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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 1997 §7;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden): 2006/19/0084 2006/19/0085Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden 1. der M, 2. des G, 3. des X, und 4. der Y, alle in Wien, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25, jeweils gegen Spruchpunkt I. der am 27. Februar 2003 verkündeten und am 3. März 2004 schriftlich ausgefertigten Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates, Zlen. 223.875/0-VIII/23/01 (zu 1. und 2., hg. Zl. 2006/19/0083), 223.876/0-VIII/23/01 (zu 3., hg. Zl. 2006/19/0084) und 223.877/0- VIII/23/01 (zu 4., hg. Zl. 2006/19/0085), betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Spruchpunkte werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien hinsichtlich jedes der drei angefochtenen Bescheide Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 991,20 (insgesamt EUR 2.973,60) binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Erstbeschwerdeführerin und ihre drei Kinder, die zweitbis viertbeschwerdeführenden Parteien, sind Staatsangehörige Armeniens. Sie gelangten im Juni 2001 in das Bundesgebiet und beantragten Asyl. Bei ihren Einvernahmen zu den Fluchtgründen am 2. August 2001 gaben die Erstbeschwerdeführerin sowie die dritt- und die viertbeschwerdeführende Partei an, der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien, Hauptmann in der armenischen Armee, habe einen Rekruten wegen der Misshandlung anderer Rekruten zur Rede gestellt und geschlagen und ihm dabei (nach der Aussage der Erstbeschwerdeführerin: unabsichtlich) tödliche Verletzungen zugefügt. Auf Grund einer Warnung hätten sich die beschwerdeführenden Parteien - veranlasst durch ihren Ehemann bzw. Vater - zunächst zu Verwandten nach Erewan begeben. Dort hätten sie erfahren, dass der Vater des getöteten Rekruten bei dessen Begräbnis Anfang Juni 2001 Rache an der gesamten Familie geschworen habe. Daraufhin hätten sie Armenien verlassen. Kurz darauf - noch vor der Einreise nach Österreich - hätte man ihnen mitgeteilt, dass inzwischen ihr Haus in Brand gesteckt worden sei. Zum Ehemann bzw. Vater bestünde kein Kontakt mehr, sie wüssten nicht, ob er noch am Leben sei. Im Falle einer Rückkehr fürchteten sie, von der Familie des getöteten Rekruten umgebracht zu werden. Die Polizei habe sich mit dem Hinweis, der Ehemann bzw. Vater der beschwerdeführenden Parteien gelte auf Grund der tödlichen Verletzung eines Rekruten als Landesverräter, geweigert, ihnen Schutz zu gewähren.
Das Bundesasylamt wies mit Bescheiden vom 16. und 17. August 2001 die Asylanträge der beschwerdeführenden Parteien gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Armenien gemäß § 8 AsylG für zulässig. Es "erhob" den vorgebrachten Sachverhalt "zum Gegenstand" dieser Entscheidungen, verneinte aber eine Subsumierbarkeit der "behaupteten Rachegelüste" unter die in der Flüchtlingskonvention genannten Gründe. Die Entscheidungen gemäß § 8 AsylG stützte es darauf, dass "eine Privatperson" nicht in der Lage sein würde, die beschwerdeführenden Parteien "im ganzen Staatsgebiet Armeniens" ausfindig zu machen, und die Behauptungen über das Verhalten der Polizei nicht glaubwürdig gewesen seien.
In ihren Berufungen gegen diese Bescheide machten die beschwerdeführenden Parteien geltend, der getötete Rekrut sei ein Verwandter eines namentlich genannten, sehr einflussreichen Generals gewesen, was sowohl das Verhalten dieses Rekruten gegenüber seinen Kameraden als auch das Verhalten der Polizei gegenüber den beschwerdeführenden Parteien erkläre.
In der Berufungsverhandlung am 27. Februar 2003 bekräftigten die Erstbeschwerdeführerin sowie die dritt- und die viertbeschwerdeführende Partei das bisherige Vorbringen. Die Erstbeschwerdeführerin gab ergänzend an, sie habe im Jänner 2002 erfahren, dass ihr Ehemann im August 2001 getötet worden sei und die Täter im Zusammenhang mit der Familie des verstorbenen Rekruten stünden.
Die belangte Behörde verkündete die Entscheidungen über die Berufungen, mit denen sie diese im jeweils ersten Spruchpunkt hinsichtlich der Anträge auf Asylgewährung gemäß § 7 AsylG abwies, in den jeweils weiteren - nicht beschwerdegegenständlichen - Spruchpunkten aber die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Armenien gemäß § 8 AsylG für unzulässig erklärte und ihnen gemäß § 15 AsylG befristete Aufenthaltsberechtigungen erteilte.
