TE OGH 2001/1/18 Bsw27238/95 (Bsw24876/94, Bsw24882/94, Bsw25289/94, Bsw25154/94)

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.01.2001
beobachten
merken

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesachen Chapman, Coster, Beard, Lee und Jane Smith gegen das Vereinigte Königreich, Urteile vom 18.1.2001, Bsw. 27238/95, Bsw. 24876/94, Bsw. 24882/94, Bsw. 25289/94 und Bsw. 25154/94).

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 1.ZP EMRK, Art. 14 EMRK - Verweigerung der Genehmigung zum Bewohnen eines Grundstückes in Wohnwägen.Artikel 8, EMRK, Artikel 6, Absatz eins, EMRK, Artikel eins, 1.ZP EMRK, Artikel 14, EMRK - Verweigerung der Genehmigung zum Bewohnen eines Grundstückes in Wohnwägen.

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (10:7 Stimmen).Keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (10:7 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).Keine Verletzung von Artikel 14, EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 1 1.ZP EMRK (einstimmig).Keine Verletzung von Artikel eins, 1.ZP EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).Keine Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Alle Bf. sind Mitglieder brit. Zigeunerfamilien. Die ErstBf., Sally Chapman, erwarb 1985 ein Grundstück in Hertfordshire. Der Antrag auf eine rückwirkende Baubewilligung (planning permission) für das Abstellen des von ihr und ihrer Familie bewohnten Wohnwagens und den Bau eines Bungalows wurde vom Three Rivers District Council am 11.9.1986 abgewiesen. Gleichzeitig wurde eine Vollstreckungsankündigung (enforcement notice) zugestellt, dass der Wohnwagen bei Zuwiderhandlung entfernt werden würde. Ein Rechtsmittel gegen die Vollstreckungsankündigung wurde im Juli 1987 vom Umweltministerium abgewiesen, da das Grundstück als Grünland ausgewiesen war. Da sich in unmittelbarer Umgebung kein Gelände für Zigeuner (gypsy site) befand, wurde der ErstBf. 15 Monate Zeit gegeben, den Wohnwagen vom Grundstück zu entfernen. Sie kam dieser Aufforderung nicht nach, weshalb sie wegen Nichtbefolgung einer Vollstreckungsankündigung in zwei Strafverfahren vom Magistrate's Court zu GBP 100,-- bzw. GBP 500,-- verurteilt wurde. Daraufhin verzog sie vorübergehend mit ihrer Familie, kam aber aus Mangel an Alternativen 1992 wieder auf ihr Land zurück. Ein neuerlicher Antrag auf Baubewilligung wurde vom District Council und schließlich vom Umweltministerium im März 1994 endgültig abgewiesen. Thomas und Jessica Coster erwarben 1988 ein Grundstück nahe Maidstone in Kent. Wie auch bei der ErstBf. wurde ihr Antrag auf rückwirkende Baubewilligung in zwei Instanzen abgewiesen und sie wegen Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung strafrechtlich verurteilt. Auch bei den anderen Bf. ist der Sachverhalt im wesentlichen ähnlich.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

In allen fünf Fällen behaupten die Bf. eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Alle Bf. außer Familie Beard behaupten eine Verletzung von Art. 1 1.ZP EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums). Sally Chapman und Jane Smith behaupten überdies eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht). Die Bf. Coster, Jane Smith und Thomas Lee behaupten auch eine Verletzung von Art. 2 1.ZP EMRK (Recht auf Bildung).In allen fünf Fällen behaupten die Bf. eine Verletzung von Artikel 8, EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und von Artikel 14, EMRK (Diskriminierungsverbot). Alle Bf. außer Familie Beard behaupten eine Verletzung von Artikel eins, 1.ZP EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums). Sally Chapman und Jane Smith behaupten überdies eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht). Die Bf. Coster, Jane Smith und Thomas Lee behaupten auch eine Verletzung von Artikel 2, 1.ZP EMRK (Recht auf Bildung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 8, EMRK:

Es wurde nicht bestritten, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie auf Schutz der Wohnung vorlag, der gesetzlich vorgesehen war und einen legitimen Zweck verfolgte, nämlich den Schutz der Rechte anderer. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Der GH stellt fest, dass es Zigeunern freisteht, auf Campingplätzen mit der nötigen Bewilligung zu campieren. Obwohl es nicht genügend ‚legale' Orte gibt, die die Betroffenen akzeptabel und ausreichend empfinden, konnte der GH nicht davon überzeugt werden, dass die Bf. keine andere Möglichkeit hatten, ihre Wohnwägen ohne Baubewilligungen auf Grundstücke abzustellen, die teilweise sogar als Grünland ausgewiesen waren. Auch kann der Argumentation nicht gefolgt werden, wonach Entscheidungen, die es den Bf. untersagen, ihre Wohnwägen wegen der zu geringen Anzahl an offiziellen Zigeunergeländen nach freiem Willen abzustellen, eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen. Für das Vereinigte Königreich entsteht aus Art. 8 EMRK keine Verpflichtung, der Zigeunergemeinschaft ausreichend geeignete Abstell­plätze zur Verfügung zu stellen. Auch kann aus Art. 8 EMRK kein Recht abgelei­tet werden, eine Wohnung zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ob der Staat öffentliche Gelder bereitstellt, die jedermann eine Wohnung ermöglichen, ist eine politische und weniger eine juristische Angelegenheit. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (10:7 Stimmen, Sondervoten der Richter Pastor Ridruejo, Bonello, Tulkens, Strážnická, Lorenzen, Fischbach und Casadevall).Es wurde nicht bestritten, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie auf Schutz der Wohnung vorlag, der gesetzlich vorgesehen war und einen legitimen Zweck verfolgte, nämlich den Schutz der Rechte anderer. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Der GH stellt fest, dass es Zigeunern freisteht, auf Campingplätzen mit der nötigen Bewilligung zu campieren. Obwohl es nicht genügend ‚legale' Orte gibt, die die Betroffenen akzeptabel und ausreichend empfinden, konnte der GH nicht davon überzeugt werden, dass die Bf. keine andere Möglichkeit hatten, ihre Wohnwägen ohne Baubewilligungen auf Grundstücke abzustellen, die teilweise sogar als Grünland ausgewiesen waren. Auch kann der Argumentation nicht gefolgt werden, wonach Entscheidungen, die es den Bf. untersagen, ihre Wohnwägen wegen der zu geringen Anzahl an offiziellen Zigeunergeländen nach freiem Willen abzustellen, eine Verletzung von Artikel 8, EMRK darstellen. Für das Vereinigte Königreich entsteht aus Artikel 8, EMRK keine Verpflichtung, der Zigeunergemeinschaft ausreichend geeignete Abstell­plätze zur Verfügung zu stellen. Auch kann aus Artikel 8, EMRK kein Recht abgelei­tet werden, eine Wohnung zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ob der Staat öffentliche Gelder bereitstellt, die jedermann eine Wohnung ermöglichen, ist eine politische und weniger eine juristische Angelegenheit. Keine Verletzung von Artikel 8, EMRK (10:7 Stimmen, Sondervoten der Richter Pastor Ridruejo, Bonello, Tulkens, Strážnická, Lorenzen, Fischbach und Casadevall).

Wie bereits festgehalten, waren die Eingriffe in die Rechte der Bf. verhältnis­mäßig zum verfolgten legitimen Zweck. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 1 1.ZP EMRK (einstimmig).Wie bereits festgehalten, waren die Eingriffe in die Rechte der Bf. verhältnis­mäßig zum verfolgten legitimen Zweck. Keine Verletzung von Artikel 14, EMRK und Artikel eins, 1.ZP EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK in den Fällen Chapman und Jane Smith:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK in den Fällen Chapman und Jane Smith:

Die Bf. behaupten, dass die Möglichkeit der (von ihnen jedoch nicht beantragten) gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen durch den High Court nicht den Anforderungen von Art. 6 (1) EMRK genügt, da diese nur auf Rechtsfragen beschränkt ist. Der GH erinnert an die bereits im Urteil Bryan/GB getroffe­nen Feststellungen und stellt keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK fest (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1.ZP EMRK in den Fällen Coster, Lee und Jane Smith:Die Bf. behaupten, dass die Möglichkeit der (von ihnen jedoch nicht beantragten) gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen durch den High Court nicht den Anforderungen von Artikel 6, (1) EMRK genügt, da diese nur auf Rechtsfragen beschränkt ist. Der GH erinnert an die bereits im Urteil Bryan/GB getroffe­nen Feststellungen und stellt keine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK fest (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Artikel 2, 1.ZP EMRK in den Fällen Coster, Lee und Jane Smith:

Die älteren Kinder der Bf. sind mittlerweile 16 Jahre alt, haben die Schule beendet und gehen einer Arbeit nach. Die jüngeren besuchen eine Schule in der nächsten Umgebung ihres Zuhauses. Der GH kann nicht erkennen, welchen Einfluss die bekämpften Maßnahmen auf das Recht auf Bildung haben sollten. Keine Verletzung von Art. 2 1.ZP EMRK (einstimmig).Die älteren Kinder der Bf. sind mittlerweile 16 Jahre alt, haben die Schule beendet und gehen einer Arbeit nach. Die jüngeren besuchen eine Schule in der nächsten Umgebung ihres Zuhauses. Der GH kann nicht erkennen, welchen Einfluss die bekämpften Maßnahmen auf das Recht auf Bildung haben sollten. Keine Verletzung von Artikel 2, 1.ZP EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bryan/GB, Urteil v. 22.11.1995, A/335-A (= NL 95/6/5).

Buckley/GB, Urteil v. 25.9.1996 (= NL 96/5/10 = ÖJZ 1997, 313).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 18.1.2001, Bsw. 27238/95, Bsw. 24876/94, Bsw. 24882/94, Bsw. 25289/94 und Bsw. 25154/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2001, 23) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/01_1/Chapman.pdf www.menschenrechte.ac.at/orig/01_1/Coster.pdf www.menschenrechte.ac.at/orig/01_1/Beard.pdf www.menschenrechte.ac.at/orig/01_1/Lee.pdf www.menschenrechte.ac.at/orig/01_1/Smith.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00330 Bsw27238.95-U

Dokumentnummer

JJT_20010118_AUSL000_000BSW27238_9500000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten