TE OGH 2001/10/18 Bsw42505/98

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Veröffentlicht am 18.10.2001
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Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Mianowicz gegen Deutschland, Urteil vom 18.10.2001, Bsw. 42505/98.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch IV, Beschwerdesache Mianowicz gegen Deutschland, Urteil vom 18.10.2001, Bsw. 42505/98.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 1. ZP EMRK, Art. 14 EMRK - Dauer arbeitsgerichtlicher Verfahren.Artikel 6, Absatz eins, EMRK, Artikel eins, 1. ZP EMRK, Artikel 14, EMRK - Dauer arbeitsgerichtlicher Verfahren.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (einstimmig).

Keine Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1Keine Prüfung der behaupteten Verletzung von Artikel 14, EMRK in Verbindung mit Artikel eins,

1. ZP EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: DEM 15.000,- für immateriellen Schaden; DEM 5.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: DEM 15.000,- für immateriellen Schaden; DEM 5.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist poln. Staatsangehöriger und lebt in München. Am 17.2.1988 kündigte ihm sein Arbeitgeber RFE (Radio Free Europe/Radio Liberty) zum 30.6.1988 aufgrund seiner krankheitsbedingten Ausfälle. Der Bf. rief am 24.2.1988 das Arbeitsgericht München an und begehrte die Feststellung, dass sein Arbeitsvertrag nicht am 30.6.1988 beendet werde. Am 7.4.1988 schlossen die Parteien vor diesem Gericht einen widerruflichen Vergleich, der das Auslaufen des Arbeitsvertrages zum 30.6.1988 gegen Zahlung einer Abfindung von DEM 28.000,-- beinhaltete.

Am 16.4.1988 kündigte der Rechtsvertreter des Bf. diesen Vergleich auf und stützte sich hierbei auf Art. 15 des Schwerbehindertengesetzes, der vorsieht, dass eine Kündigung ohne vorherige Zustimmung der Fürsorgestelle nichtig ist. Am 11.4.1988 hatte nämlich das Versorgungsamt fest­gestellt, dass der Grad der Behinderung des Bf. 40% betrug. Am 18.4.1988 beantragte der Bf. beim Arbeitsamt festzustellen, dass er schwerbehindert ist. Diesem Antrag wurde am 20.4.1988 Folge gegeben. Am 27.7.1988 wies das Arbeitsgericht München nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Antrag des Bf. zurück: Die Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes fänden in seinem Fall keine Anwendung, weil die Anerkennung des Bf. als schwerbehindert nach Zugang der Kündigung erfolgte. Gegen dieses Urteil legte der Bf. Berufung an das Landesarbeitsgericht (LAG) München ein. Am 29.9.1989 erkannte die Rentenkasse den Grad der Behinderung des Bf. mit 50% für den Zeitraum von 1.1. bis 6.6.1988 an. Mit Urteil vom 18.12.1989 entschied das LAG München, dass der Arbeitsvertrag des Bf. nicht am 30.6.1988 endete, sondern über dieses Datum hinaus gültig blieb, weil Art. 15 Schwerbehindertengesetz nicht beachtet wurde. Dieses Urteil wurde dem Rechtsvertreter des Bf. am 30.12.1990 zugestellt. Am 16.8.1991 hob das Bundesarbeitsgericht (BAG) aufgrund eines Revisionsantrags des Arbeitsgebers das Urteil des LAG auf, nachdem es dieses mehrere Male um Übersendung der Akten gebeten hatte, was sich aufgrund des Gesundheitszustandes des Vorsitzenden der zuständigen Kammer verzögert hatte. Begründend wurde ausgeführt, dass das Schwerbehindertengesetz auf den Bf. keine Anwendung fände. Die Sache wurde an das LAG München zurückverwiesen. Am 12.2.1992 nahm das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Bsw. des Bf. nicht zur Entscheidung an, da wegen der Zurückverweisung der Sachen noch keine Erschöpfung des Rechtsmittelweges gegeben war.Am 16.4.1988 kündigte der Rechtsvertreter des Bf. diesen Vergleich auf und stützte sich hierbei auf Artikel 15, des Schwerbehindertengesetzes, der vorsieht, dass eine Kündigung ohne vorherige Zustimmung der Fürsorgestelle nichtig ist. Am 11.4.1988 hatte nämlich das Versorgungsamt fest­gestellt, dass der Grad der Behinderung des Bf. 40% betrug. Am 18.4.1988 beantragte der Bf. beim Arbeitsamt festzustellen, dass er schwerbehindert ist. Diesem Antrag wurde am 20.4.1988 Folge gegeben. Am 27.7.1988 wies das Arbeitsgericht München nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Antrag des Bf. zurück: Die Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes fänden in seinem Fall keine Anwendung, weil die Anerkennung des Bf. als schwerbehindert nach Zugang der Kündigung erfolgte. Gegen dieses Urteil legte der Bf. Berufung an das Landesarbeitsgericht (LAG) München ein. Am 29.9.1989 erkannte die Rentenkasse den Grad der Behinderung des Bf. mit 50% für den Zeitraum von 1.1. bis 6.6.1988 an. Mit Urteil vom 18.12.1989 entschied das LAG München, dass der Arbeitsvertrag des Bf. nicht am 30.6.1988 endete, sondern über dieses Datum hinaus gültig blieb, weil Artikel 15, Schwerbehindertengesetz nicht beachtet wurde. Dieses Urteil wurde dem Rechtsvertreter des Bf. am 30.12.1990 zugestellt. Am 16.8.1991 hob das Bundesarbeitsgericht (BAG) aufgrund eines Revisionsantrags des Arbeitsgebers das Urteil des LAG auf, nachdem es dieses mehrere Male um Übersendung der Akten gebeten hatte, was sich aufgrund des Gesundheitszustandes des Vorsitzenden der zuständigen Kammer verzögert hatte. Begründend wurde ausgeführt, dass das Schwerbehindertengesetz auf den Bf. keine Anwendung fände. Die Sache wurde an das LAG München zurückverwiesen. Am 12.2.1992 nahm das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Bsw. des Bf. nicht zur Entscheidung an, da wegen der Zurückverweisung der Sachen noch keine Erschöpfung des Rechtsmittelweges gegeben war.

Am 31.8.1992 bestimmte das LAG München als Termin für die mündliche Verhandlung den 13.11.1992 und für die Verkündung den 21.1.1993. Am 13.11.1992 führte das LAG seine erste mündliche Verhandlung durch. Die Urteilsverkündung wurde verschoben und auf Antrag des Arbeitgebers schließlich ein zweites Mal verlegt. Am 22.3.193 beantragte der Bf., die Parteilichkeit des Richters festzustellen. Dieser Antrag wurde am 19.4.1993 zurückgewiesen. Das LAG bestimmte den 29.4.1993 als neuen Termin für die mündliche Verhandlung, jedoch wurde dieser zweimal durch den zuständigen Richter verlegt, einmal auf Antrag des Bf., zum zweiten Mal wegen der Abwesenheit eines ehrenamtlichen Richters. Am 9.7.1993 führte das LAG seine letzte mündliche Verhandlung durch. Aus dem Protokoll ergibt sich, dass das LAG einen Termin zur Urteilsverkündung bestimmen werde. Im Februar 1994 und 1995 ersuchte der Rechtsvertreter des Bf. um Beschleunigung des Verfahrens. Mit Urteil vom 7.6.1996 änderte das LAG München das Urteil des Arbeitsgerichtes insoweit ab, als es die Auflösung des Arbeitsvertrages des Bf. am 30.6.1988 und die Zahlung einer Abfindung durch den Arbeitgeber in Höhe von DEM 90.000,-- feststellte. Eine Revision zum BAG wurde nicht zugelassen. Am 29.6.1997 legte der Bf. Bsw. beim BAG gegen die Entscheidung des LAG ein, die Revision nicht zuzulassen und erhob außerdem am 3.7.1997 eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des LAG. Das BAG wies die Bsw. am 18.9.1997 zurück. Am 30.10.1997 brachte der Bf. eine Nichtigkeitsklage an das LAG München ein, um eine Wiedereröffnung des Verfahrens zu erreichen, da die Besetzung des LAG nicht den Bestimmungen des Arbeitsgerichtsgesetzes entsprochen hätte. Am 18.11.1997 erklärte sich der Vorsitzende der entscheidenden Kammer für befangen. Am 12.6.1998 schlossen die Parteien vor dem LAG einen widerruflichen Vergleich über das Auslaufen des Arbeitsvertrages zum 30.6.1988 und der Zahlung von DEM 400.000,-- ab. Dieser Vergleich wurde vom Rechtsvertreter des Bf. am 12.7.1998 aufgekündigt. Mit einem Zwischenurteil vom 25.9.1998 hob die über die Nichtigklage vom 30.10.1997 befindende 11. Kammer des LAG München das Urteil vom 7.6.1996 desselben Gerichts (3. Kammer) auf. Gegen dieses Urteil brachte der Rechtsvertreter des Bf. Revision an das BAG ein, das am 2.12.1999 die Urteile des LAG München vom 25.9.1998 und vom 7.6.1996 aufhob und die Sache erneut an das LAG München zurückverwies. Am 26.2.1999 nahm das BVerfG die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des BAG vom 18.9.1997, das Urteil des LAG München vom 7.6.1996 und das Urteil des BAG vom 16.8.1991 nicht zur Entscheidung an. Hinsichtlich des Erhalts einer Entschädigung wegen exzessiver Verfahrensdauer müsse der Bf. auf den Zivilrechtsweg verwiesen werden. Zum Zeitpunkt der Zulässigkeitsentscheidung vor dem GH am 28.9.2000 war das Verfahren angesichts der Tatsache, dass die Akten dem Justizministerium zur Vorbereitung der Bsw. vor dem GH übermittelt worden waren, noch anhängig. Mittlerweile erging am 13.12.2000 ein Urteil des LAG München, wonach das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 17.2.1988 aufgelöst wurde und sprach dem Bf. eine Abfindung von DEM 100.000,-- zu.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 1 1.ZP EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).Der Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und von Artikel 14, EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel eins, 1.ZP EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK:

Nach st. Rspr. des GH fällt ein Verfahren auch dann in den Anwendungsbereich von Art. 6 (1) EMRK, wenn es vor einem Verfassungsgericht stattfand, sein Ausgang aber für die zivilen Rechte und Verpflichtungen entscheidend ist. Das Verfahren begann am 24.2.1988 und wurde am 13.12.2000 beendet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ergibt sich aus den Umständen des Falles, wobei die Komplexität der Sache, das Verhalten des Bf. und das der zuständigen Behörden zu berücksichtigen sind. Es wird festgestellt, dass die gravierendsten Verfahrensverzögerungen vor dem LAG München stattfanden. Es werden va. zwei Perioden der Stagnation festgehalten:Nach st. Rspr. des GH fällt ein Verfahren auch dann in den Anwendungsbereich von Artikel 6, (1) EMRK, wenn es vor einem Verfassungsgericht stattfand, sein Ausgang aber für die zivilen Rechte und Verpflichtungen entscheidend ist. Das Verfahren begann am 24.2.1988 und wurde am 13.12.2000 beendet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ergibt sich aus den Umständen des Falles, wobei die Komplexität der Sache, das Verhalten des Bf. und das der zuständigen Behörden zu berücksichtigen sind. Es wird festgestellt, dass die gravierendsten Verfahrensverzögerungen vor dem LAG München stattfanden. Es werden va. zwei Perioden der Stagnation festgehalten:

Die erste von der mündlichen Urteilsverkündung am 18.12.1989 und seiner schriftlichen Zustellung am 30.12.1990 (mehr als zwölf Monate) und die zweite von der Verhandlung am 9.7.1993 und der Urteilsverkündung am 7.6.1996 (zwei Jahre und elf Monate). Art. 6 (1) EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass Gerichte den Anforderungen dieser Vorschriften gerecht werden können, wozu auch die Verpflichtung gehört, die Fälle in angemessener Frist zu entscheiden. Im vorliegenden Fall weist das Verfahren übermäßige Verzögerungen auf, die den nationalen Behörden zuzurechnen sind. Darüber hinaus wird bei arbeitsrechtlichen Verfahren eine besondere Sorgfalt verlangt, da über jene Punkte, die für die berufliche Situation einer Person von großer Wichtigkeit sind, besonders zügig entschieden werden muss. Im vorliegenden Fall war die Länge des Verfahrens exzessiv und genügte nicht den Erfordernissen einer angemessenen Verfahrensdauer. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK. Keine Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1.ZP EMRK (einstimmig).Die erste von der mündlichen Urteilsverkündung am 18.12.1989 und seiner schriftlichen Zustellung am 30.12.1990 (mehr als zwölf Monate) und die zweite von der Verhandlung am 9.7.1993 und der Urteilsverkündung am 7.6.1996 (zwei Jahre und elf Monate). Artikel 6, (1) EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass Gerichte den Anforderungen dieser Vorschriften gerecht werden können, wozu auch die Verpflichtung gehört, die Fälle in angemessener Frist zu entscheiden. Im vorliegenden Fall weist das Verfahren übermäßige Verzögerungen auf, die den nationalen Behörden zuzurechnen sind. Darüber hinaus wird bei arbeitsrechtlichen Verfahren eine besondere Sorgfalt verlangt, da über jene Punkte, die für die berufliche Situation einer Person von großer Wichtigkeit sind, besonders zügig entschieden werden muss. Im vorliegenden Fall war die Länge des Verfahrens exzessiv und genügte nicht den Erfordernissen einer angemessenen Verfahrensdauer. Verletzung von Artikel 6, (1) EMRK. Keine Prüfung der behaupteten Verletzung von Artikel 14, EMRK in Verbindung mit Artikel eins, 1.ZP EMRK (einstimmig).

Vgl. die vom GH zitierte Judikatur:

Buchholz/D v. 6.5.1981, A/42 (= EuGRZ 1981, 490).

Metzger/D v. 31.5.2001 (= EuGRZ 2001, 299).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.10.2001, Bsw. 42505/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2001, 207) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/01_5/Mianowicz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00363 Bsw42505.98-U

Dokumentnummer

JJT_20011018_AUSL000_000BSW42505_9800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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