TE Vwgh Erkenntnis 2006/12/15 2006/19/0374

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Veröffentlicht am 15.12.2006
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des M in W, vertreten durch Dr. Klaus Fürlinger, Rechtsanwalt in 4040 Linz, Ferihumerstraße 31, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom 18. August 2003, Zl. 227.390/0-XIV/16/02, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Spruchpunkt wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Tadschike und Staatsangehöriger von Afghanistan, gelangte im Mai 2001 zusammen mit seiner Ehefrau und mehreren Kindern in das Bundesgebiet und beantragte Asyl.

Bei Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 8. Juni 2001 und am 3. August 2001 gab er an, sich bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan mit seiner Familie für ein Jahr in Char Kar, Parwan aufgehalten zu haben. Zuvor sei er drei bis dreieinhalb Jahre in Mirbachakot/Provinz Kabul und davor zwanzig Jahre in Kabul ansässig gewesen.

Sowohl in Char Kar, Parwan, als auch in Mirbachakot hätten er und seine Familie von Erlösen ihrer Landwirtschaft gelebt. Aus Kabul, Mirbachakot und Char Kar sei der Beschwerdeführer aus Angst vor den Taliban geflüchtet.

Sein Bruder und sein Vater seien von den Taliban getötet worden, weil sie unter Verdacht gestanden seien, mit Ahmad Schah Massoud zusammenzuarbeiten. Denselben Verdacht hätten die Taliban auch gegen ihn gehegt. Nach der Ermordung seines Vaters und seines Bruders durch die Taliban sei der Beschwerdeführer fast täglich Rekrutierungsmaßnahmen seitens der Truppen Massouds ausgesetzt gewesen, die ihn hätten zwingen wollen, gegen die Taliban zu kämpfen. Er habe nicht an der Seite Massouds gegen die Taliban kämpfen wollen, da mit seinem Tod seine Familie ihr Oberhaupt verloren hätte.

Zu den Ermittlungsergebnissen des Bundesasylamtes nahm der Beschwerdeführer mit Eingaben vom 26. September 2001 und vom 28. Jänner 2002 Stellung.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 26. Februar 2002 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG für zulässig.

Begründend führte das Bundesasylamt aus, dass Mitte November 2001 die Taliban aus dem Großteil Afghanistans vertrieben worden seien. Am 7. Dezember 2001 habe die Herrschaft der Taliban mit der Aufgabe von Kandahar geendet. Auf Grund der geänderten Lage in Afghanistan sei dem Beschwerdeführer "die Glaubwürdigkeit hinsichtlich einer zu befürchtenden Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan abzusprechen, weshalb die Glaubhaftmachung eines Asylgrundes von vornherein ausgeschlossen werden kann".

In Bezug auf die Frage, ob Abschiebungsschutz zu gewähren sei, hielt das Bundesasylamt fest, dass der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben aus einer wohlhabenden Familie stamme, weshalb er durch eine Abschiebung nach Afghanistan nicht in eine ausweglose Lage geraten würde und ihm eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar sei.

In seiner Berufung gegen diesen Bescheid führte der Beschwerdeführer aus, dass es die belangte Behörde verabsäumt habe zu prüfen, ob eine Verfolgung seitens ehemaliger Talibankämpfer, die es trotz Entmachtung des Taliban-Regimes immer noch geben würde, vorliegen könnte. Darüber hinaus habe ihn die ständige Ablehnung der Rekrutierungsversuche der Anhänger Massouds in Missgunst dieser Gruppierung gebracht.

Zu Beginn der mündlichen Berufungsverhandlung am 13. Juni 2003 hielt die belangte Behörde dem Beschwerdeführer die geänderte Lage nach dem Sturz des Taliban-Regimes vor.

Dazu gab der Beschwerdeführer an, dass sich in der Umgebung von Mirbachakot, wo er von 1996 bis 1999 gelebt habe, heute noch Pashtunen aufhalten würden, die sich damals Taliban genannt hätten. Im Jahre 1999 hätten die Taliban den landwirtschaftlichen Besitz des Beschwerdeführers in Mirbachakot (Häuser und 1.000 Weinstöcke) zerstört. Es sei alles eine Ruine. Der Grund und Boden sei in der Hand von Bewaffneten. Weiters führte der Beschwerdeführer wörtlich aus:

"Ich fürchte mich vor den Mujaheddin, die vor den Taliban regiert haben und wieder zurückgekommen sind und den Taliban, die immer noch existieren."

Im Folgenden erstattete der Sachverständige Dr. Rasuly in der Verhandlung ein Gutachten, das in seinen wesentlichen Passagen wörtlich lautete (BW steht für Berufungswerber und BAA für Bundesasylamt):

"Die Angaben des BW vor dem BAA am 3.8. und 8.6.2001 stimmen mit der damaligen Wirklichkeit überein. Tatsächlich haben die Taliban die Tajiken schwerst wegen Massoud verfolgt und das Schamalibecken (einschließlich die Herkunftsregion des BW, Mirbachakot/Provinz Kabul) vollständig zerstört. Die Bevölkerung wurde entweder vertrieben oder sie flüchteten nach Charikar, ca. 1 Std. von Mirbachakot nördlich entfernt.

In der Geschichte Afghanistans haben die pashtunischen Herrscher immer wieder die pashtunischen Stämme bei der Eroberung der nichtpashtunischen Gebiete auf die Bevölkerung losgelassen, sodass die Nichtpashtunen geplündert, getötet und ihre Häuser großteils zerstört wurden, wenn diese Bevölkerung sich nicht der pashtunischen Herrschaft/die Zentralregierung unterstellte. Die Herrschaft der Taliban war eine Wiederholung dieses Dilemmas in der afghanischen Geschichte. Daher ist die Befürchtung des BW, vor den eventuellen Rückkehr der pashtunischen Stämme als politische/militärische Herrschaft die Befürchtung der Mehrheit der Nichtpashtunen Afghanistans. Aber derzeit stellen die Taliban und Pashtunen im allgemeinen für die nichtpashtunischen Gebiete besonders im Gebiet des BW keine Gefahr dar, weil dort die Tajiken wieder ihr Schicksal bestimmen, es sei denn, dass die Taliban wieder kommen. Die Existenz der Pashtunen in den nichtpashtunischen Gebieten ist nicht neu. Die Pashtunen in diesen Gebieten wurden seit der Gründung des afghanischen Staates vor ca. 200 Jahren angesiedelt, sodass der BW als Tajike und ich als Nichtpashtune in den gemischten Gebieten aufgewachsen sind. Das Talibanregime existiert nicht mehr. Die Taliban sind in ihren Kerngebieten in Südost-Afghanistan aktiv. Sie werden von den Alliierten bekämpft. In den nicht (hauptsächlich) pashtunischen Gebieten herrschen die ehemalige Nordallianzpartei. Im Gebiet des BW herrscht Shura-e Nazar, die tajikische Gruppe unter dem Verteidigungsminister Marschal Fahim. Das Gebiet des BW ist von den Taliban vollständig zerstört worden. Es ist ein Weinanbaugebiet. Aufgrund der langjährigen Dürreperiode und der Talibanzerstörung sind tatsächlich die Weinstöcke ausgetrocknet, sodass ich persönlich während meiner Reise nach Afghanistan beobachten konnte, dass die Bevölkerung die ausgetrockneten Weinstöcke als Brennmaterial verkauft haben.

Zusammenfassend möchte ich darauf hinweisen, dass sich derzeit Kabul und andere Provinzen nördlich von Kabul, von wo auch der BW stammt, unter der Herrschaft Nordallianzpartei Jamiate islami/Shura-e Nazar befinden. An sich geht von den Pashtunen derzeit keine Gefahr gegen die Tajiken oder anderen nichtpashtunischen Ethnien Gefahr aus, aber wenn jemand persönliche Feindschaft mit einem Pashtunen hat, ist es nicht auszuschließen, dass sich dieser Pashtune gemäß der afghanischen Tradition, wenn es sich um Rache oder Blutrache handelt, auch in den mehrheitlich von Nichtpashtunen bewohnten Gebieten an seinen Feind rächt."

Über Vorhalt dieses Gutachtens führte der Beschwerdeführer erstmals aus, dass im Jahre 1993/1994 ein Mädchen in das Haus seines danach von den Taliban ermordeten Bruders gekommen sei und den Bruder habe heiraten wollen. Die Verwandten dieses Mädchens, das unerlaubterweise in ein fremden Haus gegangen wäre, hätten seinen Bruder beseitigen wollen. Durch Intervention der Ältesten sei es gelungen, die Verwandten zu beschwichtigen, indem man die dreijährige Tochter des Beschwerdeführers dieser Familie für die Zukunft als Braut versprochen habe. Der Beschwerdeführer wolle seine Tochter dieser Familie aber nicht als "Opfer" übergeben, weshalb er bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan von dieser Familie getötet würde.

Mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab. Mit den Spruchpunkten II. und III. erklärte sie die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG iVm § 57 Abs. 1 FrG für nicht zulässig und erteilte ihm gemäß § 15 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer und seine Familie in Mirbachakot ein Haus und eine Landwirtschaft (Weinstöcke) besessen hätten. Die Weinstöcke seien 1999 von den Taliban zerstört und das Haus des Beschwerdeführers angezündet worden. Sein Grund und Boden sei in der Hand von Bewaffneten. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan verlassen, da sein Bruder und sein Vater von den Taliban wegen Verdachtes der Kollaboration mit Massoud ermordet worden seien. Bei seiner Rückkehr nach Afghanistan fürchte sich der Beschwerdeführer vor den Pashtunen, welche sich damals Taliban genannt hätten.

Die Taliban würden als Machtapparat in Afghanistan nicht mehr existieren. Der vollständige Abzug der Taliban im Zusammenwirken mit der Konstituierung der provisorischen Übergangsregierung vom 22. Dezember 2001 würde ab dem Zeitpunkt 10. Dezember 2001 eine weitere asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers als nachhaltig unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die belangte Behörde wertet das erstmals in der Berufungsverhandlung erstattete Vorbringen des Beschwerdeführers - er fürchte von der Familie, der er seine Tochter entgegen einem Versprechen nicht als Braut übergeben wolle, getötet zu werden - als unglaubwürdig und begründet dies im Wesentlichen damit, dass es sich dabei um ein "gesteigertes Vorbringen" handle. Der Beschwerdeführer habe diesen Vorfall nämlich weder bei seinen zweimaligen erstinstanzlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt noch in seinen beiden ergänzenden Stellungnahmen vom 26. September 2001 bzw. vom 28. Jänner 2002 und auch nicht in seiner Berufung erwähnt. Dieses Vorbringen habe der Beschwerdeführer zudem erst erstattet, nachdem der Sachverständige in seinem mündlichen Gutachten ausgeführt hätte, dass von Pashtunen derzeit keine Gefahr für Tadschiken oder andere nichtpashtunische Ethnien ausgehen würde, außer es hätte jemand eine persönliche Feindschaft mit einem Pashtunen. In diesen Fällen müsste er Rache bzw. Blutrache fürchten.

Diese beweiswürdigenden Erwägungen erweisen sich auch unter Berücksichtigung der Beschwerdeausführungen als nicht unschlüssig. Auch kann der belangten Behörde in ihrer Einschätzung zum Wegfall der Bedrohung durch die Taliban nicht entgegen getreten werden. Allerdings übersieht die belangte Behörde, dass der Beschwerdeführer seine Befürchtungen für den Fall einer Rückkehr auch darauf gestützt hatte, dass die Mujaheddin, die vor den Taliban regiert hätten, wieder zurückgekommen seien.

Diese weiteren Vorbringensteile, die auch zu seinen Angaben, die ständige Ablehnung von Rekrutierungsversuchen der Anhänger Massouds hätten ihn in Missgunst dieser Mujaheddin-Gruppierung gebracht, in Beziehung zu setzen wären, wurden jedoch von der belangten Behörde keiner näheren Prüfung unterzogen. Auch die auf den Beschwerdeführer Bezug nehmenden Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Berufungsverhandlung beschränkten sich auf die nicht mehr bestehende Gefährdung durch Taliban und Pashtunen.

Damit fehlt im angefochtenen Bescheid aber eine nachvollziehbare Begründung, warum auch in dieser Hinsicht "eine weitere asylrelevante Verfolgung als nachhaltig unwahrscheinlich" erscheint.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 15. Dezember 2006

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2006190374.X00

Im RIS seit

02.02.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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