TE OGH 2000/6/27 11Os33/00

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.06.2000
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Lackner als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dr. Anton S***** wegen der Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 und Abs 2 lit a FinStrG, AZ 12 d Vr 2023/99 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Vorgang, dass die Mitteilung der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft zum Anklageeinspruch an den Beschuldigten zur Äußerung vor der Einspruchsentscheidung durch das Oberlandesgericht Wien unterblieb, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Bierlein, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juni 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Lackner als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Dr. Anton S***** wegen der Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach Paragraph 33, Absatz eins und Absatz 2, Litera a, FinStrG, AZ 12 d römisch fünf r 2023/99 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Vorgang, dass die Mitteilung der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft zum Anklageeinspruch an den Beschuldigten zur Äußerung vor der Einspruchsentscheidung durch das Oberlandesgericht Wien unterblieb, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Bierlein, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Wien legte Dr. Anton S***** im Verfahren des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zu AZ 12d Vr 2023/99 mit Anklageschrift vom 27. Mai 1999 die Begehung der Finanzvergehen nach § 33 Abs 1 und Abs 2 lit a FinStrG zur Last. Der dagegen vom Beschuldigten erhobene Einspruch blieb zufolge der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 28. Juli 1999, AZ 20 Bs 287/99, erfolglos.Die Staatsanwaltschaft Wien legte Dr. Anton S***** im Verfahren des Landesgerichtes für Strafsachen Wien zu AZ 12d römisch fünf r 2023/99 mit Anklageschrift vom 27. Mai 1999 die Begehung der Finanzvergehen nach Paragraph 33, Absatz eins und Absatz 2, Litera a, FinStrG zur Last. Der dagegen vom Beschuldigten erhobene Einspruch blieb zufolge der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 28. Juli 1999, AZ 20 Bs 287/99, erfolglos.

Die vom Gerichtshof zweiter Instanz vor Fällung des Einspruchserkenntnisses gemäß § 210 Abs 3 StPO eingeholte Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft Wien vom 16. Juli 1999, in welcher die Anklagebehörde mit ausführlicher Begründung zu dem in Rede stehenden Rechtsbehelf Stellung bezogen hat, wurde dem Angeklagten (über dessen Ersuchen) erst am 4. Oktober 1999, somit nach der Entscheidung des Oberlandesgerichtes zur Kenntnis gebracht. Nach Ansicht des Generalprokurators steht diese Vorgangsweise des Gerichtshofes zweiter Instanz mit dem Gesetz nicht im Einklang, weil das Unterbleiben der Mitteilung der Äußerung des Oberstaatsanwalts an den Beschuldigten gegen die (sinngemäß anzuwendende) Vorschrift des § 35 Abs 2 erster Satz StPO verstößt:Die vom Gerichtshof zweiter Instanz vor Fällung des Einspruchserkenntnisses gemäß Paragraph 210, Absatz 3, StPO eingeholte Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft Wien vom 16. Juli 1999, in welcher die Anklagebehörde mit ausführlicher Begründung zu dem in Rede stehenden Rechtsbehelf Stellung bezogen hat, wurde dem Angeklagten (über dessen Ersuchen) erst am 4. Oktober 1999, somit nach der Entscheidung des Oberlandesgerichtes zur Kenntnis gebracht. Nach Ansicht des Generalprokurators steht diese Vorgangsweise des Gerichtshofes zweiter Instanz mit dem Gesetz nicht im Einklang, weil das Unterbleiben der Mitteilung der Äußerung des Oberstaatsanwalts an den Beschuldigten gegen die (sinngemäß anzuwendende) Vorschrift des Paragraph 35, Absatz 2, erster Satz StPO verstößt:

"Diese durch das StPÄG 1993 (BGBl 1993/526) modifizierte Bestimmung ordnet an, dass das Rechtsmittelgericht (von bestimmten, hier nicht aktuellen Ausnahmefällen abgesehen - § 35 Abs 2 zweiter Satz StPO idF BGBl 1996/762) Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft zu einer Nichtigkeitsbeschwerde, einer Berufung oder einer Beschwerde dem Angeklagten mit dem Bedeuten bekanntzugeben hat, dass er sich binnen einer festzusetzenden angemessenen Frist hiezu äußern könne. Die im Interesse zweckmäßiger Verteidigung zur Wahrung des Grundsatzes der Kontradiktorietät des Strafverfahrens geschaffene Regelung trägt den Gesetzesmaterialien (924 BlgNR XVIII. GP, 14 ff) zufolge der Judikatur des EGMR (insbes Fälle Brandstetter gegen Österreich - ÖJZ 1992, 3 MRK 97; Bulut gegen Österreich - ÖJZ 1996, 16 MRK 430; Vermeulen gegen Belgien - ÖJZ 1996, 22 MRK 673; Werner gegen Österreich - NL 97/6/10) Rechnung, wonach das Fairnessgebot das Grundrecht auf ein zweiseitiges Strafverfahren in Bezug auf die Entscheidung über die Schuldfrage (und bei Prüfung der Haftfrage) umfasst."Diese durch das StPÄG 1993 (BGBl 1993/526) modifizierte Bestimmung ordnet an, dass das Rechtsmittelgericht (von bestimmten, hier nicht aktuellen Ausnahmefällen abgesehen - Paragraph 35, Absatz 2, zweiter Satz StPO in der Fassung BGBl 1996/762) Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft zu einer Nichtigkeitsbeschwerde, einer Berufung oder einer Beschwerde dem Angeklagten mit dem Bedeuten bekanntzugeben hat, dass er sich binnen einer festzusetzenden angemessenen Frist hiezu äußern könne. Die im Interesse zweckmäßiger Verteidigung zur Wahrung des Grundsatzes der Kontradiktorietät des Strafverfahrens geschaffene Regelung trägt den Gesetzesmaterialien (924 BlgNR römisch XVIII. GP, 14 ff) zufolge der Judikatur des EGMR (insbes Fälle Brandstetter gegen Österreich - ÖJZ 1992, 3 MRK 97; Bulut gegen Österreich - ÖJZ 1996, 16 MRK 430; Vermeulen gegen Belgien - ÖJZ 1996, 22 MRK 673; Werner gegen Österreich - NL 97/6/10) Rechnung, wonach das Fairnessgebot das Grundrecht auf ein zweiseitiges Strafverfahren in Bezug auf die Entscheidung über die Schuldfrage (und bei Prüfung der Haftfrage) umfasst.

Zwar nennt § 35 Abs 2 StPO den hier aktuellen Anklageeinspruch nicht. Ungeachtet der Konzeption dieses Instituts als (ordentlicher) Rechtsbehelf gegen unbegründete Verfolgungsanträge des Anklägers (Foregger/Kodek StPO7 § 208 Anm III) und der Besonderheiten des die Schuldfrage nicht abschließend lösenden Einspruchserkenntnisses dient die Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft zum Anklageeinspruch der Vorbereitung einer gerichtlichen Entscheidung, die ua über die Verdachtslage (im Fall der Bestätigung der Anklage allerdings nur vorläufig) absprechen, ferner uU weitere Verfügungen, insbesondere über die Haft des Beschuldigten (§ 214 Abs 2 StPO), enthalten kann. Aus diesem Grund sowie mit Rücksicht auf den aus den Gesetzesmaterialien hervorleuchtenden legistischen Willen zur Einhaltung des Prinzips der "Waffengleichheit" durch ein kontradiktorisches Verfahren kann wohl nicht von der bewussten (und generellen) Ausklammerung des gegenständlichen Rechtsinstituts aus dem Anwendungsbereich des § 35 Abs 2 StPO ausgegangen werden. Vielmehr ist das Vorliegen einer durch Analogie schließbaren planwidrigen Gesetzeslücke (Foregger/Kodek aaO § 1 Anm VI; Roeder, Lehrbuch des Strafverfahrensrechtes2 8) anzunehmen, zumal nicht einmal auf den Fall eines wie eine Haftbeschwerde wirkenden Anklageeinspruches (§ 214 Abs 2 StPO; s o) eingegangen wurde, dessen auch in der Haftfrage abschlägige Erledigung im Sinne einer dem Einspruchswerber nicht zur Kenntnis gebrachten Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft keinesfalls der gesetzgeberischen Zielsetzung - der Beachtung des Fairnessgebotes - entspräche und überdies eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung eines solchen Einspruchswerbers gegenüber dem einen "implizierten Anklageeinspruch" (§ 210 Abs 4 StPO) erhebenden Beschuldigten bedeuten würde. Aus der in §§ 210 Abs 4 und 214 Abs 2 StPO vorgesehenen gemeinsamen prozessualen Behandlung des Einspruches gegen die Anklageschrift und der Haftbeschwerde durch den Gerichtshof zweiter Instanz, welcher die Verdachtsgrundlagen (§ 213 Abs 1 Z 2 StPO) ebenso (von Amts wegen) zu prüfen hat wie die Haftvoraussetzungen, erhellt auch, dass an die Ausformung des Einspruchsverfahrens (ungeachtet der späteren Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten im Stadium der Hauptverhandlung) keine geringeren Anforderungen zu stellen sind als an das Beschwerdeverfahren. Denn das Prinzip der Waffengleichheit gilt nicht erst in der Hauptverhandlung. Im Stadium nach Mitteilung der Anklageschrift - in welchem nicht mehr von einer Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Kenntnisnahme der Beschuldigtenseite von einzelnen Aktenstücken ausgegangen werden darf (§ 45 Abs 2 dritter Satz StPO) - kann nur ein kontradiktorisches Verfahren diesem Prinzip gerecht werden.Zwar nennt Paragraph 35, Absatz 2, StPO den hier aktuellen Anklageeinspruch nicht. Ungeachtet der Konzeption dieses Instituts als (ordentlicher) Rechtsbehelf gegen unbegründete Verfolgungsanträge des Anklägers (Foregger/Kodek StPO7 Paragraph 208, Anmerkung römisch III) und der Besonderheiten des die Schuldfrage nicht abschließend lösenden Einspruchserkenntnisses dient die Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft zum Anklageeinspruch der Vorbereitung einer gerichtlichen Entscheidung, die ua über die Verdachtslage (im Fall der Bestätigung der Anklage allerdings nur vorläufig) absprechen, ferner uU weitere Verfügungen, insbesondere über die Haft des Beschuldigten (Paragraph 214, Absatz 2, StPO), enthalten kann. Aus diesem Grund sowie mit Rücksicht auf den aus den Gesetzesmaterialien hervorleuchtenden legistischen Willen zur Einhaltung des Prinzips der "Waffengleichheit" durch ein kontradiktorisches Verfahren kann wohl nicht von der bewussten (und generellen) Ausklammerung des gegenständlichen Rechtsinstituts aus dem Anwendungsbereich des Paragraph 35, Absatz 2, StPO ausgegangen werden. Vielmehr ist das Vorliegen einer durch Analogie schließbaren planwidrigen Gesetzeslücke (Foregger/Kodek aaO Paragraph eins, Anmerkung VI; Roeder, Lehrbuch des Strafverfahrensrechtes2 8) anzunehmen, zumal nicht einmal auf den Fall eines wie eine Haftbeschwerde wirkenden Anklageeinspruches (Paragraph 214, Absatz 2, StPO; s o) eingegangen wurde, dessen auch in der Haftfrage abschlägige Erledigung im Sinne einer dem Einspruchswerber nicht zur Kenntnis gebrachten Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft keinesfalls der gesetzgeberischen Zielsetzung - der Beachtung des Fairnessgebotes - entspräche und überdies eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung eines solchen Einspruchswerbers gegenüber dem einen "implizierten Anklageeinspruch" (Paragraph 210, Absatz 4, StPO) erhebenden Beschuldigten bedeuten würde. Aus der in Paragraphen 210, Absatz 4 und 214 Absatz 2, StPO vorgesehenen gemeinsamen prozessualen Behandlung des Einspruches gegen die Anklageschrift und der Haftbeschwerde durch den Gerichtshof zweiter Instanz, welcher die Verdachtsgrundlagen (Paragraph 213, Absatz eins, Ziffer 2, StPO) ebenso (von Amts wegen) zu prüfen hat wie die Haftvoraussetzungen, erhellt auch, dass an die Ausformung des Einspruchsverfahrens (ungeachtet der späteren Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten im Stadium der Hauptverhandlung) keine geringeren Anforderungen zu stellen sind als an das Beschwerdeverfahren. Denn das Prinzip der Waffengleichheit gilt nicht erst in der Hauptverhandlung. Im Stadium nach Mitteilung der Anklageschrift - in welchem nicht mehr von einer Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Kenntnisnahme der Beschuldigtenseite von einzelnen Aktenstücken ausgegangen werden darf (Paragraph 45, Absatz 2, dritter Satz StPO) - kann nur ein kontradiktorisches Verfahren diesem Prinzip gerecht werden.

