TE OGH 1997/7/1 Bsw25711/94

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Veröffentlicht am 01.07.1997
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Europäische Kommission für Menschenrechte, Plenum, Beschwerdesache C. M. L.-O. gegen die Schweiz, Bericht vom 1.7.1997, Bsw. 25711/94.

Spruch

Art. 4 7. ZP EMRK - Grundsatz ne bis in idem im Straf- und Verwaltungsstrafverfahren.Artikel 4, 7. ZP EMRK - Grundsatz ne bis in idem im Straf- und Verwaltungsstrafverfahren.

Verletzung von Art. 4 7. ZP EMRK (24:8 Stimmen).Verletzung von Artikel 4, 7. ZP EMRK (24:8 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1990 verursachte die Bf. einen Verkehrsunfall. Ihr Wagen war auf glatter Fahrbahn ins Schleudern geraten und mit einem PKW zusammengestoßen, dessen Fahrer durch den Aufprall schwer verletzt wurde. Sie wurde hierauf mit polizeirichterlicher Verfügung wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeuges infolge Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die Straßenverhältnisse zu einer Geldstrafe von

SFr 200,- verurteilt.

1993 wurde gegen die Bf. ein Strafbefehl erlassen und sie wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von SFr 2.000,- verurteilt. Sie erhob dagegen Einspruch, worauf das ordentliche Verfahren eingeleitet wurde. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte die Bf. wegen fahrlässiger Körperverletzung und setzte den Bussenbetrag auf SFr 1.500,- fest. Im Urteil wurde festgehalten, daß die im Verwaltungsstrafverfahren festgesetzte Geldstrafe von SFr 200,- aufgehoben und - sofern bereits bezahlt - auf den vorliegenden Bussenbetrag angerechnet werde, sodass sich dieser auf SFr 1.300,- reduziere. Das dagegen erhobene Rechtsmittel wurde vom Züricher Obergericht abgewiesen: Zwar sei das Vorgehen des Polizeirichters insofern fehlerhaft gewesen, als er den Sachverhalt nur hinsichtlich des Nichtbeherrschens des Fahrzeuges, nicht aber hinsichtlich der dadurch verursachten Körperverletzung geprüft habe. Sein Versäumnis, die Akten trotz der in Frage kommenden fahrlässigen schweren Körperverletzung an die Bezirksanwaltschaft zu überweisen, führe aber nicht zur Aufhebung seiner Verfügung.

Die dagegen erhobenen Rechtsmittel wurden 1994 vom Bundesgericht abgewiesen: Dem Polizeirichter war die Körperverletzung nicht bekannt, er wäre sonst zur Verhängung einer Geldstrafe nicht befugt, sondern verpflichtet gewesen, die Akten an die Bezirksanwaltschaft zurückzusenden. Die Wirkungen einer Doppelbestrafung habe die Vorinstanz aber dadurch vermieden, dass sie die vom Polizeirichter ausgesprochene Geldstrafe von SFr 200,- bei der Bemessung des Bussenbetrages berücksichtigt habe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK (ne bis in idem), da sie wegen desselben Verhaltens sowohl von einem Strafgericht als auch von einer Verwaltungsbehörde verurteilt worden ist.Die Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 4, 7.ZP EMRK (ne bis in idem), da sie wegen desselben Verhaltens sowohl von einem Strafgericht als auch von einer Verwaltungsbehörde verurteilt worden ist.

Die relevanten Abs. 1 und 2 des Art. 4 7.ZP EMRK lauten:Die relevanten Absatz eins und 2 des Artikel 4, 7.ZP EMRK lauten:

"1. Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden.

2. Abs. 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist."2. Absatz eins, schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist."