In den schriftlichen Ausfertigungen dieser Bescheide führte die belangte Behörde aus, die Erstbeschwerdeführerin sowie die dritt- und die viertbeschwerdeführende Partei hätten in der Berufungsverhandlung persönlich glaubwürdig gewirkt. Die geschilderten Vorgänge fänden auch Deckung im verwendeten Länderdokumentationsmaterial. Das Vorbringen gebe die allgemeine Lebenserfahrung in Armenien wieder. Umstände, die die Glaubwürdigkeit beeinträchtigen könnten, seien nicht hervorgekommen. Im Hinblick auf das in der Berufungsverhandlung verlesene Länderdokumentationsmaterial könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass die beschwerdeführenden Parteien staatlichen Schutz vor Übergriffen des äußerst einflussreichen Verwandten des verstorbenen Militärangehörigen erhalten würden. Gerade wenn es um Machenschaften einflussreicher Familien gehe, werde das korrupte Polizeisystem besonders deutlich.
In rechtlicher Hinsicht vertrat die belangte Behörde die Ansicht, den beschwerdeführenden Parteien sei auf Grund der festgestellten Bedrohungssituation Abschiebungsschutz zu gewähren, weshalb ihnen auch befristete Aufenthaltsberechtigungen zustünden. Im Asylteil seien die Berufungen jedoch abzuweisen, weil "nicht erkennbar ist, dass die Berufungswerber aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen von den oben genannten Kreisen bedroht wären und (gemeint wohl: oder) die armenische Regierung im konkreten Fall sie ... aus solchen Gründen nicht schützen kann".
Gegen die Spruchpunkte, mit denen die Berufungen gegen die Abweisung der Asylanträge gemäß § 7 AsylG abgewiesen wurden, richten sich die vorliegenden Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach ihrer Verbindung zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung erwogen hat:
Die Beschwerden rügen - auf dem Boden der im vorliegenden Fall für den Verwaltungsgerichtshof bindenden Ansicht der belangten Behörde, das Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien sei zur Gänze glaubwürdig und staatlicher Schutz vor der geltend gemachten Bedrohung könne nicht erlangt werden - in erster Linie die rechtliche Beurteilung des angenommenen Sachverhaltes durch die belangte Behörde. Dabei wird zunächst an Elemente des Sachverhalts angeknüpft, aus denen sich nach einem schon in den Berufungen vertretenen Standpunkt eine politische Komponente des die Verfolgung auslösenden Verhaltens des Ehemanns bzw. Vaters der beschwerdeführenden Parteien ergeben soll. Darüber hinaus wird aber die Ansicht vertreten, im Falle einer Sippenhaftung im Sinne einer drohenden Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Familie des Ehemanns bzw. Vaters der beschwerdeführenden Parteien, komme es nicht darauf an, ob dieser selbst wegen eines Konventionsgrundes verfolgt worden sei.
Mit Recht stützen sich die Beschwerden im Zusammenhang mit dem zuletzt genannten Argument auf das hg. Erkenntnis vom 14. Jänner 2003, Zl. 2001/01/0508, worin ausgeführt wurde, einer Verfolgung könne auch dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund "in der bloßen Angehörigeneigenschaft" liege (vgl. zu dieser - in den hg. Erkenntnissen vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0312, Slg. Nr. 15.743/A, und Zl. 98/20/0330, im Zusammenhang mit der rechtlichen Beurteilung von "Sippenhaftung" zunächst noch offen gelassenen - Frage auch die hg. Erkenntnisse vom 26. Februar 2002, Zl. 2000/20/0517, vom 17. September 2003, Zl. 2000/20/0137, und vom 22. August 2006, Zl. 2006/01/0251; die zum Teil noch anders lautenden Ausführungen in dem Erkenntnis vom 21. September 2000, Zl. 98/20/0439, waren für die damalige Entscheidung insoweit nicht tragend). Diese Auffassung wird auch im internationalen Schrifttum vertreten (vgl. etwa Aleinikoff in Feller/Türk/Nicholson, Refugee Protection in International Law (2003) 306; aus der ausländischen Rechtsprechung zuletzt vor allem die Entscheidung des britischen House of Lords vom 18. Oktober 2006, Fälle K und Fornah).
Bei der Beurteilung der Asylrelevanz der im vorliegenden Fall geltend gemachten und auch festgestellten Verfolgungsgefahr hätte die belangte Behörde somit auf die Frage eines Zusammenhanges der Verfolgungsgefahr mit der Familienzugehörigkeit der beschwerdeführenden Parteien als Zugehörigkeit zu einer bestimmten "sozialen Gruppe" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 FlKonv eingehen müssen, wobei es nicht ausschlaggebend gewesen wäre, ob der Ehemann bzw. Vater der beschwerdeführenden Parteien aus Konventionsgründen verfolgt (oder ihm staatlicher Schutz aus Konventionsgründen versagt) worden war.
Die angefochtenen Spruchpunkte, in deren Begründung dies nicht berücksichtigt wurde, waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers u.a. auf § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 21. März 2007
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2007:2006190083.X00Im RIS seit
14.05.2007