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41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des J in S, vertreten durch Dr. Heinrich Schellhorn, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 25. Juni 2003, Zl. 234.570/0-XI/34/03, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, gelangte am 20. September 2002 in das Bundesgebiet und stellte am 24. September 2002 einen Asylantrag.
Am 8. Jänner 2003 sagte der Beschwerdeführer bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt aus, er sei ein Sikh aus dem Punjab. Er habe die Schule besucht und sei von seinen Eltern finanziell unterstützt worden. Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Vater - ein Polizist - von Mitgliedern der Kongresspartei bedroht und zur Unterstützung der Kongresspartei aufgefordert worden sei. Zusätzlich hätten Mitglieder der Kongresspartei auch seine Mutter damit bedroht, dass sie ihn umbringen würden, wenn sein Vater die Kongresspartei nicht unterstützen würde. Er sei auch nach der Schule zweimal persönlich aus diesem Grund mit dem Tode bedroht worden. Auch seine jüngere Schwester sei in seiner Anwesenheit bedroht worden. Er sei nie politisch tätig gewesen und habe auch keine Probleme mit den Behörden gehabt. Seine Eltern hätten beschlossen, ihn aus Indien wegzuschicken, da sie seine Ermordung befürchtet hätten. Auch vor seiner Ausreise sei er nochmals mit dem Tode bedroht worden.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 16. Jänner 2003 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und sprach gemäß § 8 AsylG aus, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Indien zulässig sei.
Begründend führte das Bundesasylamt aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Fluchtgrund nicht glaubwürdig seien. Dem Beschwerdeführer drohe in Indien keine asylrelevante Verfolgung. Der Beschwerdeführer habe sich eines "frei erfundenen Sachverhaltes" bedient.
Der Beschwerdeführer erhob Berufung, in welcher er im Wesentlichen ausführte, das Bundesasylamt habe ihm zu Unrecht und ohne ausreichende Begründung die Glaubwürdigkeit abgesprochen.
Die belangte Behörde führte am 8. Mai 2003 eine mündliche Berufungsverhandlung durch. Dabei sagte der Beschwerdeführer aus, dass seine Familie nach wie vor von Mitgliedern der Kongresspartei bedroht werde. Er wisse dies aus Telefonaten mit seinen Eltern. Außerdem regiere die Kongresspartei in ganz Indien.
Zu einer innerstaatlichen Fluchtalternative befragt gab der Beschwerdeführer in dieser mündlichen Berufungsverhandlung an, dass er zum Zeitpunkt seiner Flucht 16 Jahre alt gewesen sei. Er sei zu jung gewesen, um zu arbeiten. Ohne Arbeit habe er auch nicht über Geld verfügt. Auch gebe es in Indien keine Art Sozialdienst, wo er seinen Lebensunterhalt sichern hätte können.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers von der belangten Behörde gemäß §§ 7 und 8 AsylG abgewiesen.
Die belangte Behörde stellte zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen (lediglich) fest, dass er ein Sikh aus dem Punjab sei und Indien verlassen habe, weil er "von Mitgliedern der örtlichen Kongresspartei zweimal tätlich bedroht und geschlagen" worden sei.
Zur relevanten Situation in Indien traf die belangte Behörde Feststellungen zur Lage im Punjab, zur Gefährdung durch private oder nicht-staatliche Organisationen (Mitglieder terroristischer Gruppen, politischer Parteien etc.), zur überregionalen Polizeifahndung und zur Möglichkeit der Sicherung einer Existenzgrundlage außerhalb der engeren Heimat und stützte sich dabei auf ein Gutachten von Mag. Brüser, erstellt in einer mündlichen Berufungsverhandlung vor der belangten Behörde vom 31. März 2003, auf eine Information des deutschen Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Stand Mai 2000, und auf einen Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Indien, Stand Anfang Mai 2002, vom 5. Juni 2002.
Begründend führte die belangte Behörde weiter aus, dem festgestellten Sachverhalt sei nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer außerhalb seiner engeren Heimat Punjab Verfolgung durch Personen der Kongresspartei zu befürchten habe. Angesichts des gesamten Vorbringens des Beschwerdeführers sei auch nicht davon auszugehen, dass er zu dem von der Polizei in ganz Indien gesuchten (kleinen) exponierten Personenkreis zähle. Bestätigt würde dies durch die Tatsache, dass der Beschwerdeführer legal und problemlos vom Flughafen New Delhi, wo die zentrale Suchliste überprüft werde, ausreisen habe können. Da, wie aus den Feststellungen zu Indien ebenfalls hervorgehe, für den Beschwerdeführer auch keine wirtschaftliche Existenzgefährdung in "asyl- bzw. refoulementschutzrelevantem Ausmaß" anzunehmen sei, bestehe für ihn eine inländische Fluchtalternative.
