TE OGH 2002/9/17 10ObS273/02y

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Veröffentlicht am 17.09.2002
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gustav Liebhart (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Hildegard P*****, vertreten durch Mag. Reinhard Berger, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9. April 2002, GZ 11 Rs 397/01h-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 27. Juni 2001, GZ 18 Cgs 187/00h-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am 18.1.1952 geborene und zuletzt als Vertragsbedienstete in der Verwendungsgruppe C beim L***** beschäftigte Klägerin ist aufgrund verschiedener krankhafter Veränderungen nur mehr für leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen im Freien und in geschlossenen Räumen geeignet. Nicht mehr möglich sind Arbeiten, die mit Kunden- und Parteienverkehr einhergehen, und Arbeiten unter erhöhter Stressbelastung und unter Zeitdruck. Ein durchschnittliches Arbeitstempo kann noch erwartet werden. Arbeiten, die eine ungestörte Teamfähigkeit erfordern, Arbeiten an Maschinen und Fließbändern, an exponierten Stellen und Arbeiten, die ein gutes Gehör voraussetzen, sind ebenfalls nicht mehr möglich. Hebe- und Tragebelastungen sollten ein Gewicht von 8 kg nicht übersteigen. Arbeiten im Bücken oder mit der Notwendigkeit von häufigem Bücken sollten vermieden werden. Die Erkrankungen der Klägerin sind grundsätzlich behandelbar. Bei Einhaltung des Leistungskalküls ist eine psychische Überforderung der Klägerin nicht gegeben. Krankenstände sind nur dann zu erwarten, wenn weiterhin Konfliktsituationen beruflicher Natur auftreten oder wenn das geforderte Leistungskalkül höher ist als das der Klägerin medizinisch zumutbare.

Mit Bescheid vom 16. 6. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 29. 11. 1999 auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension mangels Berufsunfähigkeit ab. Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension ab dem Stichtag 1. 12. 1999 gerichtete Klage ab. Entsprechend ihrer Tätigkeit als Vertragsbedienstete beim L***** in der Verwendungsgruppe C sei die Klägerin in die Beschäftigungsgruppe 3 einzureihen, sodass sie innerhalb der Beschäftigungsgruppen 3 und 2 verweisbar sei. Mit ihrem Leistungskalkül sei die Klägerin durchaus noch in der Lage, einfache Tätigkeiten im Büro und Rechnungswesen, wie etwa in einer Registratur oder Kartei, als Fakturistin oder als Hilfskraft in der Buchhaltung für Lohn- oder Gehaltsabrechnung und Statistik, auszuüben. Auch Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 2 seien ihr grundsätzlich noch möglich. Die Klägerin sei somit noch nicht berufsunfähig. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung, in der laut Protokoll keine Erörterungen mit den Parteien vorgenommen wurden, nicht Folge. Es sah die Tatsachenrüge nicht als berechtigt an und hielt den Ausführungen der Mängelrüge entgegen, dass es weder der Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens noch näherer Feststellungen über die Anforderungen und die Anzahl der Arbeitsplätze in einem Verweisungsberuf bedürfe, wenn Berufsanforderungen und eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt offenkundig seien. Zu den offenkundigen Verweisungsberufen zählten auch die vom Erstgericht für die Klägerin in Aussicht genommenen einfachen Bürotätigkeiten. Ebenso offenkundig sei, dass es mindestens 100 Arbeitsplätze für die genannten einfachen Bürotätigkeiten gebe. Mit Rücksicht auf die Offenkundigkeit der für die Klägerin in Aussicht genommenen Verweisungstätigkeiten sei die Einholung des beantragten berufskundlichen Sachverständigengutachtens nicht erforderlich gewesen, weshalb die gerügte Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht vorliege.

Da auch offenkundig sei, dass es bei den in Aussicht genommenen Verweisungsberufen mindestens je 100 Arbeitsplätze auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt gibt, bräuchten diese arbeitsmarktlichen Voraussetzungen nicht gesondert festgestellt zu werden; dem Ersturteil hafte daher der behauptete sekundäre Feststellungsmangel nicht an.

