TE OGH 2000/11/28 1Ob265/00b

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Veröffentlicht am 28.11.2000
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Michael R*****, geboren am 13. Mai 1994, und der mj. Rebecca R*****, geboren am 3. Oktober 1995, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Monika R*****, vertreten durch Mag. Christoph Aumayr, Rechtsanwalt in Mauerkirchen, gegen den Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis als Rekursgericht vom 26. September 2000, GZ 6 R 280/00v-15, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Braunau am Inn vom 22. August 2000, GZ 1 P 74/00i-5, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Rechtssache wird an das Erstgericht zurückverwiesen und diesem eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Eltern der beiden ehelichen Kinder (der mj. Michael ist jetzt sechs, seine Schwester Rebecca fünf Jahre alt) leben seit drei Jahren in Österreich. Seit einem Jahr bewohnen sie eine 97 m2 große Mietwohnung in Braunau am Inn. Der Vater verdient als Elektriker bei den Stadtwerken monatlich rund 17.000 S. Die aus der Schweiz stammende Mutter, die Schweizer Staatsangehörige ist, sprach stark dem Alkohol zu; einige Monate nach einer Entziehungskur von März bis Mai 1999 wurde sie wieder rückfällig und begann neuerlich zu trinken. Nachdem sie für einige Zeit die "Anonymen Alkoholiker" in Braunau am Inn besucht hatte, brach sie diese Kontakte ab und ließ sich nicht mehr dazu bewegen, irgendwelche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Folge war, dass sie den Haushalt vernachlässigte und sich zeitweise nicht um die Kinder kümmerte, weil sie "ihren Rausch ausschlief". In einer solchen Situation rief der mj. Michael seinen Vater an dessen Arbeitsplatz an und fragte ihn, wann er heimkomme, weil die Mutter wieder "schlafe". Zwischen den Eltern gab es mitunter auch körperliche Auseinandersetzungen; der Vater vergriff sich jedoch nie an seinen Kindern. Anfangs Juli 2000 reichte der Vater schließlich die Scheidungsklage ein. Die Mutter verließ mit beiden Kindern am 5. Juli 2000 - nach dem Vorbringen des Vaters ohne seine Zustimmung - die Ehewohnung und zog ins Frauenhaus in Ried im Innkreis. Als Betreuungspersonen stehen dem Vater seine 59jährige verwitwete Mutter und seine Schwester, die beide in Braunau am Inn wohnen und zur Unterstützung des Vaters bei der Kinderbetreuung bereit sind, zur Verfügung.

Aktenkundig ist, dass die Eltern im Scheidungsverfahren am 17. Juli 2000 einen Vergleich über Unterhaltszahlungen des Vaters für seine beiden Kinder und über ein Besuchsrecht des Vaters schlossen.

Das Erstgericht hat - dem Antrag des Vaters vom 19. Juni 2000 folgend - mit seinem Beschluß vom 22. August 2000 ON 5 die Obsorge für beide Minderjährige "als vorläufige Maßnahme" der Mutter "entzogen und vorläufig dem Vater" zugeteilt. In der augenblicklichen Situation liege es zweifellos im Interesse der Kinder, wenn sie vorerst beim Vater in der gewohnten Umgebung blieben und der Sohn auch in Braunau am Inn die Schule besuchen könne. Da neben dem Vater vertraute Betreuungspersonen vorhanden seien, sei für das Wohl der Kinder gesorgt. Bei der Mutter hingegen bestünden Zweifel, ob sie in der Lage sei, auf Dauer für ihre Kinder angemessen zu sorgen. Eine Voraussetzung dafür wäre zweifellos, dass sie ihre Alkoholprobleme in den Griff bekomme, was ihre entsprechende Einsicht voraussetze. Nach einer allfälligen Scheidung der Ehe werde gemäß § 177 ABGB ohnehin über die Obsorge zu entscheiden sein. Vor dieser Entscheidung werde allenfalls ein psychologisches Sachverständigengutachten einzuholen sein.

