TE Vfgh Erkenntnis 2002/6/10 B519/02

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Veröffentlicht am 10.06.2002
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Index

10 Verfassungsrecht
10/07 Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof

Norm

VfGG §33
ZPO §146
B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall

Leitsatz

Stattgabe eines - rechtzeitig eingebrachten - Wiedereinsetzungsantrages aufgrund Vorliegen eines bloß minderen Grades des Versehens bei Übersehen eines Kuverts infolge der Vielzahl der Poststücke

Spruch

I. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird stattgegeben.

II. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit einem am 6. März 2002 zur Post gegebenen Schriftsatz stellt der Einschreiter den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist gegen das Berufungserkenntnis des UVS in Tirol vom 19. Dezember 2001, Zl. uvs-2001/K13/041-2, und legt unter einem die Beschwerde gemäß Art144 B-VG vor.

2. Begründet wird der Antrag auf Wiedereinsetzung im wesentlichen damit, daß die Beschwerde am letzten Tag der Frist (das war der 5. März 2002) zur Post gebracht werden hätte sollen. Wie die - seit 15 Jahren in der Kanzlei beschäftigte und zuverlässige - Sekretärin eidesstattlich erklärte, habe sie die Beschwerde am 5. März 2002 auch in ein Kuvert gegeben und zu den anderen Poststücken gelegt. Aus unerklärlichen Gründen sei das Kuvert mit der Beschwerde jedoch auf den Boden gerutscht und unter dem Schreibtisch liegengeblieben. Die Sekretärin habe somit lediglich die übrigen zahlreichen Poststücke frankiert und zur Post gebracht. Als sie am nächsten Morgen die Kanzlei betreten habe, sei ihr sofort das unter dem Tisch liegende Kuvert aufgefallen, womit das Hindernis für die Versäumung der Frist weggefallen sei; die Beschwerde (gemeinsam mit dem Wiedereinsetzungsantrag) sei am selben Tag zur Post gebracht worden.

3. In seiner Gegenschrift vom 25. April 2002 nimmt der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (in der Folge: UVS) zu dem Antrag auf Wiedereinsetzung Stellung und bringt vor, daß die Gründe für eine Wiedereinsetzung nicht vorlägen. Im wesentlichen macht der UVS geltend, daß die Beschwerdefrist noch gar nicht abgelaufen gewesen sei, da der Schriftsatz des Einschreiters mit 5. März 2002 - dem Ende der Beschwerdefrist - datiert sei. Überdies könne bei einem Abhandenkommen von Schriftstücken innerhalb der Anwaltskanzlei nicht von einem minderen Grad des Versehens gesprochen werden.

4.1. Da das VfGG 1953 in seinem §33 die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht selbst regelt, sind nach §35 dieses Gesetzes die entsprechenden Bestimmungen des §146 Abs1 ZPO sinngemäß anzuwenden: Danach ist einer Partei, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein "unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis" an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozeßhandlung gehindert wurde, und die dadurch verursachte Versäumung für sie den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozeßhandlung zur Folge hatte. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

4.2. Unter "minderem Grad des Versehens" ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes leichte Fahrlässigkeit zu verstehen, die dann vorliegt, wenn ein Fehler unterläuft, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch begeht (vgl. VfSlg. 9817/1983, 11.706/1988, 14.822/1997 sowie den hg. Beschluß vom 11. Oktober 2001, B1681/00).

4.3. Der Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung muß gemäß §148 Abs2 ZPO innerhalb von 14 Tagen gestellt werden. Diese Frist beginnt mit dem Tag, an welchem das Hindernis, welches die Versäumung verursachte, weggefallen ist; sie kann nicht verlängert werden. Offenbar verspätet eingebrachte Anträge sind ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen (§148 Abs3 ZPO).

Das Hindernis für die rechtzeitige Einbringung der Beschwerde fiel am 6. März 2002 weg. Da der Antrag auf Wiedereinsetzung am selben Tag zur Post gegeben wurde, ist er einerseits nach ungenütztem Verstreichen der Beschwerdefrist, andererseits rechtzeitig eingebracht. Welches Datum auf dem Schriftsatz selbst angegeben ist, ist - entgegen der Ansicht des UVS - irrelevant.

