Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde der V in L, geboren 1987, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Spittelwiese 8, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 30. November 2004, Zl. 252.770/0-X/47/04, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die damals noch nicht 17-jährige Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 15. April 2004 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag. Bei der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 26. April 2004 gab die Beschwerdeführerin zu den Fluchtgründen an, sie habe mit ihrer Familie in einem näher bezeichneten Dorf im Plateau-State an der Grenze zum Taraba-State gelebt. Im Februar 2004 seien Leute aus dem Nachbarstaat zum elterlichen Haus gekommen, um sich beim Vater der Beschwerdeführerin, dem "Chef" der Viehhändler, über den angeblichen Diebstahl einer Kuh zu beschweren; dieser sei aber nicht zu Hause gewesen. Nachdem die Mutter der Beschwerdeführerin den Aufenthaltsort des Vaters nicht bekannt gegeben habe, seien die Mutter und der Bruder der Beschwerdeführerin von diesen Leuten getötet worden. Daraufhin habe sich die Beschwerdeführerin bei einer Freundin versteckt. Da ihr Vater nicht gefunden worden sei, hätten diese Leute versucht, die Beschwerdeführerin zu finden. Sie habe Angst gehabt, dass auch sie getötet werde, und sei schließlich geflüchtet.
Mit dem im Instanzenzug - ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung - ergangenen Bescheid vom 30. November 2004 wies die belangte Behörde den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) ab und stellte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria fest.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Das Bundesasylamt gründete die erstinstanzliche Abweisung des Asylantrages auf die Einschätzung, das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund sei zur Gänze unglaubwürdig. Diese Beurteilung stützte die Erstbehörde nur auf eine - ihrer Ansicht nach - "grundsätzlich bedeutende Divergenz" in den Angaben der Beschwerdeführerin bei ihrer Vernehmung am 26. April 2004. Sie habe nämlich vorerst behauptet, dass sie sich damals im Haus der Eltern aufgehalten und gesehen habe, wie ihre Mutter und ihr Bruder getötet worden seien, und dass sie sich erst danach zu ihrer Freundin begeben habe. Auf spätere Nachfrage habe die Beschwerdeführerin "plötzlich" angegeben, dass sie zu dem Zeitpunkt, als ihre Mutter und ihr Bruder ermordet worden seien, im Haus ihrer Freundin gewesen sei.
In der Berufung wiederholte die Beschwerdeführerin zunächst die Schilderung der fluchtauslösenden Ereignisse und ergänzte einige (erklärende) Details. Daran anknüpfend kritisierte sie, das Bundesasylamt habe sich mit diesem schlüssigen und nachvollziehbaren Vorbringen nicht weiter auseinandergesetzt und dazu auch keine Ermittlungen angestellt, sondern nur aufgrund eines einzigen (angeblichen) Widerspruchs in den Angaben zu ihrem Aufenthaltsort im Zeitpunkt der Ermordung ihrer Angehörigen die Glaubwürdigkeit zur Gänze versagt. Die Erstbehörde hätte aber diese von ihr gesehene Divergenz bereits im Verlauf der Einvernahme ansprechen und die Beschwerdeführerin dazu ergänzend befragen müssen. Im Hinblick auf diese Unterlassung habe die Beschwerdeführerin keine Gelegenheit gehabt, zu diesem Widerspruch Stellung zu nehmen und diesen auszuräumen, weshalb das Parteiengehör verletzt worden sei. Sie könne sich diese unterschiedlichen Angaben auch nicht erklären, möglicherweise - so heißt es in diesem Zusammenhang an anderer Stelle - seien sie "aus Nervosität" gemacht worden. In den weiteren Ausführungen versucht die Berufung unter Bezugnahme auf die einzelnen Aussageteile darzustellen, dass es sich insoweit bei harmonisierender Betrachtung und richtiger zeitlicher Einordnung in Wahrheit um keine widersprüchlichen Angaben handelt. Auch der Referent, der die Einvernahme beim Bundesasylamt führte, habe die Angaben der Beschwerdeführerin - so die Berufung daran anknüpfend - offensichtlich nur dahin verstanden, dass sie zum Zeitpunkt der Tat bei ihrer Freundin gewesen und nach dem Auffinden der Leichen wieder zu dieser zurückgekehrt sei; andernfalls hätte er dazu wohl nachgefragt. Die Entscheidung des Bundesasylamtes sei aber entgegen dem im § 27 Abs. 1 AsylG festgelegten Unmittelbarkeitsprinzip nicht durch diesen Organwalter, sondern durch einen bei der Vernehmung nicht anwesenden Referenten getroffen worden. Vor diesem Hintergrund wäre es nach Ansicht der Beschwerdeführerin unbedingt notwendig gewesen, dass das Entscheidungsorgan die Beschwerdeführerin zu den von ihm nur aus der Niederschrift erkannten Widersprüchen persönlich befragt, was ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich gewesen wäre. Schließlich wurde in der Berufung noch gerügt, die Erstbehörde hätte ermitteln müssen, welche Rolle die Selbstjustiz in der traditionellen nigerianischen Gesellschaft spiele und ob davor wirksamer staatlicher Schutz gewährt werde.
