Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache E. L., R. L. & J. O.-L. gegen die Schweiz, Urteil vom 29.8.1997, Bsw. 20919/92.
Spruch
Art. 6 Abs. 2 EMRK - Haftung der Erben für Geldstrafe des Erblassers wegen Steuerhinterziehung verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung.Artikel 6, Absatz 2, EMRK - Haftung der Erben für Geldstrafe des Erblassers wegen Steuerhinterziehung verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung.
Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (7:2 Stimmen).Verletzung von Artikel 6, Absatz 2, EMRK (7:2 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. sind Erben von L., ihres 1985 verstorbenen Gatten bzw. Vaters. Die Finanzbehörde setzte die Witwe davon in Kenntnis, dass gegen L. ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet worden war. Von ihrem Recht, die Erbschaft auszuschlagen, machten die Bf. keinen Gebrauch. 1990 wurde L. wegen Steuerhinterziehung verurteilt und den Bf. die Rückzahlung der Steuerschuld und die Zahlung einer Geldstrafe aufgetragen. Gegen diese Entscheidung erhoben die Bf. ein Rechtsmittel, worauf die Beträge von Steuerschuld und Geldstrafe herabgesetzt wurden. Das von der Finanzbehörde angerufene Bundesgericht entschied 1992, dass die Erben von L. für die Geldstrafe ohne Rücksicht auf eigenes Verschulden hafteten. Die Höhe der Steuerschuld sowie der Geldstrafe wurde 1995 endgültig festgesetzt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, ihre Verurteilung für ein Delikt, das sie weder begangen haben noch ihnen subjektiv vorwerfbar ist, verletze Art. 6 (2) EMRK (Grundsatz der Unschuldsvermutung).Die Bf. behaupten, ihre Verurteilung für ein Delikt, das sie weder begangen haben noch ihnen subjektiv vorwerfbar ist, verletze Artikel 6, (2) EMRK (Grundsatz der Unschuldsvermutung).
Zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK:Zur Anwendbarkeit von Artikel 6, EMRK:
Der Begriff der strafrechtlichen Anklage iSv. Art. 6 EMRK wird autonom (dh. unabhängig vom innerstaatlichen Recht) bestimmt. Nach den in st. Rspr. herausgearbeiteten Kriterien beurteilt sich die Frage, ob ein Verfahren die Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage iSd. Art. 6 EMRK zum Gegenstand hat, wie folgt: Zunächst ist festzustellen, welchem Rechtsbereich (zB. Strafrecht, Disziplinarrecht) im innerstaatlichen Rechtssystem die Zuwiderhandlung zuzuordnen ist. Weiters sind die Natur dieser Zuwiderhandlung sowie die Natur und Schwere (nature and degree) der angedrohten Sanktion zu berücksichtigen.Der Begriff der strafrechtlichen Anklage iSv. Artikel 6, EMRK wird autonom (dh. unabhängig vom innerstaatlichen Recht) bestimmt. Nach den in st. Rspr. herausgearbeiteten Kriterien beurteilt sich die Frage, ob ein Verfahren die Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage iSd. Artikel 6, EMRK zum Gegenstand hat, wie folgt: Zunächst ist festzustellen, welchem Rechtsbereich (zB. Strafrecht, Disziplinarrecht) im innerstaatlichen Rechtssystem die Zuwiderhandlung zuzuordnen ist. Weiters sind die Natur dieser Zuwiderhandlung sowie die Natur und Schwere (nature and degree) der angedrohten Sanktion zu berücksichtigen.
Zur Natur und Schwere der angedrohten Sanktion wird festgestellt, dass die verhängte Geldstrafe nicht unerheblich war: Sie betrug über 5.000.- SFr. Bei Bemessung der Strafhöhe wurde jedoch die Kooperationsbereitschaft der Bf. mit der Finanzbehörde bereits berücksichtigt. Die Strafe hätte unter Umständen viermal so hoch sein können.
Betreffend die Natur der Zuwiderhandlung wird festgehalten, daß die Steuergesetzgebung gewisse Anforderungen stellt, die im Falle einer Zuwiderhandlung mit Strafe bedroht sind. Diese sind nicht als Entschädigung für entstandenen Schaden zu betrachten, vielmehr haben sie pönalen und präventiven Charakter.
Für die Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, wird auf das Urteil des Bundesgerichts verwiesen. Dieses sah die Geldstrafe als eine vom "Verschulden" abhängige "echte Strafe" an.
Art. 6 EMRK ist somit anwendbar.Artikel 6, EMRK ist somit anwendbar.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (2) EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (2) EMRK:
Über die Bf. wurde eine Geldstrafe wegen eines vom Erblasser begangenen Deliktes verhängt. Eine "Vererbbarkeit" der strafrechtlichen Verantwortung des Erblassers entspricht nicht den Standards eines rechtsstaatlichen Strafrechts. Erben für Steuerstrafen des Erblassers verantwortlich zu machen widerspricht der aus Art. 6 (2) EMRK erfließenden Unschuldsvermutung. Verletzung von Art. 6 (2) EMRK (7:2 Stimmen; Sondervoten der Richter Baka und Bernhardt).Über die Bf. wurde eine Geldstrafe wegen eines vom Erblasser begangenen Deliktes verhängt. Eine "Vererbbarkeit" der strafrechtlichen Verantwortung des Erblassers entspricht nicht den Standards eines rechtsstaatlichen Strafrechts. Erben für Steuerstrafen des Erblassers verantwortlich zu machen widerspricht der aus Artikel 6, (2) EMRK erfließenden Unschuldsvermutung. Verletzung von Artikel 6, (2) EMRK (7:2 Stimmen; Sondervoten der Richter Baka und Bernhardt).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Öztürk/D, Urteil v. 21.2.1984, A/73 und Bendenoun/F, Urteil v. 24.2.1994, A/284 (vgl. NL 94/2/16).Anmerkung, Vgl. die vom GH zitierten Fälle Öztürk/D, Urteil v. 21.2.1984, A/73 und Bendenoun/F, Urteil v. 24.2.1994, A/284 vergleiche NL 94/2/16).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 10.4.1996 (vgl. NL 96/4/3) keine Verletzung von Art. 6 (2) EMRK festgestellt.Anmerkung, Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 10.4.1996 vergleiche NL 96/4/3) keine Verletzung von Artikel 6, (2) EMRK festgestellt.
Anm.: Vgl. auch das Urteil im sehr ähnlich gelagerten Fall A. P., M. P. & T. P./CH v. 29.8.1997.Anmerkung, Vgl. auch das Urteil im sehr ähnlich gelagerten Fall A. P., M. P. T. P./CH v. 29.8.1997.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.8.1997, Bsw. 20919/92, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 220) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format): www.menschenrechte.ac.at/orig/97_5/E.L..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Textnummer
EGM00150Im RIS seit
12.04.2017Zuletzt aktualisiert am
12.04.2017