Nach st. Rspr. der Konventionsorgane bezweckt Art. 4 7.ZP EMRK die Vermeidung der Wiederholung eines bereits rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (vgl. das Urteil des GH im Fall Gradinger/A, A/328-C § 53 = NL 95/5/10). Im vorliegenden Fall wurde die Bf. zweimal verurteilt: a) wegen einer Verwaltungsübertretung (Nichtbeherrschen des Fahrzeuges infolge Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die Straßenverhältnisse); b) wegen eines strafrechtlichen Delikts (Fahrlässige Körperverletzung). Zwar wurde die im Verwaltungsstrafverfahren festgesetzte Geldstrafe aufgehoben und auf den vom Bezirksgericht Zürich verhängten Bussenbetrag angerechnet, andererseits war die polizeirichterliche Verfügung als solche rechtswirksam und wurde auch vom Züricher Obergericht nicht aufgehoben.Nach st. Rspr. der Konventionsorgane bezweckt Artikel 4, 7.ZP EMRK die Vermeidung der Wiederholung eines bereits rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens vergleiche das Urteil des GH im Fall Gradinger/A, A/328-C Paragraph 53, = NL 95/5/10). Im vorliegenden Fall wurde die Bf. zweimal verurteilt: a) wegen einer Verwaltungsübertretung (Nichtbeherrschen des Fahrzeuges infolge Nichtanpassens der Geschwindigkeit an die Straßenverhältnisse); b) wegen eines strafrechtlichen Delikts (Fahrlässige Körperverletzung). Zwar wurde die im Verwaltungsstrafverfahren festgesetzte Geldstrafe aufgehoben und auf den vom Bezirksgericht Zürich verhängten Bussenbetrag angerechnet, andererseits war die polizeirichterliche Verfügung als solche rechtswirksam und wurde auch vom Züricher Obergericht nicht aufgehoben.

Zu prüfen ist, ob die Bf. - in bezug auf das Strafverfahren - wegen einer strafbaren Handlung, wegen der sie bereits rechtskräftig verurteilt worden war, erneut bestraft wurde.

Art. 4 7.ZP EMRK bezieht sich nicht auf dieselbe strafbare Handlung, sondern vielmehr auf ein erneutes Verfahren bzw. eine erneute Bestrafung wegen einer solchen. Im Fall Gradinger/A (A/328-C § 55 bzw. § 77) hatte der GH festgestellt, dass sich die in Frage kommenden Bestimmungen des österr. StGB und der österr. StVO hinsichtlich Art und Zweck unterscheiden; die Entscheidungen des Strafgerichts und der Verwaltungsbehörde hatten sich jedoch letztlich auf dasselbe Verhalten (des Bf.) gestützt hatten. Dies ist auch hier der Fall: Das schweizerische Straßenverkehrsgesetz hat die Regelung des Straßenverkehrs, das schweizerische StGB hingegen den Schutz von Menschenleben zum Gegenstand. Beide Verurteilungen stützten sich jedoch auf dasselbe Verhalten der Bf.Artikel 4, 7.ZP EMRK bezieht sich nicht auf dieselbe strafbare Handlung, sondern vielmehr auf ein erneutes Verfahren bzw. eine erneute Bestrafung wegen einer solchen. Im Fall Gradinger/A (A/328-C Paragraph 55, bzw. Paragraph 77,) hatte der GH festgestellt, dass sich die in Frage kommenden Bestimmungen des österr. StGB und der österr. StVO hinsichtlich Art und Zweck unterscheiden; die Entscheidungen des Strafgerichts und der Verwaltungsbehörde hatten sich jedoch letztlich auf dasselbe Verhalten (des Bf.) gestützt hatten. Dies ist auch hier der Fall: Das schweizerische Straßenverkehrsgesetz hat die Regelung des Straßenverkehrs, das schweizerische StGB hingegen den Schutz von Menschenleben zum Gegenstand. Beide Verurteilungen stützten sich jedoch auf dasselbe Verhalten der Bf.

Die Reg. wendet ein, die strafrechtliche Verurteilung der Bf. habe auf einem Rechtsirrtum des Polizeirichters beruht. Tatsächlich hätten die von der Bf. begangenen Delikte in einem Verfahren abgeurteilt werden müssen. Das Züricher Obergericht habe die polizeirichterliche Verfügung nicht aufgehoben, weil der Bf. die im Verwaltungsstrafverfahren verhängte Geldstrafe auf den Bussenbetrag angerechnet worden war. Der Grundsatz ne bis in idem sei nicht derart auszulegen, daß jemand von Verfahrensmängeln profitieren könne.

