TE OGH 1999/7/5 Bsw31534/96

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Veröffentlicht am 05.07.1999
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Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Matter gegen die Slowakei, Urteil vom 05.07.1999, Bsw. 31534/96.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch II, Beschwerdesache Matter gegen die Slowakei, Urteil vom 05.07.1999, Bsw. 31534/96.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 37 Abs. 1 EMRK - Dauer eines Verfahrens betreffend die Beurteilung der Handlungsfähigkeit eines Geisteskranken.Artikel 6, Absatz eins, EMRK, Artikel 8, EMRK, Artikel 37, Absatz eins, EMRK - Dauer eines Verfahrens betreffend die Beurteilung der Handlungsfähigkeit eines Geisteskranken.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).Keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war 1983 wegen fortschreitender paranoider Psychose entmündigt worden. Das Gericht führte aus, der Bf. sei seit mehr als 20 Jahren in psychiatrischer Behandlung, ferner habe sich seine Persönlichkeitsstruktur angesichts einer wachsenden Demenz rapide verschlechtert. 1987 wurde auf Antrag des Bf. ein Verfahren zur Prüfung der Frage eingeleitet, inwieweit seine Handlungsfähigkeit wiederhergestellt werden könne. Der Bf. lehnte es ab, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, worauf das Gericht die Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit ablehnte. Das Urteil wurde jedoch aufgehoben, da das gesetzlich vorgeschriebene Sachverständigengutachten nicht eingeholt worden war. Der darauf bestellte Sachverständige erklärte, eine objektive Bewertung des Geisteszustandes des Bf. mache eine stationäre Untersuchung notwendig. In der Folge ordnete das Erstgericht die Untersuchung des Bf. in einer Nervenklinik an - mit dem Hinweis, ihn im Falle seiner Weigerung zwangsweise vorführen zu lassen. Zu dem anberaumten Untersuchungstermin erschien der Bf. nicht, hingegen legte er gegen die gerichtliche Anordnung ein Rechtsmittel ein. Das Gericht 2. Instanz stellte fest, die Anordnung sei unrechtmäßig gewesen, da kein Sachwalter für den Bf. bestellt worden war. Nach erfolgter Sachwalterbestellung wurde der Bf. neuerlich zur stationären Untersuchung vorgeladen. Da er der Vorladung wiederum nicht Folge leistete, wurde er zwangsweise vorgeführt und von einem Neurologen untersucht. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass der Bf. an einer schweren Form einer paranoiden Psychose, einem organischen Psychosyndrom und einer Herzerkrankung leide und man einer Teilentmündigung zustimmen könne. Weiters empfahl er eine nochmalige Untersuchung nach zwei oder drei Jahren. Das Erstgericht sprach darauf die Teilentmündigung des Bf. aus.

Gegen diese Entscheidung erhob der Bf. ein Rechtsmittel, gleichzeitig stellte er einen Antrag auf Prüfung seiner Rechtssache durch ein anderes Gericht. Letzteres wurde vom Höchstgericht abgelehnt, hingegen ordnete es an, das Gericht 2. Instanz möge prüfen, ob die mit der Entscheidung befassten Richter vom Bf. wegen Befangenheit abgelehnt worden waren. Dieses kam - nach Weiterleitung der Anfrage an das Erstgericht und an das Gemeindeamt - zu dem Ergebnis, der Bf. habe die Richter tatsächlich wegen Befangenheit abgelehnt. Das Höchstgericht teilte diese Meinung jedoch nicht. 1995 hob das Gericht

2. Instanz das Urteil des Erstgerichts wegen eines Verfahrensmangels auf. Es stellte weiters fest, es sei aufgrund des längeren Zeitraums, der nach dem Urteil verstrichen war, notwendig, ein neues Sachverständigengutachten zu erstellen. In der Folge ersuchte das Erstgericht den Gesundheitsminister um Nennung eines Neurologen zur Abfassung eines neuen Sachverständigengutachtens, worauf dieser an die Universitätsklinik Pressburg verwies. Der Bf. lehnte es jedoch neuerlich ab, sich einer Untersuchung zu unterziehen. Anfang 1999 wurde dem Erstgericht von ärztlicher Seite mitgeteilt, der Bf. sei nicht transportfähig und könne daher nicht in der Universitätsklinik untersucht werden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, die Dauer des Verfahrens betreffend die Beurteilung seiner Handlungsfähigkeit habe Art. 6 (1) EMRK (Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer) verletzt. In diesem Zusammenhang behauptet er auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung der Privatsphäre), da er zur Untersuchung in der Nervenklinik gezwungen worden sei.Der Bf. behauptet, die Dauer des Verfahrens betreffend die Beurteilung seiner Handlungsfähigkeit habe Artikel 6, (1) EMRK (Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer) verletzt. In diesem Zusammenhang behauptet er auch eine Verletzung von Artikel 8, EMRK (hier: Recht auf Achtung der Privatsphäre), da er zur Untersuchung in der Nervenklinik gezwungen worden sei.

