TE Vfgh Erkenntnis 2002/6/10 G108/02

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Veröffentlicht am 10.06.2002
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Index

L7 Wirtschaftsrecht
L7200 Beschaffung, Vergabe

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
Wr LandesvergabeG §1 Abs1 Z1

Leitsatz

Gleichheitswidrigkeit von Schwellenwertregelungen mangels sachlicher Rechtfertigung des Ausschlusses des vergabespezifischen Rechtsschutzes im Unterschwellenbereich

Spruch

Der Satzteil "- und Dienstleistungs" in §1 Abs1 Z1 Wiener Landesvergabegesetz, LGBl. 36/1995, war verfassungswidrig.

Der Landeshauptmann von Wien ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs im Landesgesetzblatt für das Land Wien verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. a) Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1210/00 eine Beschwerde gegen einen Bescheid des Wiener Vergabekontrollsenats (VKS) anhängig, mit dem im Verfahren zur Vergabe der Dienstleistungen "Transportleistungen für Delogierungsgut" ein Antrag auf Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens zurückgewiesen und dies damit begründet wurde, daß es sich im vorliegenden Fall um neun selbständige Einzelausschreibungen gehandelt habe, deren jeweiliger Auftragswert den für die Anwendbarkeit des Wiener Landesvergabegesetzes (WLVergG) maßgeblichen, in §1 Abs1 Z1 lita leg.cit. festgelegten Schwellenwert von ECU 200.000,-- nicht erreicht hätte.

b) In der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt.

c) Der VKS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der die Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

d) Auch die mitbeteiligte Partei Stadt Wien "Stadt Wien - Wiener Wohnen" hat eine Äußerung erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

II. 1. Bei der Behandlung der Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des Satzteiles "- und Dienstleistungs" in §1 Abs1 Z1 WLVergG, LGBl. für Wien 36/1995, entstanden, durch den die vergabeverfahrensrechtlichen Bestimmungen dieses Gesetzes sowie der vergabespezifische Rechtsschutz bei der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen auf Aufträge beschränkt wird, deren geschätztes Auftragsvolumen einen bestimmten Betrag übersteigt, weshalb er beschlossen hat, die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung von Amts wegen zu prüfen.

a) Der Verfassungsgerichtshof ist in seinem Einleitungsbeschluß vom 26. Februar 2002 vorläufig davon ausgegangen, daß die Beschwerde zulässig ist und er bei Überprüfung des angefochtenen Bescheides die in Prüfung gezogene Gesetzesstelle in §1 Abs1 Z1 WLVergG anzuwenden hätte: Der VKS hat in dem der vorliegenden Anlaßbeschwerde zugrundeliegenden Nachprüfungsverfahren §1 Abs1 Z1 WLVergG angewendet und seine Zuständigkeit zur Überprüfung des vorliegenden Vergabevorgangs verneint, da der in dieser Bestimmung normierte Schwellenwert nicht erreicht worden sei. Der Verfassungsgerichtshof ging daher davon aus, daß die in Prüfung genommene Wortfolge in §1 Abs1 Z1 präjudiziell im Sinne des Art140 Abs1 B-VG sein dürfte.

b) Die Bestimmung steht in folgendem normativen Zusammenhang (die in Prüfung genommene Wortfolge ist hervorgehoben):

Das WLVergG regelt die Vergabe von Lieferaufträgen, Bauaufträgen, Baukonzessionsaufträgen und Dienstleistungsaufträgen durch öffentliche (im §12 Abs1 aufgezählte) Auftraggeber oberhalb bestimmter Schwellenwerte. Für die in seinen Geltungsbereich fallenden Vergaben sieht das WLVergG in seinem zweiten Teil allgemeine Bestimmungen über das bei der Auftragsvergabe einzuhaltende Verfahren, in seinem dritten Teil besondere, gemeinschaftsrechtlich für Vergaben oberhalb der Schwellenwerte gebotene Bestimmungen vor. Der vierte Teil des Gesetzes enthält Vorschriften über den Rechtsschutz, der fünfte Teil Schluß-, Straf- und Übergangsbestimmungen.

Hinsichtlich des sachlichen Geltungsbereiches bestimmt(e) §1 Abs1 WLVergG in der für das Beschwerdeverfahren maßgeblichen Stammfassung unter anderem (die in Prüfung genommene Wortfolge ist hervorgehoben):

"(1) Dieses Gesetz gilt für die entgeltliche Vergabe von Aufträgen über Lieferungen, Bauleistungen und Dienstleistungen (Vergabe von Liefer-, Bau- und Dienstleistungsaufträgen) durch Auftraggeber im Sinne des §12, wenn der geschätzte Auftragswert ohne Umsatzsteuer

1. bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen

a)

mindestens 200.000 ECU,

b)

für Stadt Wien-Unternehmen (§15 Abs6 Z2) im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung mindestens 400.000 ECU und

c)

im Telekommunikationssektor mindestens 600.000 ECU,

              2.              bei Bauaufträgen mindestens 5 Mio. ECU beträgt."

