunmehrigen Rückkehr entgegen stehend "angeführt" hätten. Dabei ist zwar jeweils von der Befürchtung "weiterer Verfolgungshandlungen" die Rede, darüber hinaus wird auf schon erlittene Verfolgung aber nicht Bezug genommen.

In der Beweiswürdigung dazu (jeweils Punkt II.2.1. der Bescheidbegründung) wird nicht deutlich, dass den Angaben auch über die "im festgestellten Sachverhalt aufgenommenen" Teile des Vorbringens hinaus gefolgt werden solle. Dies gilt insbesondere für die Angaben in der Berufungsverhandlung, die über das erstinstanzliche Vorbringen hinausgingen. In Bezug auf Letzteres wird jeweils aktenwidrig behauptet, das Bundesasylamt habe es seiner Entscheidung zugrunde gelegt.

Der Abschnitt über die Beweiswürdigung des individuellen Vorbringens endet jeweils mit einem (mit entsprechenden Absätzen in anderen Bescheiden der belangten Behörde aus dieser Zeit praktisch wortgleichen) Absatz über die Unglaubwürdigkeit des "gesteigerten" Vorbringens, "das über das bisherige auf das damals zum Zeitpunkt der Flucht des Berufungswerbers und seiner Familie noch bestehende Taliban-Regime bezogene hinausging".

Diese Begründungsteile enthalten jedenfalls keine Erwägungen zur Beweiswürdigung, mit denen die Unglaubwürdigkeit einzelner Teile dessen, was der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin über ihre Erlebnisse bis zur Flucht aus Afghanistan in beiden Instanzen vorgebracht hatten, nachvollziehbar begründet würde.

Damit müssten die angefochtenen Spruchteile - im Sinne der allgemein gehaltenen Ausführungen der belangten Behörde jeweils auf Seite 12 der Bescheidbegründung - auch unter der Annahme, das gesamte diesbezügliche Vorbringen habe der Wahrheit entsprochen, ausreichend begründet sein, um der nachprüfenden Kontrolle standzuhalten. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil der Sachverständige weder vor noch nach der Lageänderung zu einer Gefahrenbeurteilung auf der Grundlage vollständiger Wahrunterstellung des individuellen Vorbringens aufgefordert wurde und eine solche (falls man in der Wendung "vor dem Hintergrund des Vorbringens" in der Niederschrift vom 27. Februar 2002 eine entsprechende Aufforderung sehen wollte) in seinen Ausführungen zur Lageänderung jedenfalls nicht vorgenommen hat. Für so knapp nach dem Sturz des Taliban-Regimes verkündete Bescheide hätte es einer derartigen Beurteilungsgrundlage - angesichts der Schwere der dem Vorbringen nach vom Erstbeschwerdeführer schon erlittenen Verfolgung, seiner hypothetischen Einstufung als "bedeutender Gefangener" der Taliban durch den Sachverständigen in der ersten Berufungsverhandlung und seiner Reaktion auf den Vorhalt der Lageänderung - nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes bedurft.

Die angefochtenen Spruchpunkte waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 22. Juni 2006

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Begründungspflicht Beweiswürdigung und Beweismittel Begründung der Wertung einzelner Beweismittel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2006190057.X00

Im RIS seit

21.07.2006
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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