Das Oberlandesgericht wäre daher verpflichtet gewesen, die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft zum gegenständlichen Anklageeinspruch dem Beschuldigten vor der Entscheidung unter Einräumung einer Äußerungsfrist zur Kenntnis zu bringen. Dafür, dass der Verstoß gegen diese Verpflichtung zu einer konkreten Benachteiligung des Angeklagten geführt haben und daher Anlass zu einem Vorgehen nach § 292 letztem Satz StPO geben könnte, fehlt es allerdings an Anhaltspunkten."Das Oberlandesgericht wäre daher verpflichtet gewesen, die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft zum gegenständlichen Anklageeinspruch dem Beschuldigten vor der Entscheidung unter Einräumung einer Äußerungsfrist zur Kenntnis zu bringen. Dafür, dass der Verstoß gegen diese Verpflichtung zu einer konkreten Benachteiligung des Angeklagten geführt haben und daher Anlass zu einem Vorgehen nach Paragraph 292, letztem Satz StPO geben könnte, fehlt es allerdings an Anhaltspunkten."

Ungeachtet dieser Auffassung führt die Nichtigkeitsbeschwerde, die auf eine Vereinheitlichung unterschiedlicher Verfahrenspraxen der Oberlandesgerichte abzielt, auch Überlegungen dafür an, eine dem § 35 Abs 2 StPO entsprechende Vorgangsweise bei Anklageeinsprüchen für entbehrlich anzusehen:Ungeachtet dieser Auffassung führt die Nichtigkeitsbeschwerde, die auf eine Vereinheitlichung unterschiedlicher Verfahrenspraxen der Oberlandesgerichte abzielt, auch Überlegungen dafür an, eine dem Paragraph 35, Absatz 2, StPO entsprechende Vorgangsweise bei Anklageeinsprüchen für entbehrlich anzusehen:

"Demnach wäre die für die Annahme einer analogiebedürftigen Gesetzeslücke entscheidende Garantie des fair trial über strafrechtliche Anklagen (Art 6 Abs 1 MRK) auf Verfahrensschritte zu beziehen, welche die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld des Betroffenen sowie die Straffestsetzung zum Gegenstand haben, nicht aber auf eine durch das Anklageeinspruchsverfahren stattfindende richterliche Überprüfung, ob der Ankläger gesetzliche Voraussetzungen erfüllt hat, um eine Entscheidung über Schuld- und Straffrage durch ein erkennendes Gericht überhaupt herbeizuführen. Außerdem müsse die Einhaltung des Fairnessgebots unter Zugrundelegung des Gesamtverfahrens beurteilt werden, nicht eines singulären Prozessabschnittes, der auf Anrufung eines Gerichts durch den Beschuldigten gegen den Ankläger reduziert ist. Unter diesem Aspekt löst die dem Prinzip "audiatur et altera pars" folgende Anhörung des Oberstaatsanwalts zum Anklageeinspruch kein Erfordernis eines Chancenausgleichs durch Ermöglichung der Beschuldigtenstellungnahme aus, weil das Oberlandesgericht zwar die Anklage zu Gunsten des Einspruchswerbers korrigieren, aber - mangels sonstiger Bindungswirkung der Entscheidung - weder das künftige Verteidigungsvorbringen des Angeklagten im fortgesetzten Verfahren in irgendeiner Weise einschränken noch direkt oder indirekt über die Stichhältigkeit des Schuldvorwurfs der Anklage absprechen kann (§ 215 Abs 1 StPO; RZ 1960, 96). Angesichts der aufgezeigten Sonderstellung des Anklageeinspruchs (und bei Berücksichtigung des bisherigen Niveaus der Justizgesetzgebung) wäre demgemäß eine ungewollte Ausklammerung des Rechtsbehelfs bei der Regelung der im § 35 Abs 2 StPO bezeichneten Rechtsmittelverfahren nicht gerade naheliegend.""Demnach wäre die für die Annahme einer analogiebedürftigen Gesetzeslücke entscheidende Garantie des fair trial über strafrechtliche Anklagen (Artikel 6, Absatz eins, MRK) auf Verfahrensschritte zu beziehen, welche die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld des Betroffenen sowie die Straffestsetzung zum Gegenstand haben, nicht aber auf eine durch das Anklageeinspruchsverfahren stattfindende richterliche Überprüfung, ob der Ankläger gesetzliche Voraussetzungen erfüllt hat, um eine Entscheidung über Schuld- und Straffrage durch ein erkennendes Gericht überhaupt herbeizuführen. Außerdem müsse die Einhaltung des Fairnessgebots unter Zugrundelegung des Gesamtverfahrens beurteilt werden, nicht eines singulären Prozessabschnittes, der auf Anrufung eines Gerichts durch den Beschuldigten gegen den Ankläger reduziert ist. Unter diesem Aspekt löst die dem Prinzip "audiatur et altera pars" folgende Anhörung des Oberstaatsanwalts zum Anklageeinspruch kein Erfordernis eines Chancenausgleichs durch Ermöglichung der Beschuldigtenstellungnahme aus, weil das Oberlandesgericht zwar die Anklage zu Gunsten des Einspruchswerbers korrigieren, aber - mangels sonstiger Bindungswirkung der Entscheidung - weder das künftige Verteidigungsvorbringen des Angeklagten im fortgesetzten Verfahren in irgendeiner Weise einschränken noch direkt oder indirekt über die Stichhältigkeit des Schuldvorwurfs der Anklage absprechen kann (Paragraph 215, Absatz eins, StPO; RZ 1960, 96). Angesichts der aufgezeigten Sonderstellung des Anklageeinspruchs (und bei Berücksichtigung des bisherigen Niveaus der Justizgesetzgebung) wäre demgemäß eine ungewollte Ausklammerung des Rechtsbehelfs bei der Regelung der im Paragraph 35, Absatz 2, StPO bezeichneten Rechtsmittelverfahren nicht gerade naheliegend."