              c)              In der Sache hegte der Verfassungsgerichtshof das Bedenken, daß die in dieser Bestimmung enthaltene "Schwellenwertregelung" zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Differenzierung zwischen den Rechtspositionen von Bewerbern und Bietern im Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge führt. Er führte weiters dazu aus:

"Bereits in seiner Entscheidung vom 30. November 2000, G110,111/99, hat der Verfassungsgerichtshof zum BVergG 1993, BGBl. 462/1993, ausgesprochen, daß es sachlich nicht gerechtfertigt ist, daß der Gesetzgeber im Unterschwellenwertbereich auf eine außenwirksame Regelung, die den Bewerbern und Bietern wenigstens ein Minimum an Verfahrensgarantien zur Verfügung stellt, gänzlich verzichtet, und Bewerber und Bieter sohin vom vergabespezifischen Rechtsschutz generell ausgeschlossen sind. In weiteren Entscheidungen vom 26. Februar 2001, G43/00, und insbesondere vom 9. Oktober 2001, G10/01, hat der Verfassungsgerichtshof seine diesbezüglichen Bedenken auch hinsichtlich des BVergG 1997, das im Gegensatz zum hier in Prüfung stehenden WLVergG zwar in gewissem Ausmaß außenwirksame Regelungen für Vergaben unterhalb der Schwellenwerte enthält, vergabespezifischen Rechtsschutz aber weiterhin nicht zur Verfügung stellt, aufrecht erhalten.

Der Verfassungsgerichtshof sieht vorläufig keinen Grund, von seiner Ansicht abzugehen, daß der gänzliche Verzicht auf außenwirksame vergabegesetzliche Regelungen und einen vergabespezifischen Rechtsschutz zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die oben zitierten Erkenntnisse verwiesen."

2. Die Wiener Landesregierung hat im Hinblick auf die einschlägige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes von der Erstattung einer Äußerung abgesehen, für den Fall der Aufhebung der in Prüfung stehenden Gesetzesstelle aber ersucht, diese frühestens mit 31. Juli 2002 wirksam werden zu lassen, weil diese Zeit für die Durchführung eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens benötigt werde.

III. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofs erweisen sich auch als begründet.

1. Es wurde weder etwas vorgebracht, noch ist etwas hervorgekommen, was an der Zulässigkeit des Anlaßbeschwerdeverfahrens und der Präjudizialität des in Prüfung gezogenen Satzteiles des §1 Abs1 Z1 WLVergG in der bezogenen Fassung zweifeln ließe. Da auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Durch §1 Abs1 Z1 wird die Anwendbarkeit des Gesetzes für Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf den Bereich oberhalb verschiedener Schwellenwerte beschränkt. Dies ist - wie der Verfassungsgerichtshof in seinem schon im Prüfungsbeschluß ausführlich zitierten Erkenntnis VfSlg. 16.027/2000 (VfGH 30. November 2000, G110,111/99) sowie in mehreren anderen Erkenntnissen (vgl. etwa auch vom 26.2.2001, G43/00, vom 9.10.2001, G10/01) verfassungswidrig. Es ist nämlich sachlich nicht zu rechtfertigen, bei der Vergabe von Aufträgen durch öffentliche Auftraggeber im Unterschwellenwertbereich auf eine außenwirksame Regelung, die den Bewerbern und Bietern wenigstens ein Minimum an Verfahrensgarantien zur Verfügung stellt, gänzlich zu verzichten und die Bewerber und Bieter damit vom vergabespezifischen Rechtsschutz generell auszuschließen. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die oben genannten - und schon im Prüfungsbeschluß zitierten - Erkenntnisse verwiesen.

Die Wortfolge "- und Dienstleistungs" in §1 Abs1 Z1 WLVergG, durch die bewirkt wird, daß Dienstleistungsaufträge nur oberhalb bestimmter Schwellenwerte in den Anwendungsbereich des WLVergG fallen, erweist sich sohin als verfassungswidrig. Da §1 Abs1 Z1 WLVergG in der geprüften Fassung aber nicht mehr in Geltung steht (vgl. die Novelle LGBl. 50/2000), war gemäß Art140 Abs4 B-VG auszusprechen, daß die in Prüfung stehende Wortfolge verfassungswidrig war.

3. Eine Fristsetzung gemäß Art140 Abs5 dritter Satz B-VG, wie von der Wiener Landesregierung begehrt, kommt für den hier gegebenen Fall eines Ausspruches gemäß Art140 Abs4 B-VG per se nicht in Betracht.

Die Verpflichtung des Landeshauptmannes zur unverzüglichen Kundmachung erfließt aus Art140 Abs5 zweiter Satz B-VG.

IV. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z2 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Rechtsschutz, Vergabewesen, VfGH / Fristsetzung, VfGH / Aufhebung Wirkung, Verweisung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:G108.2002

Dokumentnummer

JFT_09979390_02G00108_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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