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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
FrG 1997 §36 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Eisner, über die Beschwerde des Y S, geboren 1978, vertreten durch Mag. Dr. Andreas Mauhart, Rechtsanwalt in 4040 Linz, Jahnstraße 10, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom 25. September 2003, Zl. St 213/03, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.088,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich (der belangten Behörde) vom 25. September 2003 wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 36 Abs. 1 und 2 Z. 1 und 5 iVm den §§ 37 bis 39 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.
Die Erstbehörde (Bundespolizeidirektion Linz) habe (in ihrem Bescheid vom 17. Juli 2003) folgenden Sachverhalt festgestellt:
Der Beschwerdeführer lebe seit Oktober 1990 in Österreich, sei verheiratet und habe zwei Kinder. Zuletzt sei ihm vom Magistrat der Landeshauptstadt Linz eine bis 23. Juni 2003 gültige Niederlassungsbewilligung erteilt worden.
Am 15. April 2003 (rechtskräftig 16. April 2003) sei er vom Landesgericht Ried/Innkreis gemäß § 104 Abs. 1 und 3 erster Fall FrG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Das Gericht habe es als erwiesen angesehen, dass er am 5. März 2003 in Suben und andernorts gewerbsmäßig die rechtswidrige Einreise von Fremden in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union mit dem Vorsatz gefördert habe, dass dies gegen einen nicht bloß geringfügigen Vermögensvorteil für ihn oder einen anderen geschähe, indem er vier türkische Staatsangehörige in seinem Pkw aufgenommen habe und in die BRD habe verbringen wollen.
Weiters führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer mehrere verwaltungsstrafrechtliche Vormerkungen aufweise. So sei er gemäß § 1 Abs. 3 Führerscheingesetz bestraft worden, weil am 8. Dezember 2000 einen Pkw ohne entsprechende Lenkberechtigung gelenkt habe. Ferner sei er gemäß § 43 Abs. 4 lit. c KFG bestraft worden, weil er es unterlassen habe, das Fahrzeug umzumelden.
Darüber hinaus führte die belangte Behörde noch sieben weitere verwaltungsbehördliche Vorstrafen des Beschwerdeführers unter Angabe der jeweiligen Geschäftszahl, der übertretenen Norm und der Höhe der verhängten Geldstrafe an. In Bezug auf das diesen Bestrafungen zu Grunde liegende Fehlverhalten des Beschwerdeführers führte sie im Wesentlichen lediglich aus, dass der Beschwerdeführer mehrmals ein verordnetes "Halten- und Parken-Verboten" missachtet habe, wobei er am 4. Mai 2002 durch sein vorschriftswidrig abgestelltes Fahrzeug einen anderen Verkehrsteilnehmer am Wegfahren gehindert habe, weshalb er gemäß § 23 Abs. 1 lit. a StVO bestraft worden sei.
Begründend führte die belangte Behörde nach Wiedergabe des wesentlichen Berufungsvorbringens des Beschwerdeführers und der maßgeblichen Gesetzesbestimmungen weiter aus, dass die Art und Häufigkeit der geradezu regelmäßig begangenen Straftaten des Beschwerdeführers ein Charakterbild erkennen ließen, das zweifelsohne den Schluss rechtfertige, dass er gegenüber der österreichischen Rechtsordnung negativ eingestellt sei und solcherart eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bilde.
Es sei nicht nur die in § 36 Abs. 1 FrG umschriebene Annahme, sondern das Aufenthaltsverbot auch im Licht des § 37 Abs. 1 leg. cit. gerechtfertigt. Zudem sei sein Gesamtfehlverhalten "doch schwerwiegenderer Art, weshalb nicht mehr nur mit einer bloßen niederschriftlichen Ermahnung das Auslangen gefunden werden konnte, sondern von der Ermessensbestimmung des § 36 Abs. 1 leg. cit. Gebrauch gemacht werden musste". Insbesondere die Vielzahl der vom Beschwerdeführer während der Dauer seines Aufenthaltes in Österreich begangenen Straftaten (gerichtliche Verurteilung und eine hohe Anzahl an Verwaltungsstrafen) und die sich in seiner Handlungsweise manifestierende Geringschätzung der österreichischen Rechtsordnung rechtfertigten die in § 36 Abs. 1 leg. cit. umschriebene Annahme, der zufolge ein Aufenthaltsverbot gegen ihn zu erlassen sei.
Unter Abwägung aller Tatsachen und im Hinblick auf die für seinen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu stellende negative Verhaltensprognose wögen die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung des Aufenthaltsverbotes wesentlich schwerer als die Auswirkungen dieser Maßnahme auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers, weshalb das Aufenthaltsverbot auch im Sinn des § 37 Abs. 2 FrG zulässig sei. Daran könnten sein lapidarer Hinweis, das Haftübel während seines Gefängnisaufenthaltes verspürt zu haben, und die Beteuerung, nie mehr wieder mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, nichts ändern.
Die in § 38 FrG normierten Tatbestände der Unzulässigkeit des Aufenthaltsverbotes kämen nicht zum Tragen, weil der maßgebliche Sachverhalt (Verwaltungsübertretungen) bereits vor seinem 10- jährigen Aufenthalt im Bundesgebiet verwirklicht worden sei.
Die Dauer des von der Erstbehörde verhängten Aufenthaltsverbotes sei nicht als rechtswidrig zu erkennen, zumal nach Ablauf dieser Zeit erwartet werden könne, dass sich der Beschwerdeführer an die im Bundesgebiet geltenden Normen halten werde.
Von der Aufnahme weiterer Beweise sei Abstand genommen worden, weil der entscheidungsrelevante Sachverhalt ausreichend ermittelt worden sei.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die Beschwerde wendet sich gegen die Beurteilung der belangten Behörde im Licht des § 38 Abs. 1 Z. 3 FrG und bringt vor, dass der Beschwerdeführer seit Oktober 1990 in Österreich lebe, sodass im Oktober 2000 die Voraussetzung eines mindestens zehnjährigen ununterbrochenen Hauptwohnsitzes im Bundesgebiet gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) wie auch die übrigen Voraussetzungen für die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 leg. cit. erfüllt gewesen seien, zumal auch die im angefochtenen Bescheid angeführten Verwaltungsübertretungen erst nach diesem Zeitpunkt gesetzt worden seien.
2.1. Gemäß § 38 Abs. 1 Z. 3 FrG darf ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn dem Fremden vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG hätte verliehen werden können, es sei denn, der Fremde wäre wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung rechtskräftig zu mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Gemäß § 10 Abs. 1 StbG kann die Staatsbürgerschaft einem Fremden verliehen werden, wenn er seit mindestens zehn Jahren seinen Hauptwohnsitz ununterbrochen im Bundesgebiet hat (Z. 1) und keiner der in den Z. 2 bis 8 dieses Absatzes genannten Tatbestände verwirklicht ist.
Unter dem Zeitpunkt "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" im Sinn des § 38 Abs. 1 Z. 3 FrG ist der Zeitpunkt vor Eintritt des ersten der in ihrer Gesamtheit für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgeblichen Umstände zu verstehen. Im Fall eines auf strafbaren Handlungen gegründeten Aufenthaltsverbots handelt es sich beim "maßgeblichen Sachverhalt" nicht um die jeweilige Verurteilung bzw. Bestrafung, sondern um das einer Verurteilung bzw. Bestrafung zu Grunde liegende Fehlverhalten, weil nur dieses die in § 36 Abs. 1 Z. 1 bzw. § 36 Abs. 1 Z. 2 FrG umschriebene, für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes notwendige Annahme rechtfertigen kann. Der "maßgebliche Sachverhalt" umfasst alle Umstände, die die Behörde zulässigerweise zur Begründung des im konkreten Fall in der festgesetzten Dauer (bzw. auf unbestimmte Zeit) verhängten Aufenthaltsverbotes herangezogen hat. Unzulässig wäre es, auch ein solches Fehlverhalten dem Aufenthaltsverbot zu Grunde zu legen und nach dem Gesagten in den "maßgeblichen Sachverhalt" im Sinn des § 38 Abs. 1 Z. 3 leg. cit. einzubeziehen, das unter Berücksichtigung des seither verstrichenen Zeitraumes nicht (mehr) geeignet ist, eine relevante Vergrößerung der von dem Fremden ausgehenden Gefährdung der maßgeblichen öffentlichen Interessen herbeizuführen, weil es die Behörde dadurch in der Hand hätte, den für die Beurteilung der Zulässigkeit des Aufenthaltsverbotes gemäß § 38 Abs. 1 Z. 3 leg. cit. maßgeblichen Zeitpunkt so weit nach vorne zu verschieben, dass der Fremde "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" die zehnjährige Wohnsitzfrist des § 10 Abs. 1 Z. 1 StbG - hiebei kommt es auf die Rechtmäßigkeit des inländischen Aufenthaltes nicht an (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 10. September 2003, Zl. 2000/18/0049, mwN) - nicht erfüllt. Die belangte Behörde ist jedoch nicht verpflichtet, die Gesamtheit der Umstände, die demnach noch geeignet erscheinen, eine relevante Vergrößerung der von dem Fremden ausgehenden Gefährdung der maßgeblichen öffentlichen Interessen herbeizuführen, als für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgeblich anzusehen, wenn schon in der jüngeren Vergangenheit liegende Umstände allein ausreichen, die Verhängung des Aufenthaltsverbotes zu rechtfertigen. Hat die belangte Behörde den Zeitpunkt "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" nach diesen Grundsätzen ermittelt, so liegt der Aufenthaltsverbot-Verbotsgrund nach § 38 Abs. 1 Z. 3 FrG vor, wenn dem Fremden in diesem Zeitpunkt die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG hätte verliehen werden können. Eine Verleihungsmöglichkeit in anderen Zeitpunkten vermag diesen Aufenthaltsverbot-Verbotsgrund nicht zu verwirklichen. Bei der Beurteilung, ob die Staatsbürgerschaft hätte verliehen werden können, ist die Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen nach § 10 Abs. 1 StbG zu prüfen. Dabei können die vor dem genannten Zeitpunkt liegenden Verhaltensweisen des Fremden einen Umstand darstellen, der der Verleihung der Staatsbürgerschaft zu diesem Zeitpunkt gemäß § 10 Abs. 1 Z. 6 leg. cit. entgegengestanden wäre. (Vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 31. März 2004, Zl. 99/18/0462, mwN.)
2.2. Nach den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen lebt der Beschwerdeführer seit Oktober 1990 in Österreich und liegt der oben (I.1.) genannten Verurteilung durch das Landesgericht Ried/Innkreis vom 15. April 2003 eine von ihm am 5. März 2003 begangene Straftat zu Grunde. Als weiteres für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes maßgebliches Fehlverhalten lastete die belangte Behörde dem Beschwerdeführer an, dass er am 8. Dezember 2000 einen Pkw ohne Lenkberechtigung gelenkt hatte, es zu einem nicht genannten Zeitpunkt unterlassen hatte, das Fahrzeug umzumelden, und am 4. Mai 2002 durch sein vorschriftswidrig abgestelltes Fahrzeug einen anderen Verkehrsteilnehmer am Wegfahren gehindert hatte. Der angefochtene Bescheid enthält jedoch keine Feststellungen betreffend ein vom Beschwerdeführer vor dem 8. Dezember 2000, insbesondere vor Oktober 2000, gesetztes Fehlverhalten.
Die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid vertretene - nicht näher begründete - Ansicht, dass u.a. der in § 38 Abs. 1 Z. 3 FrG normierte Tatbestand nicht zum Tagen komme, weil "der maßgebliche Sachverhalt (Verwaltungsübertretungen) bereits vor (dem( 10-jährigen Aufenthalt (des Beschwerdeführers( im Bundesgebiet verwirklicht wurde", findet daher in den von der belangten Behörde getroffenen Sachverhaltsfeststellungen keine Grundlage. Auf dem Boden des im angefochtenen Bescheid festgestellten Sachverhaltes ist vielmehr davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Begehung der ersten der von der belangten Behörde als maßgeblich festgestellten strafbaren Handlungen bereits länger als zehn Jahre seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hatte, sodass zu diesem Zeitpunkt die Verleihungsvoraussetzung nach § 10 Abs. 1 Z. 1 StbG erfüllt war.
Weiters ergeben sich aus dem festgestellten Sachverhalt auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass in dem genannten Zeitpunkt einer der übrigen Tatbestände des § 10 Abs. 1 leg. cit. einer Verleihung der Staatsbürgerschaft an den Beschwerdeführer entgegengestanden wäre.
2.3. Schon im Hinblick darauf erweist sich der angefochtene Bescheid seinem Inhalt nach als rechtswidrig.
3. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer in seiner Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid unter dem Blickwinkel des § 37 Abs. 1 und 2 FrG ein Vorbringen betreffend seine privaten und familiären Bindungen und Interessen in Österreich erstattet. Danach seien in Österreich zwei Kinder und seine Ehegattin, zwei Brüder, seine Schwester und seine Mutter und seine gesamte noch lebende Verwandtschaft aufhältig und sei er immer "brav" einer ordentlichen Beschäftigung nachgegangen. Im Zug seiner Arbeit habe er jedoch einen schweren Unfall erlitten, der ihn zum Invaliden gemacht habe. Seither sei er nicht mehr arbeitsfähig und beziehe eine kleine Invalidenpension. Er benötige ständige Therapie und brauche Medikamente, um seine Gesundheit nicht noch weiter zu gefährden und ein halbwegs normales Leben führen zu können. In der Türkei würden ihm die unbedingt benötigte Therapie und auch die Medikamente nicht mehr zur Verfügung stehen. Im Hinblick darauf wögen die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf seine Lebenssituation und die seiner Familie wesentlich schwerer als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von dessen Erlassung.
Mit Ausnahme davon, dass der Beschwerdeführer seit Oktober 1990 in Österreich lebe, verheiratet sei und zwei Kinder habe, finden sich im angefochtenen Bescheid keine Feststellungen zu den vorgebrachten persönlichen Bindungen und Interessen des Beschwerdeführers und seiner Familienangehörigen an seinem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Die von der belangten Behörde gemäß § 37 Abs. 1 und 2 FrG vorgenommene Interessenabwägung kann daher im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf Grund dieses insoweit eklatanten Feststellungs- und Begründungsmangels nicht überprüft werden.
Im Hinblick auf diesen Mangel ist auch der Aufhebungsgrund der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG erfüllt.
4. Da diesem Aufhebungsgrund jener der inhaltlichen Rechtswidrigkeit eines Bescheides vorgeht, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am 14. Dezember 2006
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2006:2003180319.X00Im RIS seit
10.01.2007