Die Reg. wendet ein, der GH sei von der Prüfung des Falles entbunden, da der Bf. während des gesamten Verfahrens untätig geblieben war. Eine Anwendung von Art. 37 (1) EMRK (Streichung von Beschwerden) kommt auf den vorliegenden Fall - angesichts der besonderen Situation des Bf. und der Tatsache, dass die Bsw. von der Kms. beim GH anhängig gemacht wurde - nicht in Betracht. Der Einwand wird daher zurückgewiesen (einstimmig).Die Reg. wendet ein, der GH sei von der Prüfung des Falles entbunden, da der Bf. während des gesamten Verfahrens untätig geblieben war. Eine Anwendung von Artikel 37, (1) EMRK (Streichung von Beschwerden) kommt auf den vorliegenden Fall - angesichts der besonderen Situation des Bf. und der Tatsache, dass die Bsw. von der Kms. beim GH anhängig gemacht wurde - nicht in Betracht. Der Einwand wird daher zurückgewiesen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK: Das Verfahren hatte die Beurteilung der Handlungsfähigkeit des Bf. zum Gegenstand. Der Ausgang des Verfahrens hatte somit direkte Auswirkungen auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen. Art. 6 (1) EMRK ist anwendbar. Der für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Zeitraum ist nicht ab Einleitung des Verfahrens auf Antrag des Bf. zu rechnen (18.2.1987), sondern ab 18.3.1992 - dem Tag, an dem die frühere tschechoslowak. Republik das Recht auf Individualbsw. gemäß Art. 25 (alt) EMRK anerkannt hat. Das Verfahren ist noch immer nicht abgeschlossen. Von obigem Zeitpunkt an gerechnet sind dies über sieben Jahre und drei Monate. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen: Die Komplexität des Falles, das Verhalten des Bf. und jenes der Behörden sind hierbei von besonderer Relevanz. In Fällen, die zivile Ansprüche und Verpflichtungen betreffen, ist von einer besonderen Sorgfaltspflicht der Behörden auszugehen - dies va. angesichts der nachteiligen Auswirkungen, die eine übermäßige Dauer des Verfahrens nach sich ziehen kann. Der Fall war insofern komplex, als der Geisteszustand des Bf. durch ärztliche Gutachten zu überprüfen war. Dies allein kann aber die Dauer des Verfahrens nicht rechtfertigen. Zwar hat der Bf. selbst zu Verfahrensverzögerungen beigetragen, indem er Untersuchungen beharrlich verweigerte, Richter des Gerichts 2. Instanz wegen Befangenheit ablehnte und die Prüfung seines Falls durch ein anderes Gericht beantragte. Was hingegen das Verhalten der Behörden angeht, sind diesen bei nicht weniger als fünf Verfahrensabschnitten erhebliche Verzögerungen anzulasten. Im Hinblick auf die für den Bf. auf dem Spiel stehenden Interessen handelten die Behörden nicht mit jener besonderen Sorgfalt, wie sie Art. 6 (1) EMRK in solchen Fällen verlangt. Die Verfahrensdauer war daher nicht mehr angemessen. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK: Das Verfahren hatte die Beurteilung der Handlungsfähigkeit des Bf. zum Gegenstand. Der Ausgang des Verfahrens hatte somit direkte Auswirkungen auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen. Artikel 6, (1) EMRK ist anwendbar. Der für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Zeitraum ist nicht ab Einleitung des Verfahrens auf Antrag des Bf. zu rechnen (18.2.1987), sondern ab 18.3.1992 - dem Tag, an dem die frühere tschechoslowak. Republik das Recht auf Individualbsw. gemäß Artikel 25, (alt) EMRK anerkannt hat. Das Verfahren ist noch immer nicht abgeschlossen. Von obigem Zeitpunkt an gerechnet sind dies über sieben Jahre und drei Monate. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen: Die Komplexität des Falles, das Verhalten des Bf. und jenes der Behörden sind hierbei von besonderer Relevanz. In Fällen, die zivile Ansprüche und Verpflichtungen betreffen, ist von einer besonderen Sorgfaltspflicht der Behörden auszugehen - dies va. angesichts der nachteiligen Auswirkungen, die eine übermäßige Dauer des Verfahrens nach sich ziehen kann. Der Fall war insofern komplex, als der Geisteszustand des Bf. durch ärztliche Gutachten zu überprüfen war. Dies allein kann aber die Dauer des Verfahrens nicht rechtfertigen. Zwar hat der Bf. selbst zu Verfahrensverzögerungen beigetragen, indem er Untersuchungen beharrlich verweigerte, Richter des Gerichts 2. Instanz wegen Befangenheit ablehnte und die Prüfung seines Falls durch ein anderes Gericht beantragte. Was hingegen das Verhalten der Behörden angeht, sind diesen bei nicht weniger als fünf Verfahrensabschnitten erhebliche Verzögerungen anzulasten. Im Hinblick auf die für den Bf. auf dem Spiel stehenden Interessen handelten die Behörden nicht mit jener besonderen Sorgfalt, wie sie Artikel 6, (1) EMRK in solchen Fällen verlangt. Die Verfahrensdauer war daher nicht mehr angemessen. Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK: Die Untersuchung des Bf. in einer Nervenklinik gegen seinen Willen war ein Eingriff in sein Recht auf Achtung der Privatsphäre. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Gesundheit des Bf. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischenZur behaupteten Verletzung von Artikel 8, EMRK: Die Untersuchung des Bf. in einer Nervenklinik gegen seinen Willen war ein Eingriff in sein Recht auf Achtung der Privatsphäre. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Gesundheit des Bf. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen

Gesellschaft notwendig war: In Entmündigungsfällen ist es durchaus üblich, dass von den Behörden nach einer gewissen Zeitspanne eine Prüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von solchen Maßnahmen vorgenommen wird. Im vorliegenden Fall hatte der Bf. selbst eine solche Nachprüfung beantragt. Außerdem waren die Gerichte zu einer Prüfung hinsichtlich des Fortbestands der diesen Maßnahmen zugrundeliegenden Entscheidungsgründe gesetzlich verpflichtet. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zur Beurteilung des Geisteszustandes des Bf. war somit rechtmäßig. Da der Bf. eine Untersuchung auf freiwilliger Basis verweigert hatte, wurde er mit Zustimmung seines Sachwalters und Bestätigung dieser Maßnahme durch das Gericht 2. Instanz in eine Nervenklinik bestellt. In der Folge wurde er zweimal zu einer Untersuchung vorgeladen und ihm beide Male im Falle seiner Weigerung eine Zwangsvorführung angedroht, die dann schließlich auch erfolgte. Angesichts dieser Umstände war der Eingriff verhältnismäßig. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).Gesellschaft notwendig war: In Entmündigungsfällen ist es durchaus üblich, dass von den Behörden nach einer gewissen Zeitspanne eine Prüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von solchen Maßnahmen vorgenommen wird. Im vorliegenden Fall hatte der Bf. selbst eine solche Nachprüfung beantragt. Außerdem waren die Gerichte zu einer Prüfung hinsichtlich des Fortbestands der diesen Maßnahmen zugrundeliegenden Entscheidungsgründe gesetzlich verpflichtet. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zur Beurteilung des Geisteszustandes des Bf. war somit rechtmäßig. Da der Bf. eine Untersuchung auf freiwilliger Basis verweigert hatte, wurde er mit Zustimmung seines Sachwalters und Bestätigung dieser Maßnahme durch das Gericht 2. Instanz in eine Nervenklinik bestellt. In der Folge wurde er zweimal zu einer Untersuchung vorgeladen und ihm beide Male im Falle seiner Weigerung eine Zwangsvorführung angedroht, die dann schließlich auch erfolgte. Angesichts dieser Umstände war der Eingriff verhältnismäßig. Keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Vor dem GH liegt kein Antrag des Bf. auf Zuerkennung einer gerechten Entschädigung vor. Eine Entscheidung darüber entfällt daher gemäß Art. 41 EMRK iVm. Art. 60 seiner Verfahrensordnung (einstimmig).Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: Vor dem GH liegt kein Antrag des Bf. auf Zuerkennung einer gerechten Entschädigung vor. Eine Entscheidung darüber entfällt daher gemäß Artikel 41, EMRK in Verbindung mit Artikel 60, seiner Verfahrensordnung (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Maciariello/I, Urteil v. 27.2.1992, A/230-A.

Philis/GR (Nr. 2), Urteil v. 27.6.1997.

Proszak/PL, Urteil v. 16.12.1997.

Pélissier & Sassi/F, Urteil v. 25.3.1999, NL 99/2/10; EuGRZ 1999,

323.

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 20.5.1998 eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK festgestellt (einstimmig); keine Verletzung von Art. 8 EMRK (9:4 Stimmen).Anmerkung, Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 20.5.1998 eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK festgestellt (einstimmig); keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (9:4 Stimmen).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.7.1999, Bsw. 31534/96, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1999, 125) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/99_4/Matter.pdf

Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00248 Bsw31534.96-U

Dokumentnummer

JJT_19990705_AUSL000_000BSW31534_9600000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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