Am 7. September 2000 beantragte der Vater die Erlassung einer einstweiligen Verfügung dahin, dass ihm für die beiden Kinder mit sofortiger Wirkung einstweilen bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Pflegschaftsverfahren die Obsorge zugeteilt und der Mutter aufgetragen werde, dem Vater die beiden Kinder umgehend zu übergeben. Gestützt wurde dies auf den in ON 5 festgestellten Sachverhalt und darauf, dass bis Schulbeginn mit einer rechtskräftigen Entscheidung im Pflegschaftsverfahren nicht zu rechnen. Das Erstgericht hat mit seiner einstweiligen Verfügung vom 8. September 2000 ON 7 ohne Anhörung der Mutter dem Antrag in Ansehung des mj. Michael stattgegeben, weil bis 11. September 2000 (Schulbeginn) nicht zu rechnen sei, dass der Beschluss ON 5 in Rechtskraft erwachse, in Ansehung der nicht schulpflichtigen Rebecca hingegen den Antrag abgewiesen. Den dagegen von der Mutter erhobenen Widerspruch wies das Erstgericht ab (ON 16).

Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss ON 5. Es verneinte erstinstanzliche Verfahrensmängel (unterlassene Einholung eines psychologischen Gutachtens), weil es sich bei der angefochtenen Entscheidung um eine Provisorialmaßnahme handle und dabei nach stRspr nicht sämtliche notwendigen Erhebungen durchgeführt werden müssten.

Der Gefahr der Verbringung eines Kindes ins Ausland und einer dadurch bedingten nachteiligen Erziehungssituation könne durch eine - ihrem Wesen nach eine einstweilige Verfügung darstellende - vorläufige Anordnung über den Aufenthalt von Kindern entgegen gewirkt werden. Wenn auch das Erstgericht auf dieses Kriterium nicht eingegangen sei, sei die Gefahr der Verbringung der Kinder ins Ausland durch die Mutter allein schon auf Grund ihres Antragsvorbringens nicht von der Hand zu weisen, habe sie doch in ihrem Antrag auf vorläufige Zuteilung der Obsorge ihre Absicht bekundet, vorerst für einige Zeit zu ihren Eltern in die Schweiz zurückzukehren. Aber selbst wenn man dieses Vorhaben der Mutter als nicht evident oder aktuell ansähe, weil sie sich mittlerweile in einem Frauenhaus aufhalte, sei die erstgerichtliche Entscheidung zu billigen. Der Verblieb der Kinder in ihrer "gewohnten Umgebung" (Braunau am Inn) liege zweifellos in deren Interesse, zumal der mj. Michael in Braunau am Inn die Schule besuchen könne und dort auch "vertraute Betreuungspersonen (Großmutter und Tante) zur Verfügung stünden. Eine Änderung der Pflege- und Erziehungsverhältnisse solle möglichst vermieden werden. Die Mutter habe die Ehewohnung am 5. Juli 2000 gemeinsam mit den Kindern verlassen und wohne seither im Frauenhaus in Ried in Innkreis. Nach dem Bericht der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn ON 4 könne die Mutter dort ein Jahr wohnen bleiben; sie wisse nicht, ob sie in Österreich bleiben oder in die Schweiz zurückkehren solle. Bei dieser Situation könne durchaus von einer ungewissen Situation der Mutter gesprochen werden. Insofern sei auch das Schicksal der beiden Kindern nicht absehbar, solange sie bei ihrer Mutter seien. Sollte die Mutter aus Ried im Innkreis wieder wegziehen, wäre damit zwangsläufig ein Schulwechsel für den mj. Michael verbunden. So gesehen scheine die Zukunft der Kinder bei ihrem Vater gesicherter zu sein, zumal Anhaltspunkte dafür fehlten, dass dieser in nächster Zukunft gedenke, seinen Wohnsitz zu wechseln. Im Übrigen könne der Aufenthalt in einem Frauenhaus nur als Übergangslösung angesehen werden, was einen neuerlichen Milieuwechsel unabdingbar mache. Dem bei der Obsorgezuteilung ausschlaggebenden Kindeswohl entspreche nach Trennung der Eltern wohl jene Lösung am Besten, die noch am Ehesten den Vorteil eines intakten Familienlebens bieten könne. Hier komme dieser Vorstellung der vorläufige Verbleib der beiden Kinder bei ihrem Vater noch am Nächsten, zumal sie dort auch "vertraute Bezugspersonen" vorfänden. Außerdem sei ein kontinuierlicher Schulbesuch des mj. Michael gewährleistet, auch zur Vermeidung eines Schulwechsels während des Schuljahrs sei die erstgerichtliche Sofortmaßnahme gerechtfertigt. Zwar bestehe bei der noch im Kindergartenalter stehenden mj. Rebecca keine Gefahr eines Schulwechsels, nach stRspr sollten aber Geschwister mit nicht zu großen Altersunterschieden durch eine - auch vorläufige - Obsorgeentscheidung nicht voneinander getrennt werden. Schließlich sei es aber auch die durch die Neigung zum Alkoholkonsum gekennzeichnete Lebenssituation der Mutter, die Zweifel an ihrer Eignung zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder aufkommen lasse. Nach den Feststellungen habe sie den Haushalt vernachlässigt und sich zeitweise um die Kinder nicht gekümmert, wenn sie zeitweise alkoholisiert gewesen sei. Aber auch die künftige Situation der Mutter könnte dem Kindeswohl abträglich sein. Für eine positive Entwicklung der Kinder in der Umgebung der Mutter wäre auf jeden Fall Voraussetzung, dass diese ihr Alkoholproblem in den Griff bekomme, wozu es auch einer entsprechenden Einsicht bedürfe. Solange die Mutter einen unkontrollierten Umgang mit Alkohol habe, müsse angenommen werden, dass ihre Erziehungssituation nachteilig sei. Dass auch der Vater Alkoholprobleme habe, sei zwar von der Mutter behauptet, aber bislang vom Erstgericht nicht als erwiesen angenommen worden. Soweit im Rekurs versucht werde, dem Vater die Erziehungsfähigkeit abzusprechen, werde darauf im weiteren Verfahren noch einzugehen sein. Nach den bisherigen Entscheidungsgrundlagen stehe jedenfalls nicht fest, dass der Vater zur Pflege und Erziehung seiner Kinder nicht ausreichend in der Lage sei.

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist entgegen dem Ausspruch der zweiten Instanz zulässig; er ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

a) Nach Stellung seines Antrags auf Übertragung der Obsorge für seine beiden Kinder am 19. Juni 2000 - somit vor Einbringung der Scheidungsklage - und nach dem Auszug der Mutter mit den beiden Kindern aus der ehelichen Wohnung am 5. Juli 2000 schloss der Vater im Scheidungsverfahren am 17. Juli 2000 mit der Mutter einen gerichtlichen Vergleich, in dem er sich zu näher bezeichneten Unterhaltszahlungen an seine Kinder verpflichtete und ein Besuchsrecht eingeräumt erhielt. Darin kann entgegen den Rechtsmittelausführungen weder eine Rückziehung des damals noch unerledigten Antrags des Vaters auf (alleinige) Obsorgeübertragung erblickt werden noch liegt insoweit res iudicata vor, war doch die Obsorgezuteilung gerade nicht Gegenstand des Vergleichs.

b) Dass die Vorinstanzen über vorläufige Maßnahmen nach § 176 ABGB entschieden, kann entgegen der im Rechtsmittel vertretenen Auffassung nach Spruch und Inhalt der beiden Vorentscheidungen nicht zweifelhaft sein. Die zweite Instanz hat den Provisorialcharakter des erstgerichtlichen Beschlusses auch als Begründung dafür herangezogen, dass die Einholung eines psychologischen Gutachtens entbehrlich sei.

Ist mangels Einigung der nicht bloß vorübergehend getrennt lebenden Eltern gemäß § 177 Abs 2 ABGB über ihren Antrag eine Entscheidung zu treffen, welchem Elternteil die Obsorge allein zustehen soll, so kann das Gericht nur dann, wenn besondere Umstände im Interesse des Kindes eine sofortige Entscheidung erfordern, auch vorläufige Maßnahmen anordnen (stRspr, EFSlg 66.038, 1 Ob 2155/96k = ZfRV 1996, 246; 2 Ob 299/97b = EFSlg 84.116 ua, zuletzt 9 Ob 115/99y). Voraussetzung einer solchen vorläufigen gerichtlichen Maßnahme als Provisorialentscheidung - bis zur endgültigen Entscheidung nach § 176 ABGB - ist dabei eine akute Gefährdung des Kindeswohls nach § 176 ABGB (2 Ob 505/94 = EvBl 1994/123 ua; RIS-Justiz RS0007035; Schwimann in Schwimann2, § 176 ABGB Rz 18 mwN aus der Rspr). Voraussetzung für eine vorläufige Maßnahme ist somit, dass die Belassung des Kindes in der bisherigen Umgebung eine solche konkrete Gefährdung für das Kind mit sich bringt, dass Sofortmaßnahmen in Form einer Änderung der bestehenden Zustands dringend geboten erscheinen (stRspr, RZ 1992/7 uva, zuletzt 5 Ob 115/99y) oder die Gefahr der Verbringung der Kinder ins Ausland vorliegt, wodurch unabänderlich eine nachteilige Erziehungssituation geschaffen würde (1 Ob 602/91 = EFSlg 66.038); es muss aufgrund eines bestimmten Verhaltens der Eltern oder eines Elternteils, in dem die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung elterlichen Pflichten zu erblicken ist, zu befürchten sein, dass das Wohl des Kindes beeinträchtigt werden wird (3 Ob 2204/96f; EFSlg 84.116; RIS-Justiz RS0006999). Das Vorbringen des die alleinige Obsorge abstrebenden Vaters und die dazu von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen können mangels akuter Gefährdung des Kindeswohls eine solche vorläufige Obsorgezuteilung nicht rechtfertigen, befinden sich doch nach dem Aktenstand die Kinder seit Juli 2000 bei ihrer Mutter im Frauenhaus - nach dem Rechtsmittelvorbringen der Mutter befindet sich jetzt der mj. Michael bei seinem Vater -, wo gewiss keine akute Gefahr des Kindeswohls besteht. Von der konkreten Gefahr einer Übersiedlung der Mutter in die Schweiz ist auch das Erstgericht zu Recht nicht ausgegangen.

Liegen aber die Voraussetzungen einer vorläufigen Maßnahme nicht vor, so bedeutet ihre gleichwohl erfolgte Anordnung eine Verletzung des Kindeswohls (EFSlg 66.071; Schwimann aaO § 176 ABGB Rz 18). Ohne zwingende Notwendigkeit darf der endgültigen Entscheidung nicht vorgegriffen werden. Da bei vorläufiger Zuweisung des Sorgerechts keine für die Kontinuität der Pflege und Erziehung bei der endgültigen Entscheidung unberücksichtigt zu lassende bloß faktische Situation, sondern ein sehr wohl zu berücksichtigender gesetzmäßiger Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil gegeben wäre, läge bei sonst gleicher Erziehungssituation bei den Elternteilen aufgrund einer vorläufigen Zuteilung bereits ein solcher Vorgriff vor (SZ 59/160; ZfRV 1996, 246 ua).

Nur für die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme sind wegen der Eilbedürftigkeit umfassende Erhebungen zu unterlassen, weil andernfalls bereits mit einer endgültigen Entscheidung vorgegangen werden könnte (EvBl 1994/123; ZfRV 1996, 246 mwN; 8 Ob 356/97d ua; RIS-Justiz RS0104363). Für die Abweisung eines Antrags auf vorläufige Maßnahmen müssen jedoch sämtliche relevanten Beweise aufgenommen werden, weil vorher nicht verläßlich beurteilt werden kann, ob nicht doch eine vorläufige Anordnung geboten ist (EvBl 1994/123; ZfRV 1996, 246; Schwimann aaO § 176 ABGB Rz 18). Im vorliegenden Fall standen dem Erstgericht als Verfahrensergebnisse nur das Antragsvorbringen beider Elternteile und der Bericht der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn ON 4 samt Beilagen zur Verfügung. Die damit gewonnenen Feststellungen der Tatsacheninstanzen sind für eine (endgültige) Obsorgeentscheidung nicht ausreichend. Erst nach einer entsprechenden Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage, im Besonderen auch zur Eignung des Vaters zur Ausübung der Obsorge, lässt sich die Rechtssache ausreichend verläßlich beurteilen.

Demnach ist zur Beseitung der sekundären Feststellungsmängeln spruchgemäß zu entscheiden. Die einstweilige Verfügung ON 7 ist nicht Gegenstand dieser Rechtsmittelentscheidung.

Textnummer

E60105

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2000:0010OB00265.00B.1128.000

Im RIS seit

28.12.2000

Zuletzt aktualisiert am

02.03.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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