Zu diesen gegensätzlichen Standpunkten hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Ausgangspunkt der Überlegungen hat das konkrete, von der Nichtigkeitsbeschwerde betroffene Verfahren, in welchem sich der Beschuldigte bei Anklageerhebung auf freiem Fuß befand, und die als verletzt bezeichnete Bestimmung des § 35 Abs 2 StPO zu bilden. Der Zweck dieser durch das Strafprozessänderungsgesetz 1993 eingeführten Vorschrift liegt - worauf die Nichtigkeitsbeschwerde unter Zitierung der Gesetzesmaterialien zutreffend hinweist - in der Vermeidung künftiger Konventionsverletzungen und Menschenrechtsbeschwerden durch die konsequente Beachtung des Grundsatzes der Kontradiktorietät des Strafverfahrens. Hiezu wird in der Regierungsvorlage unter anderem der Standpunkt des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wiedergegeben, wonach jede Äußerung einer Verfahrenspartei, die auf eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache (über die Schuld- oder Straffrage) oder aber in der Haftfrage abzielt, der Gegenpartei zuzustellen ist, der zugleich eine reale Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen ist (924 der Beilagen, S 14f). Aus dieser Intention des Gesetzgebers, das Grundrecht auf ein zweiseitiges Strafverfahren im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu verstärken, lässt sich aber nicht ableiten, dass im Wortlaut der neu geschaffenen Gesetzesstelle, in welcher (nur) "Stellungnahmen des Staatsanwaltes bei einem Rechtsmittelgericht zu einer Nichtigkeitsbeschwerde, einer Berufung oder einer Beschwerde", nicht aber zu einem Anklageeinspruch angeführt sind, eine planwidrige (analogiebedürftige) Gesetzeslücke zu erblicken ist; vermag doch letzterer Rechtsbehelf keine Entscheidung über die Schuld herbeizuführen oder irgendeine Bindungswirkung für das nachfolgende, den Garantien des Art 6 MRK unterliegende Verfahren zu entfalten.Ausgangspunkt der Überlegungen hat das konkrete, von der Nichtigkeitsbeschwerde betroffene Verfahren, in welchem sich der Beschuldigte bei Anklageerhebung auf freiem Fuß befand, und die als verletzt bezeichnete Bestimmung des Paragraph 35, Absatz 2, StPO zu bilden. Der Zweck dieser durch das Strafprozessänderungsgesetz 1993 eingeführten Vorschrift liegt - worauf die Nichtigkeitsbeschwerde unter Zitierung der Gesetzesmaterialien zutreffend hinweist - in der Vermeidung künftiger Konventionsverletzungen und Menschenrechtsbeschwerden durch die konsequente Beachtung des Grundsatzes der Kontradiktorietät des Strafverfahrens. Hiezu wird in der Regierungsvorlage unter anderem der Standpunkt des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wiedergegeben, wonach jede Äußerung einer Verfahrenspartei, die auf eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache (über die Schuld- oder Straffrage) oder aber in der Haftfrage abzielt, der Gegenpartei zuzustellen ist, der zugleich eine reale Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen ist (924 der Beilagen, S 14f). Aus dieser Intention des Gesetzgebers, das Grundrecht auf ein zweiseitiges Strafverfahren im Sinne der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu verstärken, lässt sich aber nicht ableiten, dass im Wortlaut der neu geschaffenen Gesetzesstelle, in welcher (nur) "Stellungnahmen des Staatsanwaltes bei einem Rechtsmittelgericht zu einer Nichtigkeitsbeschwerde, einer Berufung oder einer Beschwerde", nicht aber zu einem Anklageeinspruch angeführt sind, eine planwidrige (analogiebedürftige) Gesetzeslücke zu erblicken ist; vermag doch letzterer Rechtsbehelf keine Entscheidung über die Schuld herbeizuführen oder irgendeine Bindungswirkung für das nachfolgende, den Garantien des Artikel 6, MRK unterliegende Verfahren zu entfalten.

Für eine bewusst unterschiedliche Behandlung des in Rede stehenden Rechtsbehelfs gegenüber den in § 35 Abs 2 StPO genannten Rechtsmitteln spricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber im Strafrechtsänderungsgesetz 1996 zwar eine abermalige Angleichung dieser Gesetzesbestimmung an die neueste Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vornahm, ohne allerdings die Zustellung von Stellungnahmen der Oberstaatsanwaltschaft zu Anklageeinsprüchen vorzuschreiben.Für eine bewusst unterschiedliche Behandlung des in Rede stehenden Rechtsbehelfs gegenüber den in Paragraph 35, Absatz 2, StPO genannten Rechtsmitteln spricht auch der Umstand, dass der Gesetzgeber im Strafrechtsänderungsgesetz 1996 zwar eine abermalige Angleichung dieser Gesetzesbestimmung an die neueste Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vornahm, ohne allerdings die Zustellung von Stellungnahmen der Oberstaatsanwaltschaft zu Anklageeinsprüchen vorzuschreiben.