5. Der glaubwürdige Umstand, den die Sekretärin auch in einer eidesstattlichen Erklärung bestätigte, daß das Kuvert mit der Beschwerde auf den Boden gerutscht sei und das Fehlen des Kuverts aufgrund der Vielzahl der Poststücke nicht aufgefallen sei, stellt ein unvorhergesehenes Ereignis dar, das auf einem minderen Grad des Versehens beruht (vgl. auch VfSlg. 15.078/1998). Dafür spricht auch, daß der Sekretärin sofort am nächsten Tag das auf dem Boden liegende Kuvert beim Betreten der Kanzlei auffiel.

6. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war daher - gemäß §33 VfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung - zu bewilligen.

II. 1. Mit Berufungserkenntnis des UVS in Tirol vom 19. Dezember 2001 wurde über den nunmehrigen Beschwerdeführer gemäß §23 Abs1 Z8 iVm Abs2 Güterbeförderungsgesetz eine Geldstrafe von S 20.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe: 5 Tage) verhängt, weil er als Lenker eines Sattelzugfahrzeuges samt Sattelanhänger eine ökopunktepflichtige Transitfahrt von Italien über Österreich in die Schweiz vorgenommen habe, ohne daß das gegenständliche Fahrzeug mit einem elektronischen Umweltdatenträger, der die automatische Abbuchung der Ökopunkte ermöglicht, ausgerüstet gewesen sei, und vom Lenker auch keine ordnungsgemäß ausgefüllte Ökokarte mit aufgeklebten Ökopunkten mitgeführt worden sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides sowie die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof im Falle der Abweisung oder Ablehnung der Beschwerde beantragt wird.

2. Die belangte Behörde legte innerhalb der ihr gesetzten Frist die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie - unter Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 14. Dezember 2001, G181/01 u.a. Zlen. - auf inhaltliche Einwendungen zur Bescheidbeschwerde verzichtete.

3. Über die - zulässige - Beschwerde wurde erwogen:

Der Verfassungsgerichtshof hat in einem aus Anlaß von Anträgen anderer Unabhängiger Verwaltungssenate eingeleiteten Verfahren mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2001, G181/01 u.a. Zlen., festgestellt, daß die Wortfolge "und Z7 bis 9" im zweiten Satz des §23 Abs2 des Bundesgesetzes über die gewerbsmäßige Beförderung von Gütern mit Kraftfahrzeugen (Güterbeförderungsgesetz 1995), BGBl. 593, in der Fassung BGBl. I 17/1998, verfassungswidrig war, und verfügt, daß die verfassungswidrige Bestimmung insofern nicht mehr anzuwenden sei, als sie sich auf die Z8 beziehe. Diese Aussprüche wurden am 8. Februar 2002 kundgemacht (BGBl. I 37/2002).

Infolge dieses, auf Art140 Abs7 B-VG gestützten Ausspruches wurde die Anlaßfallwirkung dahin erweitert, daß die als verfassungswidrig erkannte Gesetzesbestimmung auch auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände, und folglich auch im vorliegenden Beschwerdefall nicht mehr anzuwenden ist (vgl. VfSlg. 15.537/1999 mwN).

Daraus folgt, daß der Beschwerdeführer in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes verletzt wurde, weil die Behörde bei ihrer Entscheidung die als verfassungswidrig erkannte Bestimmung angewendet hat und es nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen ist, daß diese Anwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

III. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist eine Eingabegebühr gemäß §17a VfGG iHv € 180,-- und Umsatzsteuer iHv € 327,-- enthalten.

IV. Diese Entscheidung wurde gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG in nichtöffentlicher Sitzung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen.

Schlagworte

VfGH / Wiedereinsetzung, VfGH / Anlaßfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B519.2002

Dokumentnummer

JFT_09979390_02B00519_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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