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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak sowie den Hofrat Dr. Berger, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. Doblinger und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des A in G, geboren am 15. November 1972, vertreten durch Dr. Wolfgang Vacarescu, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Oktober 2002, Zl. 216.195/11-II/39/01, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein der kurdischen Volksgruppe angehörender Staatsangehöriger der Türkei beantragte am 14. März 2000 Asyl.
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 5. September 2001, mit dem der Asylantrag abgewiesen und die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei festgestellt wurde, gemäß §§ 7 und 8 AsylG 1997 (AsylG) abgewiesen. Die belangte Behörde stellte folgenden Sachverhalt fest:
"Der Berufungswerber, türkischer Staatsangehöriger und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, hat sein Heimatland verlassen, da er nicht den Militärdienst ableisten wollte.
Nicht festgestellt werden konnte, dass der Berufungswerber als Kurde bzw. als Sympathisant der PKK einer Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in der Türkei ausgesetzt war bzw. ist.
Der Berufungswerber hat durchgehend - durch Vorlage einer Urkunde betreffend sein Fernbleiben von der Untersuchung für die Aufnahme in die Militäreinheit und Fahnenflucht vom 1.11.1999 glaubhaft - vorgebracht, des Militärdienstes wegen sein Heimatland verlassen zu haben.
Der Wehrpflicht unterliegt jeder männliche türkische Staatsangehörige unabhängig von seiner Volkszugehörigkeit. Der achtzehnmonatige Wehrdienst wird in den Streitkräften einschließlich der Gendarmerie abgeleistet. Dabei werden türkische Staatsangehörige kurdischer Abstammung während ihres Wehrdienstes auch in ihrer Herkunftsregion eingesetzt. Im Ausland lebende Wehrpflichtige haben die Möglichkeit, sich im Anschluss an eine zweimonatige militärische Grundausbildung vom Wehrdienst 'freizukaufen'. Ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes besteht nicht. Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Nach Art. 63 des Militärstrafgesetzbuchs ist Wehrdienstentziehung mit Freiheitsstrafen von einem Monat bis zu drei Jahren bedroht. Art. 66 des Militärstrafgesetzbuchs sieht für Fahnenflucht Freiheitsstrafen von einem Jahr bis zu drei Jahren vor, bei Flucht ins Ausland beträgt das Strafmaß nach Art. 67 des Militärstrafgesetzbuchs drei bis fünf Jahre Freiheitsentzug.
Unter Umständen kann es zur Aberkennung der Staatsangehörigkeit kommen (Art. 25 c tStAG; siehe Bericht des Auswärtigen Amtes Deutschland über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 7.9.1999).
Aufgrund der der erkennenden Behörde vorliegenden Dokumentation ist eine systematische Diskriminierung von Kurden im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes nicht ersichtlich. Wie auch der Sachverständige Ö in einem ähnlich gelagerten Verfahren vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat (vgl. GZ 214.649/0-IV/10/00; 19.5.2000) ausgeführt hat, höre man zwar immer wieder, dass Türken im Falle einer Wehrdienstverweigerung die Mindeststrafe und Kurden Höchststrafen bekommen und Kurden an der Front in vorderster Linie stehen, offizielle Unterlagen hiefür gibt es jedoch nicht. Militärdelikte werden jedenfalls in Militärverfahren abgewickelt. Bei den Militärgerichten sind die Kurden durchschnittlich repräsentiert: ein Kurde kann auch Richter und Militärstaatsanwalt werden.
In einem Urteil des OVG NRW vom 25.1.2000 (Rnr. 340 ff) wurde festgehalten, dass anzunehmen sei, dass Soldaten kurdischer Abstammung nur dann in Ostanatolien zur Ableistung des Wehrdienstes eingesetzt werden, wenn deren Loyalität dem türkischen Staat gegenüber zweifelsfrei feststeht.
Die Situation betreffend die Verfolgung von Refraktären hat sich laut Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Mai 2001, entschärft, zumal eine neue Amnestie vorbereitet wird, welche auf jugendliche Refraktäre bis zum Jahrgang 1979 Anwendung finden soll. Es wird damit gerechnet, dass man sich gegen Bezahlung eines höheren Geldbetrages vom Militärdienst freikaufen könne. Nach Auskunft der Kriegsdienstgegnervereinigung, verschiedener Anwälte und Menschenrechtsaktivistinnen sind kaum mehr Fälle von Refraktären bekannt geworden, die bei ihrer Rückkehr in die Türkei sofort verhaftet und in den Militärdienst geschickt worden sind. Sie erhielten in der Regel eine kurze Frist, in der sie ihre militärische Situation regeln mussten. Problematisch ist die Rückkehr jedoch für diejenigen Personen, welche aufgrund ihrer politischen Tätigkeiten bekannt sind oder ein besonders politisch aktives familiäres Umfeld haben. Solche Personen riskieren eher, verhaftet und zur Sicherheitsdirektion gebracht und verhört zu werden, wo sie mit Folter rechnen müssen."