Angesichts dieses Berufungsinhaltes ist es für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar, dass die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid die Auffassung vertrat, der Sachverhalt sei "aus der Aktenlage iVm der Berufung" geklärt und es habe sich "insbesondere in der Berufung kein zusätzlicher Hinweis" auf die Notwendigkeit der (von der Beschwerdeführerin auch ausdrücklich beantragten) Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergeben. Es entspricht nämlich ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass der Sachverhalt im Sinne des Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG nur dann als "geklärt" angesehen und von einer Berufungsverhandlung abgesehen werden kann, wenn er nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde und in der Berufung kein dem Ergebnis des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender Sachverhalt in konkreter Weise behauptet wird. Die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhaltes im Sinne der genannten Bestimmung ist auch dann nicht erfüllt, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird (vgl. zum Ganzen etwa aus jüngerer Zeit das Erkenntnis vom 2. März 2006, Zl. 2003/20/0317, mit weiteren Nachwiesen).
Dass Letzteres hier der Fall ist, bedarf angesichts des wiedergegebenen Inhalts der Berufung keiner weiteren Erörterung. Das scheint auch die belangte Behörde erkannt zu haben, da sie sich veranlasst sah, den - im angefochtenen Bescheid allerdings nur verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegebenen - Berufungsausführungen zu erwidern. Ihrer Ansicht nach gelinge es damit nicht, die Beweiswürdigung der Erstbehörde zu erschüttern, weil die Beschwerdeführerin dieser "letztlich nur" entgegen gesetzt habe, sie könne sich nicht erklären, weshalb sie zunächst gesagt habe, zur Zeit des Mordes im Haus der Eltern gewesen zu sein. Diese im Ergebnis unreflektierte Übernahme der erstinstanzlichen Beweiswürdigung wird dem oben dargestellten Berufungsvorbringen nicht gerecht. Vielmehr hätten die in der Berufung gegen die erstinstanzliche Beweiswürdigung konkret vorgetragenen Argumente nicht nur eine nähere inhaltliche Auseinandersetzung erfordert, sondern am Maßstab der erwähnten Rechtsprechung auch die Durchführungen einer Verhandlung vorausgesetzt.
Dazu kommt, dass die belangte Behörde nicht von einem "mängelfreien, ordnungsgemäßen" Ermittlungsverfahren hätte ausgehen dürfen. Zu Recht wurde nämlich in der Berufung auf die dem Bundesasylamt in § 27 Abs. 1 erster Satz AsylG auferlegte Verpflichtung verwiesen, dass Asylwerber - soweit es ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich ist - persönlich von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter zu vernehmen sind. Im vorliegenden Fall wurde die am 26. April 2003 erfolgte erstinstanzliche Einvernahme der Beschwerdeführerin gemäß der darüber aufgenommenen Niederschrift aber nicht von jenem Organwalter des Bundesasylamtes durchgeführt, der in der Folge den erstinstanzlichen Bescheid vom 11. August 2004 genehmigte. Dass dies lediglich deshalb erfolgt wäre, um unverhältnismäßigen Aufwand abzuwenden, lässt sich den vorgelegten Verwaltungsakten nicht entnehmen. Das Bundesasylamt hat dazu keine rechtfertigende Erklärung abgegeben, die belangte Behörde hat sich mit dieser Frage nicht erkennbar auseinander gesetzt. Auch unter diesem Aspekt hätte daher für die belangte Behörde eine Verhandlungspflicht bestanden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 9. Mai 2006, Zl. 2005/01/0616, mit dem Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 30. August 2005, Zl. 2004/01/0602).
Schließlich kann auch das (nur aus einem Satz bestehende) zur Begründung der Asylantragabweisung zusätzlich herangezogene Argument der belangten Behörde, die Beschwerdeführerin behaupte mit ihrem Vorbringen im Übrigen keine Verfolgung aus den in Art. I Abschn. A Z 2 FlKonv genannten Gründen, auf der Basis des bisherigen Ermittlungsstandes als nicht tragfähig angesehen werden. Dem bisherigen Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich nämlich ansatzweise ein Zusammenhang der behaupteten (stellvertretenden) Verfolgungsgefahr als Familienmitglied mit dem Konventionsgrund "soziale Gruppe" entnehmen (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 24. Juni 2004, Zlen. 2002/20/0165, 0166, und das Erkenntnis vom 17. September 2003, Zl. 2000/20/0137, sowie das Erkenntnis vom 14. Jänner 2003, Zl. 2001/01/0508, jeweils mit weiteren Nachweisen). Auch insoweit wären daher ergänzende Sachverhaltsermittlungen indiziert gewesen.
Der angefochtene Bescheid war somit aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 17. Oktober 2006
Schlagworte
Verfahrensbestimmungen BerufungsbehördeBesondere Rechtsgebiete"zu einem anderen Bescheid"European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2006:2005200198.X00Im RIS seit
24.11.2006Zuletzt aktualisiert am
19.04.2009