TE OGH 1997/11/24 Bsw21835/93

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Veröffentlicht am 24.11.1997
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Werner gegen Österreich, Urteil vom 24.11.1997, Bsw. 21835/93.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, § 35 StPO, § 82 StPO,§ 2 Abs. 1 lit. b stEG, § 6 Abs. 2 StEG - Haftentschädigungsverfahren und fair trial.Artikel 6, Absatz eins, EMRK, Paragraph 35, StPO, Paragraph 82, StPO,§ 2 Absatz eins, Litera b, stEG, Paragraph 6, Absatz 2, StEG - Haftentschädigungsverfahren und fair trial.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 (einstimmig).Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war wegen Verdachts des Kreditkartenbetrugs in Untersuchungshaft. Nach zwei Wochen wurde er aus der Haft entlassen und das Verfahren vom Untersuchungsrichter eingestellt: Ein graphologisches Gutachten hatte ergeben, es sei nicht wahrscheinlich, dass die gefälschten Unterschriften vom Bf. stammten, ferner bestanden erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der von der Staatsanwaltschaft benannten Zeugen.

Noch im selben Jahr machte der Bf. einen Ersatzanspruch wegen ungerechtfertigter Haft gemäß § 2 (1) (b) StEG geltend. Die Ratskammer stellte jedoch in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss fest, dass die Anspruchsvoraussetzungen für eine Haftentschädigung nicht gegeben waren: Der Verdacht, der Bf. habe eine strafbare Handlung begangen, sei nicht entkräftet worden. Dagegen erhob der Bf. Bsw. an das OLG und beantragte die Vernehmung der von der Staatsanwaltschaft in der Voruntersuchung benannten Zeugen. Der Oberstaatsanwalt beantragte in einer schriftlichen Stellungnahme die Ablehnung des Beweisantrages sowie die Abweisung der Bsw. Über diese Stellungnahme wurde der Bf. nicht in Kenntnis gesetzt. Das OLG wies in der Folge die Bsw. mit Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung ab: Der Verdacht sei nicht entkräftet worden, ferner sei eine Befragung der beantragten Zeugen nicht notwendig, da deren Glaubwürdigkeit bereits vom Untersuchungsrichter bezweifelt worden war.Noch im selben Jahr machte der Bf. einen Ersatzanspruch wegen ungerechtfertigter Haft gemäß Paragraph 2, (1) (b) StEG geltend. Die Ratskammer stellte jedoch in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss fest, dass die Anspruchsvoraussetzungen für eine Haftentschädigung nicht gegeben waren: Der Verdacht, der Bf. habe eine strafbare Handlung begangen, sei nicht entkräftet worden. Dagegen erhob der Bf. Bsw. an das OLG und beantragte die Vernehmung der von der Staatsanwaltschaft in der Voruntersuchung benannten Zeugen. Der Oberstaatsanwalt beantragte in einer schriftlichen Stellungnahme die Ablehnung des Beweisantrages sowie die Abweisung der Bsw. Über diese Stellungnahme wurde der Bf. nicht in Kenntnis gesetzt. Das OLG wies in der Folge die Bsw. mit Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung ab: Der Verdacht sei nicht entkräftet worden, ferner sei eine Befragung der beantragten Zeugen nicht notwendig, da deren Glaubwürdigkeit bereits vom Untersuchungsrichter bezweifelt worden war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) aufgrund 1.) der fehlenden öffentlichen Verhandlung im Verfahren vor dem LG und dem OLG, 2.) der fehlenden öffentlichen Verkündung der Gerichtsbeschlüsse sowie 3.) der fehlenden Waffengleichheit der Parteien, da er über die schriftliche Stellungnahme des Oberstaatsanwalts im Verfahren vor dem OLG nicht in Kenntnis gesetzt wurde, und er somit keine Möglichkeit zu einer Entgegnung gehabt habe.Der Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) aufgrund 1.) der fehlenden öffentlichen Verhandlung im Verfahren vor dem LG und dem OLG, 2.) der fehlenden öffentlichen Verkündung der Gerichtsbeschlüsse sowie 3.) der fehlenden Waffengleichheit der Parteien, da er über die schriftliche Stellungnahme des Oberstaatsanwalts im Verfahren vor dem OLG nicht in Kenntnis gesetzt wurde, und er somit keine Möglichkeit zu einer Entgegnung gehabt habe.

