TE Vwgh Erkenntnis 2006/11/29 2006/18/0262

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.11.2006
beobachten
merken

Index

E2D Assoziierung Türkei;
E2D E02401013;
E2D E05204000;
E2D E11401020;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
FrPolG 2005 §60 Abs1 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs2;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Eisner, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 16. Mai 2006, Zl. UVS-FRG/20/771/2006/9, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes (mitbeteiligte Partei: IC, geboren 1982, vertreten durch Mag. Werner Hauser, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Praterstraße 54/10B), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

I.

1. Mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (der belangten Behörde) vom 16. Mai 2006 wurde der Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 10. Juli 2003, mit dem gegen den Mitbeteiligten, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 36 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 Fremdengesetz 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein unbefristetes Aufenthaltesverbot erlassen und verfügt worden war, dass er nach Eintritt der Durchsetzbarkeit dieses Bescheides aus dem Bundesgebiet unverzüglich auszureisen habe, gemäß § 66 Abs. 4 AVG aufgehoben.

Der Mitbeteiligte halte sich seit dem 5. September 1991 im Bundesgebiet auf und sei im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltestitels.

Mit Straferkenntnis vom 30. August 2000 sei er wegen § 37 Abs. 1 und 3 Z. 1 Führerscheingesetz mit S 5.000,--, Ersatzfreiheitsstrafe zehn Tage, und wegen § 134 KFG mit S 500,--, Ersatzfreiheitsstrafe ein Tag, rechtskräftig bestraft worden.

Mit rechtskräftigem Urteil des Jugendgerichtshofes Wien vom 23. Mai 2001 sei er wegen "§ 42/1143 15, § 142/1 15, § 164/2 und 4 105/1 83/1 StGB" zu einer Freiheitsstrafe von 42 Monaten, davon 28 Monate bedingt, verurteilt worden. Er habe mehrmals, und zwar zumindest am 23. und 24. Dezember 2000, im Zeitraum November oder Dezember 2000, am 15. oder 22. Dezember 2000, im September 2000, am 19. Jänner 2001 und am 11. Dezember 2000 "Straftaten" begangen "und dabei zum Teil Gewalt angedroht, Gewalt ausgeübt und Menschen verletzt".

Beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger lägen "vom 05.08.2003 bis laufend" Versicherungszeiten vor. Der Mitbeteiligte sei bis zum 14. November 2005 beschäftigt gewesen. Seither beziehe er Arbeitslosengeld.

Die Zeugin K habe in der mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde Folgendes angegeben:

"Das letzte Mal war ich mit dem Bw (Mitbeteiligten) vor knapp einem Jahr in Kontakt, als die Bewährungshilfe aufhörte.

...

Nach meiner Einschätzung ist der Bw deshalb straffällig geworden, da er sich auf Grund seiner Herkunft und seiner kleinen und untersetzten Statur minderwertig vorkam und er wollte vor seinen Freunden seine Männlichkeit unter Beweis stellen. Im Vergleich zu anderen meiner Klienten kann ich den Bw als geradezu 'Paradebeispiel' für einen betreuten bezeichnen, der sich gewandelt hat. Er hat das Unrechte seiner Tat absolut eingesehen. Zu seinen früheren Freunden hatte er nach Verbüßung der Haftstrafe überhaupt keinen Kontakt mehr gehabt. Der Bw hat nach der Verbüßung seiner Haftstrafe durchgehend gearbeitet. Wenn eine Beschäftigung beendet wurde, hat er sich sofort etwas neues gesucht. Ich bin mir sicher, dass der Bw jetzt keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstellt. Das kann man damit begründen, dass es zu einer Selbsteinsicht des Bw kam und dass er die Tat reflektieren kann, auch hat sich der Bw des weiteren versucht unserem gesellschaftlichen Leben anzupassen, so dem Nachgehen geregelter Arbeit und der sinnvollen Nutzung der Zeit anstelle diese mit Freunden in Lokalen zu verbringen."

Die belangte Behörde schenke den Ausführungen der Zeugin Glauben. Zwar handle es sich um "gravierende Verurteilungen" des Beschwerdeführers, der sich bei den "der Verurteilung zu Grunde liegenden Handlungen als überaus gewaltbereit gezeigt" habe, doch dürfe auf der anderen Seite

"das nach dieser Verurteilung zu Tage tretende Verhalten ebenso wenig außer Betracht bleiben wie der Umstand, dass der Bw diese verwerflichen Handlungen zum Teil als Beitragstäter gesetzt hat und dass er offensichtlich innerhalb der Gruppe auf Grund seiner geringen körperlichen Größe mitgerissen und verleitet wurde.

Dass die Verurteilung tatsächlich das Persönlichkeitsbild des Berufungswerbers geändert hat, erweist sich aus seinem der Verurteilung folgende, von der Zeugin glaubhaft geschilderten Sozialverhalten."

Der Mitbeteiligte sei beruflich integriert. Er habe sich seit der Verurteilung wohl verhalten. Dies sei der gerichtlichen Verurteilung unter "Bedachtnahme auf die Umstände, die zu den strafbaren Handlungen führten" gegenüberzustellen. Auf Grund dieser Gegenüberstellung sei von der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes Abstand zu nehmen.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Die belangte Behörde hat den Verwaltungsakt vorgelegt und auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet. Die mitbeteiligte Partei hat in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Gegen den Mitbeteiligten als türkischen Staatsangehörigen, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB) zukommt, ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Bei der Beurteilung kann auf den Katalog des § 60 Abs. 2 FPG als "Orientierungsmaßstab" zurückgegriffen werden. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen türkischen Staatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte, ist überdies nur dann zulässig, wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. (Vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom 27. Juni 2006, Zl. 2006/18/0138, demzufolge § 86 Abs. 1 FPG auch auf die genannten türkischen Staatsangehörigen Anwendung findet).

Für die Beantwortung der Frage, ob die oben umschriebene Annahme gerechtfertigt sei, ist zu prüfen, ob sich aus dem gesamten Fehlverhalten des Fremden ableiten lässt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit in der von § 86 Abs. 1 FPG geforderten Intensität gefährde. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. September 2006, Zl. 2006/18/0173).

2.1. Unter dem Gesichtspunkt fehlerhafter Beweiswürdigung bringt die beschwerdeführende Sicherheitsdirektion vor, die belangten Behörde habe übersehen, dass der Mitbeteiligte nur in wenigen Fällen als Beitragstäter an der strafbaren Handlung beteiligt gewesen sei. In sieben Fällen habe er allein gehandelt und den Opfern eine Gaspistole angehalten, um auf diese Weise Bargeld zu rauben. Auch an der vorsätzlichen Körperverletzung eines Jugendlichen sei der Mitbeteiligte aktiv beteiligt gewesen und habe dem Opfer mehrere Schläge versetzt. Er habe somit insgesamt ein Verhalten gesetzt, das nicht nur als äußerst brutal einzustufen sei, sondern auch die hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen an der Verhinderung der Eigentumskriminalität sowie am Schutz der Rechte und Freiheiten anderer nachhaltig gefährde. Er habe gegen maßgebliche Grundinteressen der Gesellschaft massiv verstoßen. Der seit der Verurteilung verstrichene Zeitraum sei zu kurz, um davon ausgehen zu können, dass er künftig kein strafbares Verhalten mehr setzen werde. Die Aussage einer Zeugin reiche nicht aus, um zu einer positiven Zukunftsprognose zu gelangen, zumal diese selbst ausgeführt habe, mit dem Mitbeteiligten "vor knapp einem Jahr in Kontakt" gewesen zu sein, sodass diese Aussage keinen Aktualitätsbezug aufweise. Die belangte Behörde habe sich vom Mitbeteiligten selbst kein Bild machen können, weil dieser zur Berufungsverhandlung nicht erschienen sei.

2.2. Die belangte Behörde hat - abweichend von der nach der oben dargestellten Rechtslage gebotenen Vorgangsweise - keine Feststellungen darüber getroffen, worin das Fehlverhalten des Beschwerdeführers konkret bestanden hat, sondern lediglich die Tatsache der Verurteilung angeführt. Sie hat sich nicht in der nach dem Gesagten erforderlichen Weise mit dem aus den Straftaten ergebenden Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers auseinandergesetzt. Sie hat nicht die erforderliche eigenständige Beurteilung vorgenommen, ob die im § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist, sondern nur festgestellt, dass sich "das Persönlichkeitsbild des Berufungswerbers geändert" habe. Die Bezugnahme auf die Aussage der genannten Zeugin vermag eine entsprechende eigenständige rechtliche Beurteilung nicht zu ersetzen.

3. Infolge der aufgezeigten Feststellungs- und Begründungsmängel war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde Feststellungen über die konkreten strafbaren Handlungen treffen und aus dem sich insbesondere daraus ergebenden Persönlichkeitsbild eine Gefährdungsprognose abzuleiten haben.

Wien, am 29. November 2006

Schlagworte

Begründung BegründungsmangelBesondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2006180262.X00

Im RIS seit

08.02.2007

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2009
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten