TE Vwgh Erkenntnis 2006/12/21 2005/20/0027

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Veröffentlicht am 21.12.2006
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde der F in W, geboren 1964, vertreten durch Dr. Stephan Frotz, Rechtsanwalt in 1014 Wien, Tuchlauben 17, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom 7. Oktober 2004, Zl. 219.197/15-VIII/22/04, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Spruchpunkt I. wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine aus Bagdad stammende irakische Staatsbürgerin und Angehörige der chaldäisch-katholischen Kirche, verließ ihren Wohnort gemeinsam mit ihrer Schwester am 21. August 2000 und gelangte am 31. August 2000 in das österreichische Bundesgebiet. Nach dem Aufgriff durch Grenzkontrollorgane beantragte die Beschwerdeführerin die Gewährung von Asyl.

Zur Begründung machte sie bei der Vernehmung durch das Bundesasylamt am 18. September 2000 zusammengefasst geltend, nach der wegen Problemen mit den Militärbehörden erfolgten Flucht ihres Bruders aus dem Irak im Juni 2000 seien sie und ihre Schwester mehrfach von Angehörigen der (Militär-)Polizei zum Aufenthaltsort des Bruders befragt worden. Für den Fall der Rückkehr befürchte sie, wegen der illegalen Ausreise festgenommen und inhaftiert zu werden.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 21. September 2000 gemäß § 7 des Asylgesetzes 1997 (AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in den Irak fest.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin verdeutlichend vor, das Vorgehen der irakischen Behörden bedeute, dass ihr unterstellt werde, die regimefeindliche Haltung ihres Bruders zu teilen. Die Verhöre seien daher nur die "Vorboten schlimmerer Repressalien" gewesen; diese abzuwarten, wäre unzumutbar. Die Beschwerdeführerin befinde sich somit aus wohlbegründeter Furcht vor "Sippenhaftung" wegen der Flucht ihres Bruders außerhalb ihres Heimatlandes und sei daher Flüchtling im Sinne der FlKonv.

In der mündlichen Berufungsverhandlung am 7. Juni 2004 machte die Beschwerdeführerin zunächst dazu nähere Angaben. Auf Vorhalt, dass sich seit der Ausreise der Beschwerdeführerin "gravierende politische Umwälzungen" ereignet hätten und das Regime des Saddam Hussein nicht mehr an der Macht sei, gab die Beschwerdeführerin zu ihrer aktuellen Gefährdung bei einer Rückkehr in den Irak an, die allgemeine Lage sei noch immer instabil, die Schiiten hätten die Oberhand gewonnen und die Christen seien benachteiligt und unterdrückt. Die meisten Sprengstoffattentate erfolgten "hauptsächlich in christlichen Teilen", die Christen seien die "Hauptbetroffenen".

Zu den von der belangten Behörde vorgehaltenen Länderberichten und Pressemitteilungen erstattete das Bundesasylamt am 17. Juni 2004 eine Stellungnahme, in der es (zusammengefasst) die Meinung vertrat, nach der Berichtslage könne nicht von einer Gruppenverfolgung der Christen im Irak ausgegangen werden; derzeit gebe es keine planmäßigen Übergriffe gegen religiöse Minderheiten. Die Beschwerdeführerin legte mit Schriftsatz vom 19. August 2004 einen UNHCR-Länderbericht vom August 2004 zum Beweis für ihre "asylrelevante Verfolgung im Irak als christliche Frau" vor und verwies auf die darin enthaltene Darstellung der Lage der Christen und der Frauen im Irak.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 7. Oktober 2004 wies die belangte Behörde die Berufung im Asylteil gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I.). In teilweiser Stattgebung der Berufung stellte sie jedoch fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in den Irak nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.) und erteilte der Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, aufgrund des notorischen Sturzes "des Saddam Regimes" und der daraus resultierenden gravierenden politischen Umwälzungen im Irak fehle dem - von der belangten Behörde den Feststellungen zugrunde gelegten - Vorbringen der Beschwerdeführerin zu allfällig drohenden, auf einer unterstellten regimefeindlichen Gesinnung oder Sippenhaftung beruhenden Verfolgungsmaßnahmen gegen sie wegen eines angeblichen Militärvergehens ihres Bruders die erforderliche Aktualität. Gleiches gelte für das "Faktum" illegale Ausreise und nachfolgende Asylantragstellung "im Westen".

