Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache
I. A. gegen Frankreich, Urteil vom 23.9.1998, Bsw. 28213/95.römisch eins. A. gegen Frankreich, Urteil vom 23.9.1998, Bsw. 28213/95.
Spruch
Art. 5 Abs. 3 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Dauer der Untersuchungshaft und Verfahrensdauer.Artikel 5, Absatz 3, EMRK, Artikel 6, Absatz eins, EMRK - Dauer der Untersuchungshaft und Verfahrensdauer.
Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).Verletzung von Artikel 5, Absatz 3, EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).Keine Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 50 EMRK: FF 25.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).Entschädigung nach Artikel 50, EMRK: FF 25.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
1991 wurde die Leiche einer jungen Frau in der Hafeneinfahrt von Les Sables-d'Olonne (Frankreich) aufgefunden. Das Opfer war erwürgt worden und wies Verletzungen an Kopf und Hals sowie Verbrennungen an Brust und Beinen auf. Gemäß dem Autopsiebericht war die Frau erstickt; vor ihrem Tod hatte sie zahlreiche Schläge erhalten. Sie wurde in der Folge als die Gattin des Bf. identifiziert. Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurde der Bf. mehrmals verhört. Nach mehreren widersprüchlichen Aussagen gab er zu Protokoll, seine Frau hätte sich nach einem Ehestreit mit einer Wäscheleine erhängt. Die Leiche wurde von ihm ins Meer geworfen, da er nicht gewusst habe, wie die Familie seiner Gattin auf die Meldung von ihrem Tod reagieren würde. Noch im selben Jahr wurde gegen den Bf. Anklage wegen Mordes erhoben und die Untersuchungshaft über ihn verhängt. Laut einem medizinischen Sachverständigengutachten wies die vom Bf. geschilderte Version des Tatherganges Widersprüche auf. Ein zweites Gutachten ergab, dass die Verletzungen am Hals des Opfers Folgen des Erwürgens - nicht des Erhängens - waren und die Brandspuren von einer heißen Flüssigkeit oder von einem Feuer herrührten. 1993 wurde im von der Polizei versiegelten Haus des Bf. eingebrochen. Ermittlungen ergaben, dass der Einbruch im Auftrag des Bf. erfolgt war, um ihn belastende Unterlagen verschwinden zu lassen. Während des Vorverfahrens hatte der Bf. zahlreiche Anträge auf Haftentlassung gestellt, die alle abgewiesen wurden. 1997 wurde er von einem Geschwornengericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen erhob der Bf. ein Rechtsmittel. Das Höchstgericht hob das Urteil auf und verwies den Fall an das sachlich zuständige Geschwornengericht zur Entscheidung zurück. Das Verfahren ist zur Zeit noch anhängig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet, die Dauer der Untersuchungshaft bzw. die Dauer des gesamten Strafverfahrens habe Art. 5 (3) EMRK (Recht auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist oder auf Haftentlassung) bzw. Art. 6 (1) EMRK (Recht auf angemessene Verfahrensdauer) verletzt.Der Bf. behauptet, die Dauer der Untersuchungshaft bzw. die Dauer des gesamten Strafverfahrens habe Artikel 5, (3) EMRK (Recht auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist oder auf Haftentlassung) bzw. Artikel 6, (1) EMRK (Recht auf angemessene Verfahrensdauer) verletzt.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (3) EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 5, (3) EMRK:
Der für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Haftzeitraum ist von der Anklageerhebung gegen den Bf. bis zu seiner Verurteilung durch das Geschwornengericht zu rechnen, das sind fünf Jahre und drei Monate. Im vorliegenden Fall wurde von den frz. Gerichten 57mal ein Haftprüfungsverfahren durchgeführt, fünf Anträge auf Haftentlassung wurden in 2. Instanz abgelehnt. Die dafür gemäß Art. 144 der frz. StPO herangezogenen Haftgründe sollen im folgenden der Reihe nach geprüft werden:Der für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Haftzeitraum ist von der Anklageerhebung gegen den Bf. bis zu seiner Verurteilung durch das Geschwornengericht zu rechnen, das sind fünf Jahre und drei Monate. Im vorliegenden Fall wurde von den frz. Gerichten 57mal ein Haftprüfungsverfahren durchgeführt, fünf Anträge auf Haftentlassung wurden in 2. Instanz abgelehnt. Die dafür gemäß Artikel 144, der frz. StPO herangezogenen Haftgründe sollen im folgenden der Reihe nach geprüft werden:
1. Nachteile oder Gefahren für das Verfahren oder den Rechtsfrieden:
Dieser Haftgrund kann nur dann herangezogen werden, wenn tatsächlich erwiesen wäre, dass die öffentliche Ruhe und Ordnung durch die Freilassung des Häftlings gestört würde und diese Gefahr auch weiterhin bestehen wird. In den ggst. Haftprüfungsverhandlungen wurde aber lediglich in einer abstrakten Weise auf den Mord, den der Tat zugrundeliegenden Beweggründen des Täters, gelegentlich auch auf die Reaktionen der von dem Verbrechen betroffenen Familie des Opfers Bezug genommen.