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK:Zur Anwendbarkeit von Artikel 6, (1) EMRK:

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK siehe die Ausführungen zum Urteil Szücs/A (= NL 97/6/9).Zur Anwendbarkeit von Artikel 6, (1) EMRK siehe die Ausführungen zum Urteil Szücs/A (= NL 97/6/9).

Art. 6 (1) EMRK ist anwendbar.Artikel 6, (1) EMRK ist anwendbar.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK:

1.) Keine öffentliche Verhandlung im Verfahren vor dem LG und dem OLG:

Durch das Erfordernis der Öffentlichkeit des Verfahrens, welches ein wesentliches Prinzip des Art. 6 (1) EMRK darstellt, wird die Rechtspflege der Überwachung durch die Allgemeinheit unterzogen und das Vertrauen in die Gerichte erhöht. Dadurch, dass er das Verfahrensgeschehen sichtbar macht, trägt der Grundsatz der Öffentlichkeit dazu bei, den Zweck des Art. 6 (1) EMRK zu verwirklichen, nämlich ein faires Verfahren sicherzustellen. Weder das LG noch das OLG haben eine öffentliche Verhandlung über die vom Bf. geltend gemachten Ersatzansprüche durchgeführt. Der Bf. hätte jedoch grundsätzlich einen Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gehabt, da keine der Ausnahmeregelungen des zweiten Satzes von Art. 6 (1) EMRK zutrifft. Der Bf. hat jedoch nie die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung beantragt, weshalb zu prüfen ist, ob er nicht dadurch auf dieses Recht verzichtet hat.Durch das Erfordernis der Öffentlichkeit des Verfahrens, welches ein wesentliches Prinzip des Artikel 6, (1) EMRK darstellt, wird die Rechtspflege der Überwachung durch die Allgemeinheit unterzogen und das Vertrauen in die Gerichte erhöht. Dadurch, dass er das Verfahrensgeschehen sichtbar macht, trägt der Grundsatz der Öffentlichkeit dazu bei, den Zweck des Artikel 6, (1) EMRK zu verwirklichen, nämlich ein faires Verfahren sicherzustellen. Weder das LG noch das OLG haben eine öffentliche Verhandlung über die vom Bf. geltend gemachten Ersatzansprüche durchgeführt. Der Bf. hätte jedoch grundsätzlich einen Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gehabt, da keine der Ausnahmeregelungen des zweiten Satzes von Artikel 6, (1) EMRK zutrifft. Der Bf. hat jedoch nie die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung beantragt, weshalb zu prüfen ist, ob er nicht dadurch auf dieses Recht verzichtet hat.

Festgestellt wird, dass bei Entschädigungsverfahren nach § 6 (2) StEG, die eingeleitet werden, nachdem der Untersuchungsrichter das Strafverfahren eingestellt hat, in der Praxis niemals öffentliche Verhandlungen stattfinden. Dies entspricht dem Geist des Gesetzes und ist auch in der Lehre unstrittig. Dem Bf. kann demnach nicht vorgeworfen werden, keinen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gestellt zu haben, da ein solcher ohnehin keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Da keine öffentliche Verhandlung über die Ersatzansprüche des Bf. stattgefunden hat, wird eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK festgestellt (einstimmig).Festgestellt wird, dass bei Entschädigungsverfahren nach Paragraph 6, (2) StEG, die eingeleitet werden, nachdem der Untersuchungsrichter das Strafverfahren eingestellt hat, in der Praxis niemals öffentliche Verhandlungen stattfinden. Dies entspricht dem Geist des Gesetzes und ist auch in der Lehre unstrittig. Dem Bf. kann demnach nicht vorgeworfen werden, keinen Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gestellt zu haben, da ein solcher ohnehin keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Da keine öffentliche Verhandlung über die Ersatzansprüche des Bf. stattgefunden hat, wird eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK festgestellt (einstimmig).

2.) Keine mündliche Verkündung der Gerichtsbeschlüsse:

Zu diesem Punkt sie die Ausführungen zum Urteil Szücs/A (= NL 97/6/9). Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).Zu diesem Punkt sie die Ausführungen zum Urteil Szücs/A (= NL 97/6/9). Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK (einstimmig).