Möge sich "die Situation der Christen oder auch der Frauen" seit dem Regimesturz - so führte die belangte Behörde unter Bezugnahme auf die im angefochtenen Bescheid dazu getroffenen Feststellungen aus - "verschlechtert" haben, so könne "jedenfalls (noch) nicht" von der Etablierung eines fundamentalistischislamischen Regimes im Irak gesprochen werden und es seien auch aus den von der Beschwerdeführerin vorgelegten aktuellen Informationen "keine zielgerichteten individuellen Verfolgungshandlungen gegen Christen als solche" feststellbar. Die belangte Behörde gehe daher davon aus, dass "(derzeit)" keine Gruppenverfolgung von Christen im Irak bestehe und auch keine solche für Frauen "als allfällige soziale Gruppe".

Die Gewährung von Abschiebungsschutz begründete die belangte Behörde schließlich mit der "schon fast als katastrophal" zu bezeichnenden Sicherheitslage im Irak, die durch "tagtägliche" willkürliche Sprengstoffanschläge und Feuergefechte, aber auch durch eine äußerst prekäre Versorgungssituation gekennzeichnet sei.

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

In der Beschwerde wird zwar eingeräumt, dass die unmittelbare Bedrohung durch das gestürzte Regime des Saddam Hussein weggefallen sei, doch sei eine Verfolgungsgefahr der Beschwerdeführerin wegen der festgestellten Übergriffe auf Christen und des fehlenden staatlichen Schutzes für religiöse Minderheiten im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides gegeben.

In diesem Zusammenhang verweist die Beschwerde zutreffend darauf, dass die belangte Behörde wesentliche Teile des vorgelegten UNHCR-Länderberichtes vom August 2004, den sie im angefochtenen Bescheid als "topaktuelles" Dokument bezeichnete, begründungslos nicht berücksichtigt hat. In diesem Bericht (in der deutschen Fassung auf Seite 6) heißt es, die Situation der Christen im Irak habe sich seit dem Sturz des vorherigen Regimes "dramatisch" verschlechtert. Das sei - wie die belangte Behörde teilweise auch feststellte - darin begründet, dass Christen als "de facto-Unterstützer" der in der Regel aus christlichen Staaten stammenden Koalitionsstreitkräfte wahrgenommen und von islamischen Fundamentalisten und anderen extremistischen Gruppierungen der irakischen Gesellschaft als "Ungläubige" betrachtet würden. Christliche Frauen würden von diesen Gruppierungen bedroht und unter Druck geraten, sich bestimmten Bekleidungsvorschriften einschließlich der Pflicht zum Tragen des Kopftuches zu unterwerfen. Die jüngsten Anschläge auf Kirchen in Bagdad und Mossul am 1. August 2004 sowie die steigende Zahl irakischer Christen, die in den vergangenen drei Monaten in das angrenzende Syrien geflüchtet seien, wären Anzeichen für eine "weitere Zuspitzung" der Situation der Christen im Irak.

Davon ausgehend hätte die belangte Behörde nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes im vorliegenden Fall eine eingehendere Analyse der Verfolgungsgefahr für Christen, unter besonderer Bedachtnahme auf die Angehörigen der chaldäischkatholischen Kirche in Bagdad, vornehmen müssen. Sie hätte sich dabei nicht nur mit einer punktuellen Sicht begnügen dürfen, sondern unter Berücksichtigung der sich offenbar verschärfenden Entwicklung in der Vergangenheit zu prüfen gehabt, welche Situation die Beschwerdeführerin bei einer (angesichts des gewährten Abschiebungsschutzes hypothetisch anzunehmenden) Rückkehr nach Bagdad (in ihren Wohnbezirk) voraussichtlich erwartet hätte. Dabei hätte die belangte Behörde auch auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 19. August 2004 zu ihrer Gefährdung als Frau näher eingehen müssen, zumal sich aus dem von der Beschwerdeführerin auch in diesem Zusammenhang als Beweismittel vorgelegten erwähnten UNHCR-Papier ergibt, dass die Rechte der Frauen im Zentralirak von der Sicherheitslage und der dort herrschenden Gesetzlosigkeit besonders beeinträchtigt sind (vgl. in diesem Sinne etwa auch die damals aktuelle UNHCR-Position zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender vom März 2004, wonach in jüngster Zeit verstärkt über Entführungen, insbesondere auch von Frauen, berichtet worden sei und alleinstehende Frauen zu "einer in besonderem Maße gefährdeten Gruppe" gezählt wurden).

Da nicht ausgeschlossen ist, dass eine ergänzende Befassung mit den angesprochenen Fragen und eine ganzheitliche Würdigung der konkreten Rückkehrsituation der Beschwerdeführerin als alleinstehende, zu einer christlichen Minderheit gehörende Frau nach Bagdad eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende asylrelevante Verfolgungsgefahr ergeben hätte, war der angefochtene Spruchpunkt I. gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VWGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrenvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 21. Dezember 2006

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2005200027.X00

Im RIS seit

08.02.2007
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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