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41 Innere AngelegenheitenNorm
B-VG Art140 Abs1 / PrüfungsgegenstandLeitsatz
Keine Folge für Anträge des Unabhängigen Verwaltungssenates auf Aufhebung von Bestimmungen zwischenstaatlicher Abkommen über die Aufhebung der Sichtvermerkspflicht; kein Widerspruch zu den Bestimmungen des Fremdenrechts über die Erleichterung des Reiseverkehrs und den Ausnahmen von der Sichtvermerkspflicht; Ergänzung des Fremdengesetzes durch das Schengener Übereinkommen; keine Aufhebung allenfalls gemeinschaftsrechtswidriger österreichischer Rechtsvorschriften durch den VerfassungsgerichtshofSpruch
Den Anträgen wird keine Folge gegeben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Der Verfassungsgerichtshof hält es für zweckmäßig, zunächst die in den vorliegenden Prüfungsfällen hauptsächlich in Betracht zu ziehenden Rechtsvorschriften im Wortlaut wiederzugeben, nämlich Bestimmungen des (gegenwärtig idF der Novelle BGBl. I 134/2002 geltenden) Fremdengesetzes 1997, BGBl. I 75, (im folgenden: FrG) des (gekürzt zitiert) Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ), Beilage B zu BGBl. III 90/1997, des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, ABl. 1997, C 340, 93 (im folgenden: "Schengen-Protokoll") sowie des Abkommens zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Slowakischen Republik zur Änderung des Abkommens über die Aufhebung der Sichtvermerkspflicht vom 18. Jänner 1990 in der Fassung des Notenwechsels vom 22. Dezember 1993 und vom 14. Jänner 1994, BGBl. III 102/1998, und des Abkommens zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Tschechischen Republik zur Änderung des Abkommens über die Aufhebung der Sichtvermerkspflicht vom 18. Jänner 1990, BGBl. III 159/1999:
1. FrG 1997 :
(§§6, 28 Abs1 und 88 in der Stammfassung, BGBl. I 75/1997)
"Einreisetitel (Visa)
§6. (1) Die Einreisetitel (Visa) werden als
1. Flugtransitvisum (Visum für den Flughafentransit, Visum A) oder
2. Durchreisevisum (Visum B) oder
3. Reisevisum (Visum für den kurzfristigen Aufenthalt, Visum C) oder
4. Aufenthaltsvisum (Visum für den längerfristigen Aufenthalt, Visum D) erteilt.
(2) Jedes von einem Vertragsstaat ausgestellte Visum, dessen Geltungsbereich Österreich umfaßt, gilt als Einreisetitel; ein nicht von Österreich ausgestelltes Visum D berechtigt jedoch nur zur Durchreise.
(3) Visa werden für die Einreise zu einem sechs Monate nicht übersteigenden Aufenthalt ausgestellt. Sie lassen die Ausübung einer Erwerbstätigkeit außer im Rahmen von Geschäftsreisen nicht zu.
(4) Visa können für die ein- oder mehrmalige Einreise erteilt werden. Im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit kann die Behörde im Visum die Benützung bestimmter Grenzübergangsstellen vorschreiben.
(5) Durchreisevisa berechtigen zur ein- oder mehrmaligen Durchreise durch die Vertragsstaaten und Österreich binnen fünf Tagen. Reisevisa berechtigen zu einem Aufenthalt bis zu drei Monaten in Vertragsstaaten und Österreich. Ist das Reisedokument des Fremden nicht für alle Vertragsstaaten gültig, so ist das Reisevisum auf das Bundesgebiet und jene Vertragsstaaten zu beschränken, für die das Reisedokument gültig ist. Aufenthaltsvisa berechtigen zu einem drei Monate übersteigenden Aufenthalt in Österreich.
(6) Visa können als Dienstvisa oder als Diplomatenvisa erteilt werden. Sie dürfen Fremden nur unter den Voraussetzungen erteilt werden, unter denen aus einem derartigen Anlaß für österreichische Staatsbürger österreichische Dienst- oder Diplomatenpässe ausgestellt werden.