Dagegen richtet sich die Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Klagsstattgebung.. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrags berechtigt. Im Gegensatz zu der in der Revision vertretenen Ansicht hat sich das Berufungsgericht mit der Tatsachenrüge betreffend die Leidenszustände der Klägerin und die Vereinbarkeit der Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen mit dem ihr verbliebenen Leistungskalkül ausreichend auseinandergesetzt und unter Verneinung einer Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens auch begründet, warum es die erstgerichtlichen Feststellungen für zutreffend hält. Die Feststellung oder Nichtfeststellung bestimmter Tatsachen aufgrund der aufgenommenen Beweise resultiert aus der freien Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen, die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüft werden kann (RIS-Justiz RS0043061 [T11]). Die insoweit behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Berechtigung kommt der Mängelrüge aber dort zu, wo das Berufungsgericht mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit ergänzende Tatsachenfeststellungen zur Zahl von Arbeitsplätzen in möglichen Verweisungsberufen ohne Erörterung mit den Parteien getroffen hat. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn die Feststellungen unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Es wurde aber bereits ausgesprochen, dass es dem Berufungsgericht nicht zusteht, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist (Rechberger in Rechberger, ZPO2, § 269 Rz 4), muss das Berufungsgericht das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern (SZ 55/116) und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T9] = RIS-Justiz RS0040219 [T6]). Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht nicht von erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen, sondern hat fehlende, aus seiner Sicht unproblematische Feststellungen ergänzt. Die Möglichkeit, dass das Berufungsgericht offenkundige Tatsachen auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrunde legen kann, wurde vom Obersten Gerichtshof zumindest für den Fall "unzweifelhafter offenkundiger Tatsachen" bejaht (SSV-NF 6/87; RIS-Justiz RS0040219 [T4]) Soweit diese Voraussetzung nicht vorlag, wurde verlangt, dass ein solches Vorgehen mit den Parteien zu erörtern ist (RIS-Justiz RS0040219 [T3]). Dies entspricht auch den Erfordernissen, die Art 6 EMRK an ein faires Verfahren stellt (vgl zuletzt etwa EGMR 20. 12. 2001 über die Beschw Nr 32.899/96 im Fall Buchberger gegen Österreich, ÖJZ 2002, 395).Die Revision ist im Sinne des Eventualantrags berechtigt. Im Gegensatz zu der in der Revision vertretenen Ansicht hat sich das Berufungsgericht mit der Tatsachenrüge betreffend die Leidenszustände der Klägerin und die Vereinbarkeit der Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen mit dem ihr verbliebenen Leistungskalkül ausreichend auseinandergesetzt und unter Verneinung einer Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens auch begründet, warum es die erstgerichtlichen Feststellungen für zutreffend hält. Die Feststellung oder Nichtfeststellung bestimmter Tatsachen aufgrund der aufgenommenen Beweise resultiert aus der freien Beweiswürdigung der Tatsacheninstanzen, die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüft werden kann (RIS-Justiz RS0043061 [T11]). Die insoweit behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Berechtigung kommt der Mängelrüge aber dort zu, wo das Berufungsgericht mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit ergänzende Tatsachenfeststellungen zur Zahl von Arbeitsplätzen in möglichen Verweisungsberufen ohne Erörterung mit den Parteien getroffen hat. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn die Feststellungen unter Anwendung des Paragraph 269, ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Es wurde aber bereits ausgesprochen, dass es dem Berufungsgericht nicht zusteht, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist (Rechberger in Rechberger, ZPO2, Paragraph 269, Rz 4), muss das Berufungsgericht das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern (SZ 55/116) und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T9] = RIS-Justiz RS0040219 [T6]). Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht nicht von erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen, sondern hat fehlende, aus seiner Sicht unproblematische Feststellungen ergänzt. Die Möglichkeit, dass das Berufungsgericht offenkundige Tatsachen auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrunde legen kann, wurde vom Obersten Gerichtshof zumindest für den Fall "unzweifelhafter offenkundiger Tatsachen" bejaht (SSV-NF 6/87; RIS-Justiz RS0040219 [T4]) Soweit diese Voraussetzung nicht vorlag, wurde verlangt, dass ein solches Vorgehen mit den Parteien zu erörtern ist (RIS-Justiz RS0040219 [T3]). Dies entspricht auch den Erfordernissen, die Artikel 6, EMRK an ein faires Verfahren stellt vergleiche zuletzt etwa EGMR 20. 12. 2001 über die Beschw Nr 32.899/96 im Fall Buchberger gegen Österreich, ÖJZ 2002, 395).

Bei den Anforderungen an Verweisungsberufe, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, kann es sich zwar um offenkundige Tatsachen handeln, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle. Die Anforderungen sind jedoch nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zugrunde gelegt werden könnten (anders noch RIS-Justiz RS0040219 [T5]). Gleiches gilt für die hier relevante Frage der Anzahl von Arbeitsplätzen in möglichen Verweisungsberufen (anders noch SSV-NF 10/69).

In diesem Sinn ist es im konkreten Fall erforderlich, mit den Parteien - gegebenenfalls unter Hinweis auf bereits vorhandene Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die die Offenkundigkeit begründen können - zu erörtern, ob in den von den Vorinstanzen angeführten möglichen Verweisungsberufen eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt vorhanden ist. Als ausreichende Anzahl wurden in der bisherigen Judikatur mindestens hundert gewertet (SSV-NF 7/37).

Da somit eine wesentliche Frage vom Berufungsgericht nicht mit den Parteien erörtert wurde, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden, ob eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen in den Verweisungsberufen vorhanden ist. Insoweit erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weshalb der Revision Folge zu geben war.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.Der Kostenvorbehalt beruht auf Paragraph 52, Absatz eins, ZPO.

Anmerkung

E66919 10ObS273.02y

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2002:010OBS00273.02Y.0917.000

Dokumentnummer

JJT_20020917_OGH0002_010OBS00273_02Y0000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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