Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 9. November 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder, Dr. Schmucker, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Krüger als Schriftführer, in der Strafsache gegen Salvatore Lamanna wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Unterlassung der öffentlichen Kundmachung des Beschlusses des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Salzburg vom 10. Oktober 1994, GZ 36 Vr 1901/93-292, sowie der Beanstandung dieses Mangels im Beschluss des Oberlandesgerichtes Linz vom 1. Februar 1995, GZ 36 Vr 1901/93-312, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Weiss, und des Verteidigers Dr. Herzog, jedoch in Abwesenheit des Freigesprochen, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache gegen Salvatore Lamanna, AZ 36 Vr 1901/93 des Landesgerichtes Salzburg, verletzt
die Unterlassung der öffentlichen Verkündung des Beschlusses eines Geschworenengerichtes beim Landesgericht Salzburg vom 10. Oktober 1994 gemäß § 2 Abs 1 (richtig:) lit b StEG sowie das Nichtbeanstanden bzw Beheben dieses Mangels durch öffentliche Verkündung anlässlich der Beschlussfassung durch das Oberlandesgericht Linz vom 1. Februar 1995
§ 6 Abs 4 StEG iVm Art 6 Abs 1 EMRK.§ 6 Abs 4 StEG in Verbindung mit Art 6 Abs 1 EMRK.
Dem Oberlandesgericht Linz wird aufgetragen, den Beschluss vom 1. Februar 1995, 9 Bs 455/94, in öffentlicher Sitzung zu verkünden.
Text
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mit Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Salzburg vom 10. Oktober 1994, GZ 36 Vr 1901/93-291, wurde Salvatore Lamanna von der gegen ihn wegen der Verbrechen des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB und des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB und des Vergehens nach § 36 Abs 1 Z 1 WaffG 1986 erhobenen Anklage gemäß § 336 StPO freigesprochen. Salvatore Lamanna hatte sich seit 11. März 1993 bis zur Hauptverhandlung am 10. Oktober 1994 in Auslieferungs- und Untersuchungshaft befunden.
Nachdem die Anklagebehörde zum Urteil keine Erklärung abgegeben hatte, stellte der Verteidiger noch in der öffentlichen Verhandlung (u.a.) den Antrag auf Zuerkennung einer Haftentschädigung. Die Staatsanwaltschaft sprach sich dagegen aus, der Angeklagte schloss sich dem Vorbringen seines Verteidigers an (ON 290, letzte Seite).
Im Anschluss an diese öffentliche Verhandlung über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch fasste das Geschworenengericht beim Landesgericht Salzburg in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss, dass Salvatore Lamanna ein Ersatzanspruch gemäß § 2 Abs 1 c (richtig: lit b) StEG für seine durch die strafgerichtliche Anhaltung entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile (mangels Entkräftung des Tatverdachtes) nicht zustehe, und wies den Antrag auf Haftentschädigung ab (ON 292).
Die sofortige Kundmachung dieses Beschlusses wurde (nicht notwendigerweise) unterlassen, weil das freisprechende Urteil noch nicht in Rechtskraft erwachsen war.
Nach Eintritt der Rechtskraft des Geschworenengerichtsurteils wurde eine Ausfertigung des Beschlusses vom 10. Oktober 1994 dem Verteidiger des freigesprochenen Angeklagten zugestellt. Dessen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Linz (gleichfalls in nichtöffentlicher Sitzung) mit Beschluss vom 1. Februar 1995, AZ 9 Bs 455/94, nicht Folge (ON 312).
Wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, wurde im Verfahren zur Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen des Salvatore Lamanna nach § 2 Abs 1 lit b StEG wegen der (bloß durch Zustellung einer Beschlussausfertigung an den Verteidiger) nicht öffentlich erfolgten Kundmachung des Beschlusses des Geschworenengerichtes vom Landesgericht Salzburg vom 10. Oktober 1994 das Gesetz verletzt.