(7) Die äußere Form der Visa wird durch Verordnung des Bundesministers für Inneres kundgemacht."
"Sonstige Ausnahmen von der Sichtsvermerkspflicht
§28. (1) Sofern die Bundesregierung zum Abschluß von Regierungsübereinkommen gemäß Art66 Abs2 B-VG ermächtigt ist, kann sie zur Erleichterung des Reiseverkehrs unter der Voraussetzung, daß Gegenseitigkeit gewährt wird, vereinbaren, daß Fremde berechtigt sind, ohne Visum in das Bundesgebiet einzureisen und sich in diesem aufzuhalten. Solche Fremde bedürfen für den Zeitraum eines Jahres nach einer Zurückweisung gemäß §52 Abs2 Z3, nach einer Zurückschiebung oder nach einer Ausweisung zur Einreise in das Bundesgebiet und zum Aufenthalt in diesem dennoch eines Visums.
..."
"Sachliche Zuständigkeit
§88.
...
(3) Im Inland obliegt die Erteilung oder die Ungültigerklärung von
1. Dienstvisa dem Bundesminister für Inneres;
2. Diplomatenvisa dem Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten.
Eine Wiedereinreisebewilligung und ein Flugtransitvisum können im Inland nicht erteilt werden. Durchreise-, Reise- und Aufenthaltsvisa können im Inland nur bei jenen Grenzübergangsstellen erteilt werden, auf die sich eine Ermächtigung gemäß Abs4 bezieht.
(4) Der Bundesminister für Inneres kann, wenn dies der Erleichterung des Reiseverkehrs dient oder im Interesse der Zweckmäßigkeit, Raschheit und Einfachheit gelegen ist, durch Verordnung die Behörden ermächtigen, bei bestimmten Grenzübergangsstellen Visa zur sofortigen Einreise zu erteilen oder erteilte Visa für ungültig zu erklären (§16).
..."
2. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ):
"Artikel 20
(1) Sichtvermerksfreie Drittausländer können sich in dem Hoheitsgebiet der Vertragsparteien frei bewegen, höchstens jedoch drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Datum der ersten Einreise an und soweit sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen.
(2) Absatz 1 berührt nicht das Recht jeder Vertragspartei, den Aufenthalt eines Drittausländers in ihrem Hoheitsgebiet in Ausnahmefällen oder in Anwendung der Bestimmungen eines bilateralen Abkommens, das bereits vor dem Inkrafttreten dieses Übereinkommens zustandegekommen ist, über drei Monate hinaus zu verlängern.
(3) Die Bestimmungen dieses Artikels gelten unbeschadet des Artikels 22."
3. "Schengen-Protokoll"
"Artikel 2
(1) Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam ist der Schengen-Besitzstand, der auch die vor diesem Zeitpunkt erlassenen Beschlüsse des durch die Schengener Übereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses umfasst, unbeschadet des Absatzes 2 dieses Artikels für die in Artikel 1 aufgeführten dreizehn Mitgliedstaaten sofort anwendbar. Ab demselben Zeitpunkt wird der Rat an die Stelle des genannten Exekutivausschusses treten.
...
Anhang
Schengen-Besitzstand
1. ...
2. Das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnete \bereinkommen zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxenburg und dem Königreich der Niederlande zur Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen mit der dazugehörigen Schlussakte und den dazu abgegebenen gemeinsamen Erklärungen.
..."
4. Sichtvermerksabkommen:
a) Sichtvermerksabkommen mit der Slowakischen Republik
(BGBl. 47/1990 idF BGBl. 1047/1994 und BGBl. III 102/1998):
"Artikel 1
...
(1) Die Staatsbürger der Vertragsstaaten, die Inhaber eines gültigen gewöhnlichen Reisepasses sind, dürfen ohne Sichtvermerk in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates einreisen und sich dort bis zu 90 Tagen aufhalten.
(2) Die Berechtigung des Absatzes 1 gilt nicht für Staatsbürger, die sich in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates begeben wollen, um dort ein Arbeitsverhältnis einzugehen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder um dort einen länger als 90 Tage dauernden Aufenthalt zu nehmen.
..."
b) Sichtvermerksabkommen mit der Tschechischen Republik
(BGBl. 47/1990 idF BGBl. III 123/1997 und BGBl. III 159/1999):
"Artikel 1
...
(1) Die Staatsbürger der Vertragsstaaten, die Inhaber eines gültigen gewöhnlichen Reisepasses sind, dürfen ohne Sichtvermerk in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates einreisen und sich dort bis zu 90 Tage aufhalten.
(2) Die Berechtigung des Absatzes 1 gilt nicht für Staatsbürger, die sich in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates begeben wollen, um dort ein Arbeitsverhältnis einzugehen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder um dort einen länger als 90 Tage dauernden Aufenthalt zu nehmen.
..."
II. 1. Beim Unabhängigen Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (im folgenden UVSNÖ oder bloß UVS) sind Verfahren über zwei Berufungen der Beteiligten Kristina J. (einer tschechischen Staatsangehörigen), und zwar gegen einen Verfallsbescheid der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 5. Jänner 2001 und gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung vom 23. Feber 2001, sowie über zwei Berufungen des Beteiligten Ludomir P. (eines slowakischen Staatsangehörigen), und zwar gegen zwei Straferkenntnisse der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung je vom 22. Feber 2001, anhängig. Beiden Beteiligten war in den Straferkenntnissen zur Last gelegt worden, sich innerhalb datumsmäßig angeführter Zeiträume nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, insbesondere weder über einen entsprechenden Einreisetitel noch über einen Aufenthaltstitel verfügt zu haben. Die jeweils angeführten, (getrennt betrachtet) unter 90 Tagen liegenden Zeiträume seien - im Sinne des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 1. Juni 1994, Zl. 94/18/0258 - zu addieren gewesen, sodaß die aufgrund des Sichtvermerksabkommens mit der Tschechischen Republik bzw. mit der Slowakischen Republik jeweils geltende 90-Tages-Frist überschritten worden sei. In den Berufungen nahmen die Beteiligten den Standpunkt ein, Art1 Abs1 der Übereinkommen seien dahin zu verstehen, daß die 90-tägige Frist mit jeder Einreise in das Bundesgebiet neuerlich zu laufen beginne.
2. Aus Anlaß dieser Berufungen stellt der UVSNÖ unter Bezugnahme auf Art129a Abs3 iVm Art89 Abs2 und 3 und Art140a Abs1 B-VG mit Schriftsatz vom 18. Mai 2001 die Anträge zu erkennen, daß (und zwar im Hinblick auf die Berufungssachen der Beteiligten Kristina J.) Art1 Abs1, hilfsweise auch Abs2 des Sichtvermerksabkommens mit der Tschechischen Republik und (bezüglich der Berufungen des Beteiligten Ludomir P.) Art1 Abs1, hilfsweise auch Abs2, des Sichtvermerksabkommens mit der Slowakischen Republik "als rechtswidrig aufgehoben werden".
Der UVS nimmt die Präjudizialität der bezogenen Abkommensvorschriften unter dem Aspekt der von ihm zu treffenden Rechtsmittelentscheidungen an. Er bezieht sich dabei insbesondere auf §107 Abs1 Z4 sowie §31 Abs1 und 3 FrG 1997 und meint, daß die Strafverfahren einzustellen bzw. der Verfallsbescheid ersatzlos zu beheben wären, wenn - wie von den Beteiligten vorgebracht - die 90-tägige Frist der Übereinkommen mit jeder neuerlichen Einreise von neuem zu laufen beginne.
3. Hinsichtlich der Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Vertragsbestimmungen geht der UVS davon aus, daß "beide Änderungsabkommen" (- die Fassungen der angefochtenen Bestimmungen beruhen auf den Verträgen BGBl. III 102/1998 bzw. BGBl. III 159/1999 -) unter dem Regime des FrG 1997 abgeschlossen worden seien und sich daher auf §28 Abs1 dieses Gesetzes stützen. Im einzelnen legt der UVS - an eine wörtliche Wiedergabe des §28 Abs1 FrG 1997 anknüpfend - sodann folgendes dar:
"Diese Bestimmung entspricht weitgehend der Vorgängerregelung des §14 Abs1 Fremdengesetz 1992, wobei Anhaltspunkte für eine Ausweitung der Ermächtigung der Bundesregierung gegenüber dem Regime des Fremdengesetzes 1992 nicht erkannt werden können. Bei der Auslegung des Fremdengesetzes 1997 und damit auch der Bestimmung des §28 Abs1 Fremdengesetz 1997 ist ferner zu berücksichtigen, dass erklärtes Ziel der Neukodifizierung eine Anpassung des fremdenrechtlichen Regimes an das Regime des Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) war (vgl. die Ausführungen zu den Zielen und der EU-Konformität in den EBRV 685 BlgNR XX.GP).
Dessen Art20 Abs1 bestimmt, dass sich sichtvermerksfreie Drittausländer in dem Hoheitsgebiete der Vertragsparteien frei bewegen können, dies aber grundsätzlich höchstens drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Datum der ersten Einreise an. Abs2 leg. cit. bestimmt, dass das Recht der Vertragsparteien, den Aufenthalt eines Drittausländers in ihrem Hoheitsbereich in Ausnahmefällen oder in Anwendung der Bestimmungen eines bilateralen Abkommens, das bereits vor dem Inkrafttreten dieses Übereinkommens (des SDÜ) zustandegekommen ist, über drei Monate zu verlängern.
Unter einem Visum sind gemäß §6 Fremdengesetz 1997 ausschließlich Einreisetitel zu verstehen. Sie werden als
1. Flugtransitvisa (Visa für den Flughafentransit, Visum A),
2. Durchreisevisa (Visa B),
3. Reisevisa (Visa für den kurzfristigen Aufenthalt, Visum C)
[oder]
4. Aufenthaltsvisa (Visa für den längerfristigen Aufenthalt, Visum D) erteilt.
Visa werden gemäß §6 Abs3 Fremdengesetz 1997 für eine Einreise zu einem 6 Monate nicht übersteigenden Aufenthalt ausgestellt. Reisevisa berechtigten zu einem Aufenthalt bis zu 3 Monaten in den Vertragsstaaten und im Bundesgebiet und dürfen dann nicht erteilt werden, wenn dies in Verbindung mit einem bereits abgelaufenen Reisevisum einen 3 Monate übersteigenden Aufenthalt innerhalb des der ersten Einreise folgenden Halbjahres in den Vertragsstaaten ermöglichen würde (§11 Abs1 Z3 Fremdengesetz 1997).
Bereits der Wortlaut der Ermächtigung des §28 Abs1 Fremdengesetz 1997 (arg.: ...Erleichterung des Reiseverkehrs...) spricht nach Ansicht des antragstellenden Unabhängigen Verwaltungssenats dafür, dass Gegenstand eines entsprechenden Übereinkommens lediglich ein Absehen von der Visapflicht hinsichtlich der Visa A bis C sein kann.
Für diese Auslegungsvariante ist - abgesehen vom Wortlaut und der ratio dieser Bestimmung - aber auch ins Treffen zu führen, dass die Ermächtigung andernfalls (und entgegen der Intention des Gesetzgebers) einen Art20 SDÜ widersprechenden Inhalt aufweisen würde. Wenn in diesem Zusammenhang argumentiert wird, dass Art20 Abs2 SDÜ Ausnahmen für sogenannte 'Altübereinkommen' vorsieht, so ist dem entgegenzuhalten, dass die hier interessierenden Bestimmungen auf bereits nach Inkrafttreten des SDÜ abgeschlossenen Änderungsübereinkommen basieren, die den ursprünglichen Übereinkommen insoweit derogiert haben. Dass eingedenk der Zielsetzung des Schengener Vertragswerkes Art20 Abs2 SDÜ aber dahingehend ausgelegt werden könnte, dass es den Parteien unbenommen bleiben solle, vor Inkrafttreten des SDÜ abgeschlossene Vereinbarungen nach Belieben abzuändern, muss bezweifelt werden.
Auch vermag der antragstellende Unabhängige Verwaltungssenat nicht zu erkennen, dass die gegenständlichen Übereinkommen lediglich 'Ausnahmefälle' i.S.d. Art20 Abs2 SDÜ betreffen.
Nach Ansicht des antragstellenden Unabhängigen Verwaltungssenats dürfen daher Übereinkommen nach §28 Abs1 Fremdengesetz 1997 lediglich unter Berücksichtigung der Schengen-Klausel abgeschlossen werden.
Demgegenüber ermöglichen die Art1 Abs1 der genannten Übereinkommen - ihrem klaren Wortlaut nach - einen diese Zeiträume weit übersteigenden sichtvermerksfreien Aufenthalt im Bundesgebiet, sofern keine Niederlassungsabsicht bzw. keine Absicht, sich länger als 90 Tage im Bundesgebiet aufzuhalten, erkennbar ist.
Daran vermögen nach Ansicht des antragstellenden Unabhängigen Verwaltungssenats auch die jeweiligen Abs2 nichts zu ändern, zumal diese eine Ausnahme von der Sichtvermerksfreiheit ausschließlich an subjektive Kriterien (nämlich die Absicht des Fremden) knüpfen und eine Anknüpfung an objektive Kriterien entsprechend der Schengen-Klausel vermissen lassen.
Die jeweiligen Art1 lassen nach Ansicht des antragstellenden Unabhängigen Verwaltungssenats auch keine gesetzeskonforme Interpretation zu.
Aus dem Gesagten ergibt sich nach Ansicht des Unabhängigen Verwaltungssenats im Land Niederösterreich, dass die Ermächtigung des §28 Abs1 Fremdengesetz 1997 durch die Änderungsübereinkommen BGBI. III 102/1998 sowie BGBI. III 159/1999 ... überschritten wurde.
Da bei Aufhebung der jeweiligen Abs1 den jeweiligen Abs2 jeder Inhalt genommen würde, wird in eventu beantragt, auch diese mitaufzuheben."
4. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie die Prozeßvoraussetzungen der Prüfungsverfahren als gegeben ansieht, den Bedenken des UVS entgegentritt und (primär) den Ausspruch begehrt, daß die angefochtenen Bestimmungen nicht rechtswidrig sind.
Im wesentlichen legt die Bundesregierung folgendes dar:
"In der Folge ist zu zeigen, dass es sich bei diesen Abkommen um solche handelt, auf die Art20 Abs2 SDÜ anwendbar ist, und die Bundesregierung von dieser Ermächtigung zu Recht Gebrauch gemacht hat.
2. Art20 Abs2 SDÜ normiert, dass das Recht der Vertragsstaaten, in Anwendung von Altabkommen (das sind jene, die vor Inkrafttreten des SDÜ zustandegekommen sind) den sichtvermerksfreien Aufenthalt der Staatsangehörigen des jeweiligen anderen Vertragspartners über drei Monate hinaus zu verlängern, von Art20 Abs1 SDÜ unberührt bleibt.
Das Abkommen zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik über die Aufhebung der Sichtvermerkspflicht, kundgemacht in BGBl. Nr. 47/1990, sah in dessen Artikel 1 Abs1 und 2 folgendes vor:
'(1) Die Staatsbürger der Vertragsstaaten, die Inhaber eines gültigen gewöhnlichen Reisepasses sind, dürfen zu einem nicht Erwerbszwecken dienenden Aufenthalt ohne Sichtvermerk in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates einreisen und sich dort bis zu 30 Tagen aufhalten.
(2) Für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder für einen 30 Tage übersteigenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates ist ein Sichtvermerk erforderlich.'
Dieses Abkommen wurde durch die angefochtenen Dnderungsabkommen BGBl. III Nr. 102/1998 und BGBl. III Nr. 159/1999 lediglich dahingehend abgeändert, dass nunmehr anstatt der Frist von 30 Tagen eine solche von 90 Tagen vorgesehen wurde.
Bei den gegenständlichen Abkommen handelt es sich nach Ansicht der Bundesregierung um solche, die vor dem Inkrafttreten des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) zustande gekommen und ihrem materiellen Wesensgehalt nach unverändert geblieben sind.
In Übereinstimmung mit dem Unabhängigen Verwaltungssenat ist zwar davon auszugehen, dass Abkommen, die nach dem Inkrafttreten des SDÜ zustande gekommen sind, nur noch mit der sogenannten 'Schengenklausel' abgeschlossen werden dürfen. Wenn er aber argumentiert, dass für die Beurteilung, ob es sich um Altabkommen oder um neue handelt, der Zeitpunkt der Änderung durch die Übereinkommen BGBl. III 102/1998 (Slowakei) und BGBl. III 159/1999 (Tschechien) maßgeblich ist, muss dem entgegengehalten werden, dass es sich in diesen Fällen um eine Adaptierung der ursprünglichen, aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des SDÜ stammenden Übereinkommen handelt und nicht um den Abschluss neuer Abkommen. Die für die Auslegung völkerrechtlicher Vereinbarungen maßgeblichen Regelungen der Wiener Vertragsrechtskonvention unterscheiden deutlich zwischen dem Abschluss eines neuen Abkommens und der Adaptierung oder Änderung bestehender Vereinbarungen. So finden sich im Teil II leg. cit. (Art6 ff) Bestimmungen über den Abschluss neuer Verträge und davon deutlich getrennt in Teil IV ('Änderung und Modifikation von Verträgen'; Art39ff) Regelungen über die Änderung bestehender Verträge.
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die beiden gegenständlichen Abkommen bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des SDÜ davon abweichende Regelungen enthielten. Durch die nachfolgenden Änderungen der Abkommen wurde lediglich ein bereits Österreich durch Art20 Abs2 SDÜ eingeräumter Ausnahmetatbestand angepasst, ohne ihn grundlegend umzugestalten.
In diesem Sinne ist zusammenfassend jedenfalls davon auszugehen, dass durch die Änderung der Übereinkommen aus 1998 und 1999 keine grundlegende Umgestaltung erfolgte und daher der Charakter dieser Übereinkommen als Altabkommen iSv Art20 Abs2 SDÜ erhalten bleibt.
3. Zusammenfassend wird daher festgehalten, dass aus Sicht der Bundesregierung eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bestimmungen der Staatsverträge nicht vorliegt.
4. Die vorstehenden Ausführungen geben die Rechtsansicht der österreichischen Bundesregierung wieder. Gleichzeitig ist der Vollständigkeit halber aber darauf hinzuweisen, dass die hier grundgelegte Interpretation des Art20 Abs2 SDÜ und damit die Frage, ab welchem Zeitpunkt und für welche Abkommen die sogenannte 'Schengenklausel' zur Anwendung kommen soll, in den Schengener (und in der Folge EU-) Gremien durchaus kontroversiell diskutiert wurde und von den Vertragsstaaten unterschiedlich interpretiert wird. Dies wird nicht zuletzt durch ein Gutachten des juristischen Dienstes des Rates der Europäischen Union vom 21. September 1999 dokumentiert, der von der Arbeitsgruppe Visa zur Klärung der Frage der Anwendung des Art20 SDÜ konsultiert wurde.
...
Die aus dem Gutachten zu ziehenden Schlußfolgerungen zeigen eindeutig, dass eine Ausnahme im Sinne des Art20 Abs2 immer dann anzunehmen ist, wenn es sich um ein Altabkommen handelt, das eine rechtsverbindliche internationale Übereinkunft darstellt.
Die vor dem Zeitpunkt der Erstellung dieses Gutachtens unklare und diffizile Situation wird auch durch zahlreiche Protokolle und Vermerke der zuständigen Arbeitsgruppe oder des Schengener Exekutivausschusses im Verhältnis zur Dauer des sichtvermerksfreien Aufenthaltes verschiedener Staatsangehöriger dokumentiert. Dies wird insbesondere deutlich an spezifischen Regelungen zur Sichtvermerksfreiheit mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Australien, Neuseeland oder Simbabwe im Verhältnis zu einzelnen Schengen Staaten.
Vor diesem Hintergrund könnte erwogen werden, das ggst. Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gem. Art234 Uabs. 3 EGV die Frage vorzulegen, ob es sich bei einem Abkommen, das vor dem Inkrafttreten des SDÜ zustande gekommen ist und das nach diesem Zeitpunkt in einem von sieben Vertragsartikeln geändert wurde, um ein vor dem Inkrafttreten des SDÜ zustande gekommenes Abkommen im Sinne von Art20 Abs2 SDÜ handelt. Seit seiner Einbeziehung in den Rechtsbestand der Europäischen Union durch das Protokoll zum EUV und zum EGV zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union und seiner Zuordnung zu Titel IV EGV durch den Beschluss des Rates 1999/436 vom 20.05.1999, ABl. Nr. L 176 vom 10.07.1999, stellt Art20 SDÜ nämlich eine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung dar, deren einheitliche Auslegung vom EuGH sicherzustellen ist.
In diesem Zusammenhang wird auch mitgeteilt, dass die Frage, inwieweit Änderungen von Übereinkünften, die vor dem Beitrittszeitpunkt nunmehriger EU-Mitgliedstaaten von der denselben Schutzzweck verfolgenden Unberührtheitsklausel des Art307 Uabs. 1 EGV umfasst sind, derzeit Gegenstand mehrerer Verfahren vor dem EuGH sind. (...) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Umstand, dass die betroffenen Mitgliedstaaten und ihre Streithelfer einhellig die Auffassung vertreten, dass Änderungen von 'Altabkommen', die diese nicht grundlegend umgestalten, keine neu geschlossenen Abkommen darstellen."
5. Der UVSNÖ replizierte auf diese Äußerung der Bundesregierung und blieb auf seinem Standpunkt.
6. Die Beteiligten begehren in einem gemeinsamen Schriftsatz die Abweisung der Anträge des UVSNÖ.
III. 1. Die Anträge erweisen sich als zulässig.
Zweifel am Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen wurden weder geäußert noch sind solche sonst hervorgekommen.
Der Umstand, daß der UVS - dem Art140a B-VG zuwider - die Aufhebung der angefochtenen vertraglichen Vorschriften statt der Feststellung ihrer Gesetzwidrigkeit begehrt, berührt die Zulässigkeit der Anträge nicht, weil das Aufhebungsbegehren voraussetzungsgemäß den Vorwurf der Rechtswidrigkeit - hier: der Gesetzwidrigkeit - und damit das Begehren auf deren Feststellung in sich schließt (vgl. dazu die Rechtsprechung bezüglich eines Aufhebungsbegehrens im Fall der Anfechtung bereits außer Kraft getretener genereller Vorschriften, zB. VfSlg. 4718/1964).
Die Anträge umfassen hilfsweise zurecht auch den jeweiligen Abs2 des Art1, weil jener mit dem ersten Absatz in einem nicht trennbaren Zusammenhang steht.
2. Die Anträge sind jedoch nicht gerechtfertigt.
a) Es kann auf sich beruhen, ob und bejahendenfalls inwieweit die vom antragstellenden UVS aufgeworfene Frage, ob §28 Abs1 FrG auch Ausnahmen in Ansehung von Aufenthaltsvisa im Sinne des §6 Abs1 Z4 FrG ("Visum für den längerfristigen Aufenthalt, Visum D") zulasse, für die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit des jeweiligen Art1 Abs1 des Sichtvermerksabkommens von Belang ist. Die gestellte Frage ist nämlich vorbehaltlos zu bejahen. Die Wendung "zur Erleichterung des Reiseverkehrs" schließt schon deshalb eine Ausnahme von der Sichtvermerkspflicht (auch) hinsichtlich des Visums D nicht aus, weil die bezogene Gesetzesstelle keine wie immer geartete Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet vornimmt (arg.: "...in das Bundesgebiet einreisen und sich in diesem aufzuhalten."), also offensichtlich an die aus der Art des Visums resultierende (maximale) Aufenthaltsdauer anknüpft (vgl. hiezu §6 Abs3 erster Satz [Einreise zu einem sechs Monate nicht übersteigenden Aufenthalt] und Abs5 zweiter Satz [Aufenthalt bis zu drei Monaten] FrG). Dazu kommt, daß in §88 Abs4 FrG der Ausdruck "Erleichterung des Reiseverkehrs" auch für allgemeine Regelungen (nämlich für die Festlegung der Behördenzuständigkeit durch Verordnung) gebraucht wird, die sich (wie der Zusammenhalt der Absätze 3 und 4 ergibt) ausdrücklich auch auf Aufenthaltsvisa beziehen. Dem Gesetzgeber kann aber nicht zugesonnen werden, sich in ähnlichen Regelungsbereichen einer gleichen Wortwahl mit unterschiedlichem Bedeutungsinhalt zu bedienen.
b) Es versagt aber auch der weitere Antragsvorwurf, welcher die Gesetzwidrigkeit des jeweiligen Art1 Abs1 in den beiden Übereinkommen im Hinblick auf Art20 Abs1 SDÜ annimmt. Der Verfassungsgerichtshof hält es für verfehlt, sämtliche - positive und negative - Voraussetzungen eines Sichtvermerksbefreiungsabkommens allein aus §28 Abs1 FrG ableiten zu wollen. Ebenso wie die Befreiung von der Sichtvermerkspflicht deren inhaltliche Umschreibung und damit auch die bestimmter Visa voraussetzt, bei Abschluß eines Regierungsübereinkommens also nicht bloß §28 Abs1 sondern etwa auch §6 FrG anzuwenden ist, trifft dies in grundsätzlich gleicher Weise auch für die in Art20 Abs1 SDÜ festgelegten Beschränkungen zu. Es wäre nicht zutreffend anzunehmen, Art20 Abs1 SDÜ habe §28 Abs1 FrG verändert; er ist vielmehr zusätzlich zu diesem von Relevanz.
Daraus folgt, daß der in Rede stehende Antragsvorwurf sich der Sache nach nicht gegen eine dem Art20 Abs1 SDÜ zuwiderlaufende Handhabung des §28 Abs1 FrG wendet, sondern einen Widerspruch zwischen den angefochtenen Vertragsbestimmungen und Art20 Abs1 SDÜ unterstellt. Damit wird aber ein Widerspruch der angefochtenen Staatsvertragsbestimmungen zu einer gemeinschaftsrechtlichen Rechtsvorschrift behauptet. Dies ergibt sich aus dem sog. Schengen-Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes (für 13 Mitgliedstaaten), welche auch das SDÜ (zur Gänze) samt dem Beitrittsprotokoll und -übereinkommen umfaßt (s. dazu im einzelnen Elsen, Die Übernahme des "Schengen-acquis" in den Rahmen der EU, in:
Hummer [Hrsg], Rechtsfragen in der Anwendung des Amsterdamer Vertrages [2001] 39, sowie VfGH vom 1. Oktober 2001, G224-264/01). Ein allfälliger Widerspruch österreichischer Rechtsvorschriften, wie sie die angefochtenen Bestimmungen der Übereinkommen darstellen, zu Vorschriften des Gemeinschaftsrechts kann jedoch nicht zu deren Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof wegen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit führen (s. dazu Öhlinger/Potacs2, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht [2001] 151 mwH, sowie - bezüglich der Verordnungsprüfung - Öhlinger, Verfassungsrecht4 [1999] Rz 1006), sondern ist mit den gemeinschaftsrechtseigenen Instrumenten der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation oder des Anwendungsvorranges zu bewältigen.
IV. Den Anträgen des UVSNÖ konnte sohin keine Folge gegeben werden.
V. Diese Entscheidung wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung getroffen.
Schlagworte
EU-Recht, Fremdenrecht, VfGH / Antrag, VfGH / Staatsvertragsprüfung, VfGH / PrüfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2002:SV2.2002Dokumentnummer
JFT_09979074_02SV0002_00