Daran anschließend zitierte die belangte Behörde aus einem englischsprachigen Bericht des Rates der Europäischen Union vom 3. September 2001 und traf Feststellungen zur allgemeinen Lage der Kurden in der Türkei.
Beweiswürdigend führte die belangte Behörde aus, dem vom Beschwerdeführer erst im Berufungsverfahren erstatteten Vorbringen, er werde auch auf Grund seiner Unterstützung der PKK verfolgt, sei - aus näher dargelegten Gründen - die Glaubwürdigkeit abzusprechen gewesen. Es gehe aus dem Vorbringen des Berufungswerbers aber auch nicht hervor, dass seine Einberufung zum Militärdienst ausschließlich seiner Nationalität oder seiner politischen Gesinnung wegen erfolgt wäre oder er auf Grund seiner Wehrdienstverweigerung aus ethnischen Gründen einer härteren Bestrafung als andere Staatsangehörige ausgesetzt wäre, "zumal auch der Sachverständige in dem o.a. Gutachten keine Beweisquellen für anders lautende Meldungen anführen konnte". Es hätten sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Bestrafung der Wehrdienstverweigerer "jede Verhältnismäßigkeit im Sinne der o.a. Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes fehlt". Darüber hinaus sei auch den Länderinformationen eine systematische Diskriminierung von Kurden im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes nicht zu entnehmen. In diesem Zusammenhang werde "auch auf die umfangreiche Dokumentation im angefochtenen Bescheid der Erstbehörde verwiesen". "Lediglich der Vollständigkeit halber" verweist die belangte Behörde - im Rahmen der rechtlichen Beurteilung - auf die Entscheidung eines deutschen Verwaltungsgerichtes (OVG Schleswig-Holstein vom 30. Oktober 2001), welches habe erkennen lassen,
"dass es in der Sache eines kurdischen Volkszugehörigen, der sich auf drohende Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung berief, (...) die Klage vor Einstellung des Kampfes der PKK wohl für begründet gehalten hätte. Wegen veränderter Lage wies es diese nun jedoch ab: 'Denn im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (...) hat sich die Situation auch in den kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei entscheidend verändert. Nach der Verhaftung Öcalans und der Erklärung eines Waffenstillstandes durch die PKK sind die Kampfhandlungen im Osten und Südosten der Türkei praktisch zum Erliegen gekommen (...). Von massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch türkische Sicherheitskräfte kann danach zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede mehr sein; soweit vereinzelt in den Auseinandersetzungen mit Kämpfern der PKK solche Verletzungen vorkommen, sind sie wegen ihrer Seltenheit kein Grund, grundsätzlich den Dienst in der türkischen Armee zu verweigern'."
Insgesamt sei nicht davon auszugehen gewesen, dass dem Beschwerdeführer eine asylrechtlich relevante Verfolgung im Sinne der Genfer FlKonv drohe. Eine Verfolgung von Kurden unabhängig vom Vorliegen individueller Gründe ausschließlich wegen der Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe sei den von der belangten Behörde herangezogenen Länderdokumentationen nicht zu entnehmen gewesen. Im Hinblick auf die mangelnde Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers zu der von ihm behaupteten Unterstützung der PKK und den Umstand, dass es keine Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Behandlung von in die Türkei zurückkehrenden Personen nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit gebe, sei auch die Zulässigkeit des Refoulements des Beschwerdeführers in die Türkei festzustellen gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Der Beschwerdeführer wendet sich ausschließlich dagegen, dass die belangte Behörde eine asylrelevante Verfolgung im Zusammenhang mit seiner Weigerung, in der Türkei Militärdienst zu leisten, verneint habe. Er weist - wie auch schon in seiner Berufung - darauf hin, dass er im Falle der Ableistung des Militärdienstes in der Osttürkei zum Einsatz käme, wo die türkische Armee schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des Völkerrechts begehe; er müsste dort seine "kurdischen Brüder und Schwestern umbringen", andernfalls würden ihn "die türkischen Soldaten von hinten erschießen". Kurdische Wehrpflichtige würden "gezielt im kurdischen Gebiet eingesetzt" werden, "teilweise auch bei gefährlichen Einsätzen". Unter Berücksichtigung seiner ethnischen Zugehörigkeit hätte er mit einer strengeren Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung, "allenfalls auch mit Folter", zu rechnen als andere türkische Staatsangehörige.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, (in Auseinandersetzung mit der zu früheren Asylgesetzen ergangenen Vorjudikatur) dargelegt, dass der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommt, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Weiters könne unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen auch eine "bloße" Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. daran anschließend auch die hg. Erkenntnisse vom 16. April 2002, Zl. 99/20/0604, und vom 21. November 2002, Zl. 2000/20/0475; zur Möglichkeit der Asylrelevanz des Zwanges zum Vorgehen gegen Mitglieder der eigenen Volksgruppe vgl. das Erkenntnis vom 8. April 2003, Zl. 2001/01/0435).
Die belangte Behörde ist im angefochtenen Bescheid dem Vorbringen des Beschwerdeführers soweit gefolgt, als sie davon ausgeht, dass er während seines Wehrdienstes auch in seiner Herkunftsregion eingesetzt werden könne. Sie hat jedoch keine Feststellungen über die Art dieses Einsatzes, insbesondere zur Frage, ob es zu den vom Beschwerdeführer befürchteten Übergriffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung komme, getroffen. "Lediglich der Vollständigkeit halber" hat sie im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ein Urteil eines deutschen Oberverwaltungsgerichtes zitiert, wonach "die Kampfhandlungen im Osten und Südosten der Türkei praktisch zum Erliegen gekommen" seien und von "massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch türkische Sicherheitskräfte" zum jetzigen Zeitpunkt keine Rede mehr sein könne. Nähere Ausführungen darüber, ob von einer dauerhaften Beendigung der Kampfhandlungen in der Kurdenregion gesprochen werden könne - dies hätte eine Auseinandersetzung mit dem sich auf die Teilnahme an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beziehenden (asylrelevanten) Vorbringen erübrigen können -, enthält der angefochtene Bescheid aber nicht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen. Um eine relevante Lageänderung (im Sinn des Art. 1 Abschnitt C Z 5 der Genfer Flüchtlingskonvention) annehmen zu können, bedarf es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in der Regel eines längeren Beobachtungszeitraumes (vgl. dazu die Erkenntnisse vom 27. April 2006, Zl. 2002/20/0170, und vom 16. Februar 2006, Zl. 2006/19/0030, mwN). Im Hinblick auf die lange Dauer des Kurdenkonfliktes und den seit den 80er-Jahren geführten bewaffneten Auseinandersetzungen in den Kurdengebieten hätte sich die belangte Behörde daher näher mit der Frage auseinander setzen müssen, ob mittlerweile von einer solchen Konsolidierung der Verhältnisse gesprochen werden konnte, dass menschenrechtswidrige Übergriffe durch türkische Einheiten, an denen der Beschwerdeführer im Zuge seines Militärdienstes beteiligt wäre, nicht mehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vorkommen.
Darüber hinaus leidet der angefochtene Bescheid auch an einem weiteren Begründungsmangel: Die belangte Behörde ist den Hinweisen des Sachverständigen Ö in seinem in einem ähnlich gelagerten Verfahren erstatteten Gutachten zur Menschenrechtssituation in der Türkei vom Mai 2000, wonach Kurden im Fall der Wehrdienstverweigerung Höchststrafen bekämen und an der Front "in vorderster Linie" eingesetzt würden, nicht gefolgt, weil Ö darin ausgeführt hatte, "offizielle Unterlagen" hiefür gebe es nicht. Im Hinblick darauf, dass es in dem von der belangten Behörde zitierten Bericht des Rates der Europäischen Union zwar heißt, dass eine "systematische Diskriminierung" von kurdischen Wehrpflichtigen auszuschließen sei, in diesem Bericht aber (neben dem Hinweis, dass sich die Diskriminierung gegenüber Wehrpflichtigen aus der südöstlichen Türkei seit Ende 1999 "vermindert" habe) auch ausgeführt wird, eine solche könne "nicht ausgeschlossen werden", und dass die Amnestie für "jugendliche Refraktäre bis zum Jahrgang 1979" (welche nach einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Mai 2001 vorbereitet werde) auf den Beschwerdeführer auf Grund seines Geburtsjahres jedenfalls keine Anwendung finden könnte, wäre im vorliegenden Fall eine Befragung des Gutachters nach den seinen Ausführungen zugrunde liegenden Berichtsquellen sowie angesichts der Annahme einer Lageänderung durch die belangte Behörde eine Aktualisierung des schon im Mai 2000 erstatteten Gutachtens des Ö vor Erlassung des angefochtenen Bescheides erforderlich gewesen.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde, hätte sie sich mit den aufgezeigten Umständen näher befasst, zu einem anderen Bescheid gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 1. März 2007
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2003200111.X00Im RIS seit
04.04.2007