2. Fluchtgefahr:
Die frz. Gerichte hatten diesen Haftgrund mit den Kontakten des Bf. zum Libanon, seinem Verhalten und der Schwere der für die Tat zu erwartenden Strafe begründet. Zwar konnte unter diesen Umständen von einer Fluchtgefahr ausgegangen werden, auf die Frage, warum eine solche Gefahr im Verlauf von mehr als fünf Jahren nach wie vor bestehen hätte sollen, gingen die frz. Gerichte aber nur ungenügend ein.
3. Tatbegehungsgefahr:
Dieser Haftgrund wurde lediglich viermal erwähnt, eine ausreichende Begründung fand auch in diesem Fall nicht statt.
4. Schutz vor Repressalien:
Nur in Ausnahmefällen kann die Notwendigkeit des Schutzes der Sicherheit einer in Untersuchungshaft befindlichen Person als Rechtfertigung für eine Haftverlängerung herangezogen werden. Die frz. Gerichte begründeten diesen Haftgrund mit der Gefahr von Racheakten durch die Familie des Opfers bzw. mit der Furcht des Bf. vor den von ihm als barbarisch und ungerecht erachteten libanesischen Gebräuchen. Eine Begründung, warum dieser Schutz notwendig gewesen war, obwohl beinahe die ganze Familie seiner Frau im Libanon lebte, erfolgte nicht.
5. Verdunkelungs- bzw. Kollusionsgefahr:
Dieser Haftgrund war zwar anfänglich von Relevanz, verlor aber im Lauf der Zeit immer mehr an Bedeutung: Die wenigen Zeugen waren bereits einvernommen worden, ferner hatte der vom Bf. veranlasste Einbruch in sein Haus zur Beseitigung ihn belastender Unterlagen während eines Verfahrensstadiums stattgefunden, in dem bereits das meiste Beweismaterial erhoben worden war.
6. Abschließende Bewertung
Die beträchtliche Dauer der Freiheitsentziehung hätte einer zwingenden Rechtfertigung durch die frz. Gerichte bedurft. Die anfängliche Relevanz der von diesen herangezogenen Haftgründe zur Rechtfertigung der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft verlor im Lauf der Zeit an Bedeutung. Verletzung von Art. 5 (3) EMRK (einstimmig).Die beträchtliche Dauer der Freiheitsentziehung hätte einer zwingenden Rechtfertigung durch die frz. Gerichte bedurft. Die anfängliche Relevanz der von diesen herangezogenen Haftgründe zur Rechtfertigung der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft verlor im Lauf der Zeit an Bedeutung. Verletzung von Artikel 5, (3) EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK:
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen: Die Komplexität des Falls, das Verhalten des Bf. und das der Behörden sind hierbei von besonderer Relevanz. Eine Prüfung hat sich auf die Dauer der Voruntersuchung zu konzentrieren, die alleine mehr als vier Jahre und sechs Monate in Anspruch genommen hatte. Zwar ist das Verhalten der Ermittlungsbehörden nicht frei von Kritik. Der Fall war allerdings komplex, sodass Verzögerungen verständlich sind, zu denen übrigens auch der Bf. in der Voruntersuchung wesentlich beigetragen hat. Keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen: Die Komplexität des Falls, das Verhalten des Bf. und das der Behörden sind hierbei von besonderer Relevanz. Eine Prüfung hat sich auf die Dauer der Voruntersuchung zu konzentrieren, die alleine mehr als vier Jahre und sechs Monate in Anspruch genommen hatte. Zwar ist das Verhalten der Ermittlungsbehörden nicht frei von Kritik. Der Fall war allerdings komplex, sodass Verzögerungen verständlich sind, zu denen übrigens auch der Bf. in der Voruntersuchung wesentlich beigetragen hat. Keine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 50 EMRK:Entschädigung nach Artikel 50, EMRK:
FF 25.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Neumeister/A, Urteil v.Anmerkung, Vgl. die vom GH zitierten Fälle Neumeister/A, Urteil v.
27.6.1968, A/8; B./A, Urteil vom 28.3.1990, A/175 (= ÖJZ 1990, 482);
Letellier/F, Urteil v. 26.6.1991, A/207 (= ÖJZ 1991, 789);
Kemmache/F, Urteil v. 27.11.1991, A/218 (= NL 92/2/9); Reinhardt &
Slimane-Kaïd/F, Urteil v. 31.3.1998.
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 10.9.1997 eine Verletzung von Art. 5 (3) EMRK, nicht jedoch von Art. 6 (1) EMRK festgestellt (einstimmig).Anmerkung, Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 10.9.1997 eine Verletzung von Artikel 5, (3) EMRK, nicht jedoch von Artikel 6, (1) EMRK festgestellt (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.9.1998, Bsw. 28213/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 192) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/98_5/I.A..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Anmerkung
EGM00213 Bsw28213.95-UDokumentnummer
JJT_19980923_AUSL000_000BSW28213_9500000_000