Unabdingbare Kriterien eines den Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK entsprechenden Entschädigungsverfahrens sind nämlich nicht nur die - hier gegeben gewesene - Durchführung einer öffentlichen Verhandlung, sondern auch die öffentliche Verkündung der Entscheidung (siehe § 77 Abs 1 erster Fall StPO; vgl zuletzt 13 Os 54, 55/00; 13 Os 150/98; 13 Os 154/98 teilweise veröffentlicht in JUS 2648/98; EvBl 1999/217; siehe auch die Urteile des EGMR vom 24. November 1997, Werner gegen Österreich - ÖJZ-MRK 1998/12 = NL 97/6/10, sowie vom 21. März 2000, Asan Rushiti gegen Österreich = NL 00/2/4).Unabdingbare Kriterien eines den Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK entsprechenden Entschädigungsverfahrens sind nämlich nicht nur die - hier gegeben gewesene - Durchführung einer öffentlichen Verhandlung, sondern auch die öffentliche Verkündung der Entscheidung (siehe § 77 Abs 1 erster Fall StPO; vergleiche zuletzt 13 Os 54, 55/00; 13 Os 150/98; 13 Os 154/98 teilweise veröffentlicht in JUS 2648/98; EvBl 1999/217; siehe auch die Urteile des EGMR vom 24. November 1997, Werner gegen Österreich - ÖJZ-MRK 1998/12 = NL 97/6/10, sowie vom 21. März 2000, Asan Rushiti gegen Österreich = NL 00/2/4).
Der Verfassungsgerichtshof hat zwar (über gemäß Art 89 Abs 2 B-VG gestellte Aufhebungsanträge des Oberlandesgerichtes Wien) mit Erkenntnis vom 10. Dezember 1999, G 259/98 u.a., ausgesprochen, dass insbesondere die Wortfolge "nicht kundzumachende" in § 6 Abs 4 erster Satz StEG nicht gegen die im Verfassungsrang stehende Bestimmung des Art 6 Abs 1 EMRK verstoße, weil auf Grund des österreichischen Vorbehalts zu Art 6 EMRK gesetzliche Ausnahmen von der Öffentlichkeit eines gerichtlichen Verfahrens mit Art 6 EMRK grundsätzlich vereinbar seien, was wegen der Bezugnahme des Vorbehalts auf Art 90 B-VG auch (und in erster Linie) für gerichtliche Verfahren gelte. Im Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehalts seien Regelungen in Kraft gewesen, die einer Kundmachung der Entscheidung über den Anspruch auf Entschädigung für zu Unrecht erlittene Anhaltung oder Haft entgegenstanden. Der Vorbehalt könne daher auch auf die später erlassene, inhaltlich gleichartige Bestimmung des § 6 Abs 4 StEG angewendet werden.Der Verfassungsgerichtshof hat zwar (über gemäß Artikel 89, Abs 2 B-VG gestellte Aufhebungsanträge des Oberlandesgerichtes Wien) mit Erkenntnis vom 10. Dezember 1999, G 259/98 u.a., ausgesprochen, dass insbesondere die Wortfolge "nicht kundzumachende" in § 6 Abs 4 erster Satz StEG nicht gegen die im Verfassungsrang stehende Bestimmung des Art 6 Abs 1 EMRK verstoße, weil auf Grund des österreichischen Vorbehalts zu Art 6 EMRK gesetzliche Ausnahmen von der Öffentlichkeit eines gerichtlichen Verfahrens mit Art 6 EMRK grundsätzlich vereinbar seien, was wegen der Bezugnahme des Vorbehalts auf Art 90 B-VG auch (und in erster Linie) für gerichtliche Verfahren gelte. Im Zeitpunkt der Abgabe des Vorbehalts seien Regelungen in Kraft gewesen, die einer Kundmachung der Entscheidung über den Anspruch auf Entschädigung für zu Unrecht erlittene Anhaltung oder Haft entgegenstanden. Der Vorbehalt könne daher auch auf die später erlassene, inhaltlich gleichartige Bestimmung des § 6 Abs 4 StEG angewendet werden.
In seinem Urteil vom 3. Oktober 2000, BNr. 29477/94 (Eisenstecken gegen Österreich), erkannte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jedoch, dass der von Österreich zu Art 6 EMRK abgegebene Vorbehalt ungültig ist, weil er die Voraussetzungen des Art 57 EMRK nicht erfüllt. Der betreffende Vorbehalt enthält nämlich keine "kurze Darstellung" des Gesetzes, das von Art 6 EMRK abweicht. Dagegen kann nicht eingewendet werden, dass Österreich alle Verfahren in Zivil- und Strafrechtssachen vor ordentlichen Gerichten insoweit von dessen Anwendungsbereich habe ausnehmen wollen, als einzelne Gesetze nicht-öffentliche Verhandlungen zugelassen hätten. Ein Vorbehalt, der lediglich auf eine nicht erschöpfende Ermächtigung der Verfassung Bezug nimmt und weder auf jene speziellen Bestimmungen der österreichischen Rechtsordnung verweist, die öffentliche Verhandlungen ausschließen, noch sie anführt, gewährleistet nicht im erforderlichen Ausmaß, dass er nicht über die ausdrücklich von Österreich ausgenommene Bestimmung hinausgeht.
In verfassungskonformer Anwendung des (diesbezüglich den Vorläuferbestimmungen entsprechenden) § 6 Abs 4 StEG ist somit die nachträglich (vgl § 3 des Bundesgesetzes vom 2. August 1932, BGBl Nr. 242 idF des Bundesgesetzes BGBl Nr 240/1950), und zwar durch Aufnahme des Art 6 EMRK in die österreichische Verfassungs)Rechtsordnung entstandene Inkonsistenz durch teleologische Reduktion des § 6 Abs 4 StEG um die Worte "nicht kundzumachende" zu beseitigen (nochmals 13 Os 54, 55/00).In verfassungskonformer Anwendung des (diesbezüglich den Vorläuferbestimmungen entsprechenden) § 6 Abs 4 StEG ist somit die nachträglich vergleiche § 3 des Bundesgesetzes vom 2. August 1932, BGBl Nr. 242 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl Nr 240/1950), und zwar durch Aufnahme des Art 6 EMRK in die österreichische Verfassungs)Rechtsordnung entstandene Inkonsistenz durch teleologische Reduktion des § 6 Abs 4 StEG um die Worte "nicht kundzumachende" zu beseitigen (nochmals 13 Os 54, 55/00).
Gemäß § 15a Abs 1 OGHG hat jedermann darauf Anspruch, von bestimmt bezeichneten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (gegen Kostenersatz) Abdrucke zu erhalten. Darüber hinaus wurde im vorliegenden Fall gemäß Abs 4 leg cit vom erkennenden Senat beschlossen, von der Anonymisierung der Betroffenen in der Entscheidungsausfertigung abzusehen, womit der öffentliche Zugang zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofes neben ihrer Verkündung im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Nichtigkeitsbeschwerde des Generalprokurators auch durch andere Mittel sichergestellt ist (vgl wiederum 13 Os 154/98).Gemäß § 15a Abs 1 OGHG hat jedermann darauf Anspruch, von bestimmt bezeichneten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (gegen Kostenersatz) Abdrucke zu erhalten. Darüber hinaus wurde im vorliegenden Fall gemäß Abs 4 leg cit vom erkennenden Senat beschlossen, von der Anonymisierung der Betroffenen in der Entscheidungsausfertigung abzusehen, womit der öffentliche Zugang zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofes neben ihrer Verkündung im Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Nichtigkeitsbeschwerde des Generalprokurators auch durch andere Mittel sichergestellt ist vergleiche wiederum 13 Os 154/98).
Gemäß § 48a GOG ist diese Bestimmung über die allgemeine Zugänglichkeit von Entscheidungen auch bei den Gerichten zweiter Instanz sinngemäß anzuwenden. Der Oberste Gerichtshof hat vorliegend erhoben (§ 285 f StPO), dass in Vollzug dieser Vorschrift beim Oberlandesgericht Linz Antragstellern, die keine Parteienstellung im konkreten Verfahren haben, auf Anordnung des Vorsitzenden des entscheidenden Senates anonymisierte Ausfertigungen bestimmter Rechtsmittelentscheidungen übermittelt werden. Damit ist jedoch der öffentliche Zugang zur Entscheidung auf andere Weise als durch deren öffentliche Verkündung keineswegs sichergestellt.
Zur Sicherstellung einer verfassungskonformen Vorgangsweise und einer auch im Wortlaut der Verfassungslage Rechnung tragenden Regelung sowie Hintanhaltung allfälliger Nachteile für den im Verfahren vor dem Landesgericht Salzburg Verfolgten war daher der Nichtigkeitsbeschwerde des Generalprokurators insoferne konkrete Wirkung zuzuerkennen, als die öffentliche Verkündung der in der Sache selbst zuletzt ergangenen (Beschwerde)Entscheidung des Oberlandesgerichtes Linz (samt deren wesentlicher Begründung) angeordnet wurde.
Soweit die Äußerung des Betroffenen zur Nichtigkeitsbeschwerde über deren Begehren hinausgreift, konnte darauf nicht Bedacht genommen werden (§ 290 Abs 1 erster Satz StPO).
Textnummer
E59973European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2000:0150OS00136..1109.000Im RIS seit
09.12.2000Zuletzt aktualisiert am
20.10.2010