3.) Fehlen der Waffengleichheit der Parteien:

Dieser Beschwerdepunkt ist im Lichte des Gesamtinhalts von Art. 6 (1) EMRK zu prüfen, denn der Grundsatz der Waffengleichheit ist nur ein Teilaspekt des Rechts auf ein fairen Verfahrens. Er umfasst das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren. Im vorliegenden Fall wurde dem Bf. die schriftliche Stellungnahme des Oberstaatsanwalts im Verfahren vor dem OLG nicht mitgeteilt, weshalb er keine Möglichkeit zu einer Entgegnung gehabt hat. Das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren bedeutet jedoch die Möglichkeit für die Parteien, die jeweils von der Gegenpartei vorgelegten Stellungnahmen und Beweise zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Da dies nicht geschehen ist, liegt eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK vor (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Matscher).Dieser Beschwerdepunkt ist im Lichte des Gesamtinhalts von Artikel 6, (1) EMRK zu prüfen, denn der Grundsatz der Waffengleichheit ist nur ein Teilaspekt des Rechts auf ein fairen Verfahrens. Er umfasst das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren. Im vorliegenden Fall wurde dem Bf. die schriftliche Stellungnahme des Oberstaatsanwalts im Verfahren vor dem OLG nicht mitgeteilt, weshalb er keine Möglichkeit zu einer Entgegnung gehabt hat. Das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren bedeutet jedoch die Möglichkeit für die Parteien, die jeweils von der Gegenpartei vorgelegten Stellungnahmen und Beweise zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Da dies nicht geschehen ist, liegt eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK vor (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Matscher).

Festgehalten wird außerdem, dass § 35 StPO seit dem Strafprozessänderungsgesetz 1993 vorschreibt, dass das Rechtsmittelgericht dem Beschuldigten (Angeklagten, Betroffenen) über eine Stellungnahme des Staatsanwalts zu einer Nichtigkeitsbsw., einer Berufung oder einer Bsw. in Kenntnis zu setzen hat.Festgehalten wird außerdem, dass Paragraph 35, StPO seit dem Strafprozessänderungsgesetz 1993 vorschreibt, dass das Rechtsmittelgericht dem Beschuldigten (Angeklagten, Betroffenen) über eine Stellungnahme des Staatsanwalts zu einer Nichtigkeitsbsw., einer Berufung oder einer Bsw. in Kenntnis zu setzen hat.

Anm.: Vgl. insb. die vom GH zitierten Fälle Masson & Van Zon/NL, Urteil v. 28.09.1995, A/327-A (= NL 95/5/9) und Georgiadis/GR, Urteil v. 29.5.1997 (= NL 97/4/6).Anmerkung, Vgl. insb. die vom GH zitierten Fälle Masson Van Zon/NL, Urteil v. 28.09.1995, A/327-A (= NL 95/5/9) und Georgiadis/GR, Urteil v. 29.5.1997 (= NL 97/4/6).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 3.9.1996 (= NL 96/6/3) eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK in bezug auf das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung (25:4 Stimmen), auf das Fehlen der mündlichen Verkündung der Beschlüsse (27:2 Stimmen) und auf das Unterlassen der Mitteilung der Stellungnahme des Oberstaatsanwalts an den Bf. (26:3 Stimmen) festgestellt.Anmerkung, Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 3.9.1996 (= NL 96/6/3) eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK in bezug auf das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung (25:4 Stimmen), auf das Fehlen der mündlichen Verkündung der Beschlüsse (27:2 Stimmen) und auf das Unterlassen der Mitteilung der Stellungnahme des Oberstaatsanwalts an den Bf. (26:3 Stimmen) festgestellt.

Anm.: Vgl. auch den Fall Szücs/A, Urteil v. 24.11.1997 (= NL 97/6/9), in diesem Heft.Anmerkung, Vgl. auch den Fall Szücs/A, Urteil v. 24.11.1997 (= NL 97/6/9), in diesem Heft.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.11.1997, Bsw. 21835/93, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 276) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format): www.menschenrechte.ac.at/orig/97_6/Werner.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM00164

Im RIS seit

19.04.2017

Zuletzt aktualisiert am

19.04.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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