Gemäß Abs. 2 des Art. 4 7.ZP EMRK ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur möglich, wenn das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Im ggst. Fall hatte das Züricher Obergericht jedoch ausdrücklich festgestellt, dass die polizeirichterliche Verfügung keine schwerwiegenden Mängel aufgewiesen hatte, die allenfalls ihre vollständige Nichtigkeit zur Folge haben konnten und sie aus diesem Grund nicht aufgehoben. Eine Verurteilung allein aufgrund eines Verfahrensmangels kann den Schutz vor einer erneuten Bestrafung nicht außer Kraft setzen. Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK (24:8 Stimmen).Gemäß Absatz 2, des Artikel 4, 7.ZP EMRK ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur möglich, wenn das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Im ggst. Fall hatte das Züricher Obergericht jedoch ausdrücklich festgestellt, dass die polizeirichterliche Verfügung keine schwerwiegenden Mängel aufgewiesen hatte, die allenfalls ihre vollständige Nichtigkeit zur Folge haben konnten und sie aus diesem Grund nicht aufgehoben. Eine Verurteilung allein aufgrund eines Verfahrensmangels kann den Schutz vor einer erneuten Bestrafung nicht außer Kraft setzen. Verletzung von Artikel 4, 7.ZP EMRK (24:8 Stimmen).

Abweichende Sondervoten der Kommissionsmitglieder Liddy, Soyer, Rozakis, Cabral Barreto, Bratza, Herndl, Bieliunas und Loucaides (Zusammenfassung):

In seinem Urteil im Fall Gradinger/A hatte der GH eine Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK festgestellt, da die Entscheidungen des Strafgerichts und der Verwaltungsbehörde sich letztlich auf dasselbe "Verhalten" (des Bf.) gestützt hatten: Auf das für die Bestimmungen des § 81 Z.2 StGB und § 5 StVO wesentliche Tatbestandsmerkmal der Alkoholisierung. In diesem Zusammenhang ist auf den Fall Marte und Achberger/A (Ber. v. 9.4.1997 = NL 97/5/1) zu verweisen, in dem die Kms. eine Verletzung von Art. 4 7.ZP EMRK bejaht hatte: Den strafrechtlichen und verwaltungsstrafrechtlichen Verurteilungen der Bf. lag hier ein weitgehend identer Sachverhalt zugrunde (Tätlichkeiten gegen einen und Beleidigung eines Polizeibeamten). Im vorliegenden Fall bezogen sich Straf- und Verwaltungsverfahren zwar auf dasselbe Verhalten, hatten aber unterschiedliche Delikte zum Gegenstand: Die Körperverletzung war hier als gesondertes Tatbestandsmerkmal zu prüfen und nur für die strafrechtliche Würdigung des Sachverhalts von Relevanz. Die Frage einer Körperverletzung stand anfänglich nicht zur Diskussion und die Entscheidungen des Polizeirichters und des Bezirksgerichts Zürich standen miteinander auch nicht im Widerspruch. Daher liege keine Verletzung von Art. 4. 7.ZP EMRK vor.In seinem Urteil im Fall Gradinger/A hatte der GH eine Verletzung von Artikel 4, 7.ZP EMRK festgestellt, da die Entscheidungen des Strafgerichts und der Verwaltungsbehörde sich letztlich auf dasselbe "Verhalten" (des Bf.) gestützt hatten: Auf das für die Bestimmungen des Paragraph 81, Ziffer , StGB und Paragraph 5, StVO wesentliche Tatbestandsmerkmal der Alkoholisierung. In diesem Zusammenhang ist auf den Fall Marte und Achberger/A (Ber. v. 9.4.1997 = NL 97/5/1) zu verweisen, in dem die Kms. eine Verletzung von Artikel 4, 7.ZP EMRK bejaht hatte: Den strafrechtlichen und verwaltungsstrafrechtlichen Verurteilungen der Bf. lag hier ein weitgehend identer Sachverhalt zugrunde (Tätlichkeiten gegen einen und Beleidigung eines Polizeibeamten). Im vorliegenden Fall bezogen sich Straf- und Verwaltungsverfahren zwar auf dasselbe Verhalten, hatten aber unterschiedliche Delikte zum Gegenstand: Die Körperverletzung war hier als gesondertes Tatbestandsmerkmal zu prüfen und nur für die strafrechtliche Würdigung des Sachverhalts von Relevanz. Die Frage einer Körperverletzung stand anfänglich nicht zur Diskussion und die Entscheidungen des Polizeirichters und des Bezirksgerichts Zürich standen miteinander auch nicht im Widerspruch. Daher liege keine Verletzung von Artikel 4, 7.ZP EMRK vor.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über den Bericht der EKMR vom 1.7.1997, Bsw. Bsw. 25711/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 261) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Der Bericht im englischen Originalwortlaut (pdf-Format): www.menschenrechte.ac.at/orig/97_6/C.M.L.-O..pdf

Das Original des Berichts ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM00159

Im RIS seit

19.04.2017

Zuletzt aktualisiert am

19.04.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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