TE Vfgh Erkenntnis 2002/6/26 B1344/01

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Veröffentlicht am 26.06.2002
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Index

L8 Boden- und Verkehrsrecht
L8200 Bauordnung

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Niederösterreich ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit € 2.339,88 bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1.1. Die Beschwerdeführer sind gemeinsam Eigentümer einer Liegenschaft im Gebiet der Marktgemeinde Wimpassing im Schwarzatale.

Mit Bescheid vom 12. Februar 1998 trug ihnen der Bürgermeister den Anschluß ihrer Liegenschaft an den Schmutzwasserkanal auf. Diesen Bescheid behob der Gemeinderat mit Bescheid vom 11. März 1999 und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die Behörde erster Instanz zurück, nachdem die belangte Behörde einen ersten - abweisenden - Berufungsbescheid aufgehoben hatte.

1.1.2. Mit Bescheid vom 20. September 1999 trug der Bürgermeister den Beschwerdeführern neuerlich den Anschluß ihrer Liegenschaft an den Schmutzwasserkanal auf.

Mit Bescheid vom 4. November 1999 wies der Gemeinderat eine dagegen gerichtete Berufung der Beschwerdeführer ab.

1.2. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer eine Vorstellung an die Niederösterreichische Landesregierung, die mit Bescheid vom 20. August 2001 abgewiesen wurde. Begründend berief sich die Landesregierung auf §62 Abs2 der Niederösterreichischen Bauordnung 1996 (in der Folge: NÖ BauO 1996).

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf Unverletzlichkeit des Eigentums und auf "ein faires, öffentliches Verfahren" sowie der Sache nach die Verletzung in Rechten durch Anwendung verfassungswidriger Gesetze behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

3. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie für die Abweisung der Beschwerde eintritt.

Die Marktgemeinde Wimpassing im Schwarzatale hat eine Äußerung erstattet, in der sie gleichfalls die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Mit Bescheid vom 11. März 1999 hatte der Gemeinderat den ursprünglichen Bescheid des Bürgermeisters aufgehoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die Behörde erster Instanz verwiesen. Diese entschied nach Durchführung eines ergänzenden Ermittlungsverfahrens mit Bescheid vom 20. September 1999. In diesem Zeitraum war also ein Verfahren nach §62 Abs2 NÖ BauO 1996 vor einer Gemeindebehörde anhängig. Diese Bestimmung wurde durch die 1. Novelle zur NÖ BauO 1996 neu gefaßt; die Novelle wurde am 16. September 1999 im Landesgesetzblatt kundgemacht und trat daher gemäß §9 NÖ VerlautbarungsG LGBl. 0700-2 nach Ablauf dieses Tages in Kraft. Gemäß ArtII der 1. Novelle zur NÖ BauO 1996 sind aber im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bei Gemeindebehörden anhängige Verfahren nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen.

Die Gemeindebehörden und die belangte Behörde hatten daher §62 Abs2 NÖ BauO in der Stammfassung anzuwenden. Dies haben sie auch getan.

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 12. Juni 2002, G 322,360,361/01, ausgesprochen, daß §62 Abs2 erster und zweiter Satz der NÖ BauO 1996 in der Stammfassung verfassungswidrig war.

2.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes auf den Anlaßfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlaßfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrundegelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlaßfall (im engeren Sinn), anläßlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10616/1985, 11711/1988).

2.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 5. März 2002. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 3. Oktober 2001 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig. Der Fall ist somit einem Anlaßfall gleichzuhalten.

Die belangte Behörde wandte bei Erlassung des angefochtenen Bescheides die als verfassungswidrig erkannte Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, daß diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war. Die Beschwerdeführer wurden somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.

Der Bescheid ist daher aufzuheben.

3. Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde zu berücksichtigen haben, daß der Verfassungsgerichtshof mit dem Erkenntnis vom 12. Juni 2002, G 322,360,361/01, auch §62 Abs2 erster und zweiter Satz der NÖ BauO 1996 idF der 1. Novelle als verfassungswidrig aufgehoben und daß er die Wirkung dieser Aufhebung auch auf das vorliegende Verfahren erstreckt hat.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag von 10 %, weiters Umsatzsteuer in der Höhe von € 359,70 sowie der Ersatz der entrichteten Gebühr gemäß §17a VfGG von € 181,68 enthalten. Dem darüber hinausgehenden, weitere 5 % Streitgenossenzuschlag ansprechenden Kostenbegehren war nicht Folge zu geben, weil es sich bei im verfassungsgerichtlichen Verfahren mitbeteiligten Parteien nicht um Streitgenossen iSd §15 RATG handelt (VfGH 14.3.2001, B1886/98; 12.12.2001, B346/01 ua.).

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

VfGH / Anlaßfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B1344.2001

Dokumentnummer

JFT_09979374_01B01344_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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