Auch wenn die Menschenrechtslage in Indien, insbesondere was die Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden betreffe, weiterhin von Unrechtmäßigkeiten gekennzeichnet sei, ergebe sich daraus dennoch keine den Beschwerdeführer konkret betreffende Gefahr. Der Beschwerdeführer laufe im Falle seiner Rückkehr nach Indien dort möglicherweise Gefahr, Opfer nicht zielgerichteter, sondern willkürlicher Misshandlung zu werden, doch sei - wie dies aus dem angeführten Gutachten hervorgehe - die diesbezügliche Wahrscheinlichkeit sehr gering. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich im konkreten Fall des Beschwerdeführers das allgemein Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung verwirklichen könnte.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:
Die belangte Behörde stellte - entgegen dem Bundesasylamt - Verfolgungshandlungen gegen den Beschwerdeführer fest, nahm jedoch eine inländische Fluchtalternative für den Beschwerdeführer an.
In diesem Zusammenhang ging die belangte Behörde davon aus, dass der Beschwerdeführer "zweimal tätlich bedroht und geschlagen" worden sei. Diese Feststellung erweist sich als aktenwidrig. Der Beschwerdeführer behauptete weder in seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt noch in der mündlichen Berufungsverhandlung vor der belangten Behörde, geschlagen worden zu sein. Vielmehr sei er nach seinen Angaben mit dem Tode bedroht worden.
Die belangte Behörde traf zudem Feststellungen zur für den Beschwerdeführer und sein Fluchtvorbringen relevanten Situation in Indien, ohne die Quellen dieser Feststellungen dem Beschwerdeführer im Verfahren bzw. in der mündlichen Berufungsverhandlung zur Kenntnis gebracht und mit diesem erörtert zu haben.
Damit hat die belangte Behörde jedoch das Parteiengehör verletzt. Die Relevanz dieses Verfahrensmangels zeigt die Beschwerde mit ausführlicher Begründung auf, indem sie selbst auf von der belangten Behörde nicht herangezogenes Material zur Menschenrechtslage in Indien (Amnesty International; Jahresbericht 2003) verweist und auf Grundlage dieses Materials eine inländische Fluchtalternative für den Beschwerdeführer verneint.
Zur inländischen Fluchtalternative hielt die belangte Behörde dem Beschwerdeführer in der mündlichen Berufungsverhandlung lediglich Folgendes vor:
"Möglichkeiten der Sicherung einer Existenzgrundlage außerhalb der engeren Heimat: Die Möglichkeiten, sich außerhalb der engeren Heimat in Indien eine Existenzgrundlage zu schaffen, hängen sehr stark von den individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen und der körperlichen Verfassung ab und können durch Unterstützung seitens Verwandter, Freunde oder Glaubensbrüder deutlich erhöht werden.
Für unqualifizierte aber gesunde Menschen wird es in der Regel möglich sein, sich durch Gelegenheitsjobs (Tellerwäscher, Abfallsammler, Lagerarbeiter, Rikschafahrer etc.) seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Die Sikhs gelten als mobile und unternehmerische Gemeinschaft. In ganz Indien sind Sikhs in verschiedenen Berufen (Kraftfahrer, Mechaniker, Inhaber von Restaurants, Hotels oder Reisebüros etc.) und im öffentlichen Dienst anzutreffen. Bedürftigen Sikhs wird zumindest vorübergehend in Sikh-Tempeln (Gurudwara) Nahrung und Unterkunft gewährt."
Damit erachtete die belangte Behörde die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative für den Beschwerdeführer offenbar als gegeben. Sie nahm dabei jedoch nicht auf die individuelle, vom Beschwerdeführer sowohl vor dem Bundesasylamt als auch vor der belangten Behörde geltend gemachte Situation Bedacht. Der minderjährige Beschwerdeführer war nach eigenen Angaben Schüler und wurde von seinen Eltern finanziell unterstützt. Die belangte Behörde hätte im Hinblick auf das einer inländischen Fluchtalternative u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül - im vorliegenden Fall insbesondere unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers - nähere Feststellungen über die im Fall eines solchen Ortswechsels zu erwartende konkrete Lage des Beschwerdeführers treffen müssen. Allein deshalb entzieht sich der angefochtene Bescheid auch diesbezüglich einer nachvollziehbaren Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof. Auf rechtliche Einzelfragen im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative braucht unter diesen Umständen nicht eingegangen zu werden (vgl. in diesem Zusammenhang die hg. Erkenntnisse vom 11. Juni 2002, Zl. 2000/01/0305, vom 25. Mai 2004, Zl. 2003/01/0093, und vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/20/0304).
Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 19. Oktober 2006
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2006:2006190297.X00Im RIS seit
11.12.2006