Die Notwendigkeit einer Ausdehnung der Regelung des § 35 Abs 2 StPO auf Anklageeinspruchsverfahren aus dem Grunde der konventions- und verfassungskonformen Interpretation ergibt sich weder aus den Bestimmungen der MRK selbst noch aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Die Entscheidungen dieses Gerichtshofes, die zur Mitteilung von Stellungnahmen der Anklagebehörde unter dem Aspekt des Grundsatzes der Waffengleichheit erflossen sind (vgl die in der Nichtigkeitsbeschwerde zitierten Erkenntnisse), beziehen sich durchwegs auf Rechtsmittelverfahren. Die Gestaltung von Prozessabschnitten, die der Entscheidung der Schuldfrage und der Straffestsetzung dienen, ist für die Beurteilung, ob ein Strafverfahren (insgesamt) als "fair" anzusehen ist, von maßgeblicher Bedeutung; eine solche kommt aber dem Teilbereich des Anklageeinspruchs, welcher noch dem Vorverfahren zuzurechnen ist, zufolge der von der Strafprozessordnung eingeräumten Sonderstellung dieses Rechtsbehelfs nicht zu.Die Notwendigkeit einer Ausdehnung der Regelung des Paragraph 35, Absatz 2, StPO auf Anklageeinspruchsverfahren aus dem Grunde der konventions- und verfassungskonformen Interpretation ergibt sich weder aus den Bestimmungen der MRK selbst noch aus der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Die Entscheidungen dieses Gerichtshofes, die zur Mitteilung von Stellungnahmen der Anklagebehörde unter dem Aspekt des Grundsatzes der Waffengleichheit erflossen sind vergleiche die in der Nichtigkeitsbeschwerde zitierten Erkenntnisse), beziehen sich durchwegs auf Rechtsmittelverfahren. Die Gestaltung von Prozessabschnitten, die der Entscheidung der Schuldfrage und der Straffestsetzung dienen, ist für die Beurteilung, ob ein Strafverfahren (insgesamt) als "fair" anzusehen ist, von maßgeblicher Bedeutung; eine solche kommt aber dem Teilbereich des Anklageeinspruchs, welcher noch dem Vorverfahren zuzurechnen ist, zufolge der von der Strafprozessordnung eingeräumten Sonderstellung dieses Rechtsbehelfs nicht zu.

Soweit die Argumentation der Nichtigkeitsbeschwerde an die in der Einspruchsentscheidung gleichzeitig vorzunehmende Prüfung der Haftvoraussetzungen (§ 214 Abs 2 StPO) anknüpft, lässt dies keine Rückschlüsse auf den vorliegenden (sachlich anders gelagerten) Anlassfall eines Strafverfahrens zu, in welchem sich der Angeklagte auf freiem Fuß befand.Soweit die Argumentation der Nichtigkeitsbeschwerde an die in der Einspruchsentscheidung gleichzeitig vorzunehmende Prüfung der Haftvoraussetzungen (Paragraph 214, Absatz 2, StPO) anknüpft, lässt dies keine Rückschlüsse auf den vorliegenden (sachlich anders gelagerten) Anlassfall eines Strafverfahrens zu, in welchem sich der Angeklagte auf freiem Fuß befand.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.

Anmerkung

E58397 11d00330

Schlagworte

Kennung XPUBL Diese Entscheidung wurde veröffentlicht in Jus-Extra OGH-St 2911 = ÖJZ-LSK 2000/255 = EvBl 2001/9 S 27 - EvBl 2001,27 = ecolex 2001,77 XPUBLEND

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2000:0110OS00033..0627.000

Zuletzt aktualisiert am

10.07.2008
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten