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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §7;Beachte
Serie (erledigt im gleichen Sinn): 2005/01/0418 E 26. März 2007Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gruber und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Mag. Nedwed und Dr. Doblinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Matt, über die Beschwerde des A E M in I, geboren 1991, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 12. April 2005, Zl. 254.592/0- V/14/04, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird in seinen Spruchpunkten 2. und 3. (Ausspruch nach § 8 Abs. 1 AsylG und Ausweisung nach § 8 Abs. 2 AsylG) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Im Übrigen (Abweisung der Berufung gemäß § 7 AsylG in Spruchpunkt 1.) wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein der arabischen Volksgruppe angehörender marokkanischer Staatsangehöriger, reiste am 29. Mai 2004 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 2. Juni 2004 Asyl.
Bei seiner Einvernehme vor dem Bundesasylamt am 11. Oktober 2004 brachte er im Wesentlichen vor, er habe bis zu seinem achten Lebensjahr in Casablanca bei seinen Eltern gelebt; er habe dort ein Jahr die Schule besucht und könne Arabisch lesen und schreiben. Im Alter von acht Jahren habe er einen Streit mit seinen Eltern gehabt und sei deshalb von zu Hause weggelaufen. Er sei nur selten zu Hause gewesen und habe sich - was ihm sein Vater vorgeworfen habe - "in der Stadt herumgetrieben". Nachdem er mit einer Fähre (versteckt unter einem LKW) nach Spanien gelangte sei, habe er zwei Jahre in einem Heim verbracht; dort (in Girona nahe der spanisch/französischen Grenze) habe er "Lesen und Schreiben" gelernt. Im Alter von zehn Jahren sei er mit dem Zug nach Frankreich gefahren; er habe dann in Paris und in Marseille (bei Landsleuten) gelebt. Nach eineinhalb Jahren sei er nach Italien gefahren und habe sich in Mailand, Bergamo und Turin aufgehalten; Ende Mai 2004 sei er von Italien nach Österreich gereist. Im Falle seiner Rückkehr nach Marokko habe er keine "richtige Angst", er habe aber dort "kein zu Hause mehr" und müsste "auf der Straße leben".
Mit Bescheid vom 18. Oktober 2004 wies das Bundesasylamt den Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Marokko gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig und wies ihn gemäß § 8 Abs. 2 leg. cit. "aus dem österreichischen Bundesgebiet" aus.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer (vertreten durch den zuständigen Jugendwohlfahrtsträger) Berufung; darin wurde (u.a.) vorgebracht, der (negativen Entscheidung) stehe (auch) die UN-Kinderrechtskonvention entgegen; jede Missachtung des Kindeswohles verstoße gegen das Völkerrecht. Dem Aspekt der Minderjährigkeit (des Beschwerdeführers) sei nicht entsprechend Rechnung getragen worden. Eine adäquate Unterstützung des Beschwerdeführers sei wegen der fehlenden Bereitschaft seiner Familie in seiner Heimat nicht möglich; die Rückschiebung des Beschwerdeführers nach Marokko sei nicht zumutbar. Er habe als Minderjähriger keine Lebensgrundlage in Marokko (weil er dort keine sozialen und ökonomischen Bezugspunkte habe) und er habe keine positive Zukunftsperspektive in seinem Herkunftsstaat. Dieser Umstand sei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Missbrauch unbegleiteter Minderjähriger ("Straßenkinder") in Marokko gang und gebe sei. Unter Berücksichtigung der näher bezeichneten Berichte (aus dem Internet) lasse dies den berechtigten Schluss zu, der Beschwerdeführer (ein Jugendlicher) könne im Falle seiner Abschiebung Gefahr laufen, in Marokko unmenschlicher Behandlung unterworfen zu werden.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt 1.), stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Marokko gemäß "§ 8 AsylG iVm § 57 FrG" zulässig sei (Spruchpunkt 2.) und wies dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG "aus dem österreichischen Bundesgebiet" aus.
Diese Entscheidung begründete die belangte Behörde im Wesentlichen damit, die Gründe für das Verlassen des Heimatlandes würden in einem privaten Streit (mit seinen Eltern) liegen, weil der Beschwerdeführer sich mit anderen Jugendlichen in der Stadt herumgetrieben habe und selten nach Hause gekommen sei. Eine "fluchtauslösende Motivation" aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe lasse sich daraus nicht ableiten. Insoweit (von der belangten Behörde) zu klären sei, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass der Beschwerdeführer Gefahr liefe, in Marokko einer Bedrohung im Sinne des § 57 Abs. 1 FrG unterworfen zu werden, sei davon auszugehen, dass exzeptionelle Umstände, die eine Rückführung in den Herkunftsstaat in Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen lassen könnten, im Falle des Beschwerdeführers nicht ersichtlich seien. Vor dem Hintergrund der "allgemeinen Lage in Marokko" im Zusammenhang mit dem Vorbringen über den Streit mit den Eltern sei nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Marokko einer lebensbedrohenden Situation (betreffend seine existenziellen Grundbedürfnisse wie etwa Nahrung und Unterkunft) ausgesetzt wäre. Vielmehr sei davon auszugehen, dass "jedenfalls die existenziellen Grundbedürfnisse gesichert sind". Aufgrund der "klaren Sachlage" und den vom Bundesasylamt getroffenen Feststellungen habe auf Durchführung einer Verhandlung vor der belangten Behörde verzichtet werden können.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde bekämpft den Bescheid der belangten Behörde zwar "zur Gänze", sie enthält jedoch - auch im Zusammenhang mit der von ihr geltend gemachten Verletzung der Verhandlungspflicht - keine Ausführungen dazu, warum dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat Verfolgung aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Flüchtlingskonvention genannten Gründen drohen sollte. Soweit die Beschwerde sich gegen die Abweisung der Berufung gemäß § 7 AsylG wendet, kann sie keinen Erfolg haben.
Hingegen macht die Beschwerde zu Recht eine Verletzung der Verhandlungspflicht zur Frage des subsidiären Schutzes geltend. Die Berufung wandte sich mit ausreichend substantiiertem Vorbringen (auch) dagegen, dass die Situation des Beschwerdeführers als Minderjähriger und "Straßenkind" in Marokko bei der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 AsylG nicht ausreichend berücksichtigt worden sei, weshalb die belangte Behörde nicht ohne Weiteres (insbesondere ohne Durchführung einer Berufungsverhandlung) davon ausgehen durfte, der Sachverhalt sei - wie sie ohne nähere Begründung ausführte - als geklärt anzusehen und es sei nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer bei Rückkehr nach Marokko in Ansehung seiner Grundbedürfnisse keiner lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.
Da die Ablehnung von subsidiärem Schutz für den Beschwerdeführer auf einen mangelhaften Verfahren beruhte und der Bescheid in diesem Punkt keinen Bestand haben kann, verfällt die Ausweisung des Beschwerdeführers "aus dem österreichischen Bundesgebiet" schon aus diesem Grund der Aufhebung.
Der angefochtene Bescheid war daher in seinen Spruchpunkten 2. und 3. wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Im Übrigen (Spruchpunkt 1.) aber gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 27. Februar 2007
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2005010420.X00Im RIS seit
28.03.2007