Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache ***** gegen Österreich, Urteil vom 3.10.2002, Bsw. 40072/98.Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch III, Beschwerdesache ***** gegen Österreich, Urteil vom 3.10.2002, Bsw. 40072/98.
Spruch
Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, § 294 Abs. 5 EMRK - Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten.Artikel 6, Absatz 3, Litera c, EMRK, Paragraph 294, Absatz 5, EMRK - Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten.
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. Abs. 3 lit. c EMRK (einstimmig).Keine Verletzung von Artikel 6, Abs. Absatz 3, Litera c, EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die StA ***** brachte am 20.1.1994 gegen den Bf. eine Anklageschrift wegen zwei Fällen von Vergewaltigung ein, die schwere Körperverletzungen zur Folge hatten. Dem Bf. wurde vorgeworfen, er habe am 16.6.1993 ***** vergewaltigt, geschlagen und gewürgt, sie gezwungen Medikamente zu schlucken und sie mit dem Tode bedroht. Am 5.9.1993 habe er ***** vergewaltigt, geschlagen und gewürgt, sie gezwungen Medikamente zu schlucken, ihr mit einer Zigarette Verbrennungen zugefügt und ihr mit einem Messer schwere Schnittverletzungen im Unterleibsbereich zugefügt.
Am 12.4.1994 wurde der Bf. vom Geschworenengericht am LG ***** in beiden Fällen der schweren Vergewaltigung gemäß § 201 (1) und (3) StGB für schuldig befunden und zu einer 14-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als mildernde Umstände berücksichtigte das Gericht das teilweise Geständnis betreffend die Vergewaltigung der ***** sowie bis zu einem gewissen Grad den Umstand, dass der Bf. unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen gehandelt hatte. Als erschwerende Umstände wurden die Vorstrafen des Täters gewertet sowie die zweifache Begehung des Delikts und die extreme Brutalität, mit der er gehandelt hatte.Am 12.4.1994 wurde der Bf. vom Geschworenengericht am LG ***** in beiden Fällen der schweren Vergewaltigung gemäß Paragraph 201, (1) und (3) StGB für schuldig befunden und zu einer 14-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als mildernde Umstände berücksichtigte das Gericht das teilweise Geständnis betreffend die Vergewaltigung der ***** sowie bis zu einem gewissen Grad den Umstand, dass der Bf. unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen gehandelt hatte. Als erschwerende Umstände wurden die Vorstrafen des Täters gewertet sowie die zweifache Begehung des Delikts und die extreme Brutalität, mit der er gehandelt hatte.
Am 27.6.1994 erhob der Bf. Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung. Der OGH bestätigte am 18.8.1994 den Wahrspruch der Geschworenen betreffend die Vergewaltigung von ***** und hob den Wahrspruch betreffend die Vergewaltigung von ***** und den Strafausspruch auf. Die Sache wurde zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an die erste Instanz verwiesen.
Am 14.6.1996 wurde der Bf. neuerlich vom Geschworenengericht der Vergewaltigung der ***** für schuldig befunden und zu einer 14-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als mildernde Umstände wurden das Geständnis des Bf. bezüglich einiger Fakten betreffend die Vergewaltigung der ***** sowie zu einem gewissen Grad seine Berauschung berücksichtigt. Als erschwerend wurden seine Vorstrafen, die zweifache Begehung des Delikts sowie die extreme Brutalität der Tatbegehung gewertet.
Am 29.8.1996 erhob der Bf. Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung. In der Berufung brachte er vor, das Gericht habe die mildernden Umstände, namentlich seine vernachlässigte Erziehung, seine schwere Kindheit sowie seine Berauschung nicht ausreichend berücksichtigt. Der Bf. stellte keinen Antrag auf Vorführung vor das OLG *****. Der OGH wies die Nichtigkeitsbeschwerde in nichtöffentlicher Sitzung als unzulässig zurück.
Am 4.12.1996 beraumte das OLG ***** die Berufungsverhandlung für den 18.12.1996 an. Der Bf. erhielt eine Benachrichtigung, dass er aufgrund seiner Inhaftierung nicht persönlich, sondern nur durch seinen Verteidiger vertreten vor Gericht erscheinen könne, da die Voraussetzungen des § 294 (5) StPO nicht erfüllt wären.Am 4.12.1996 beraumte das OLG ***** die Berufungsverhandlung für den 18.12.1996 an. Der Bf. erhielt eine Benachrichtigung, dass er aufgrund seiner Inhaftierung nicht persönlich, sondern nur durch seinen Verteidiger vertreten vor Gericht erscheinen könne, da die Voraussetzungen des Paragraph 294, (5) StPO nicht erfüllt wären.
Am 18.12.1996 wies das OLG ***** die Berufung gegen den Strafausspruch ab, nachdem die Verhandlung in Abwesenheit des Bf., aber im Beisein seines Verteidigers, geführt wurde. Das OLG sah keinen Grund für eine Reduktion des Strafausspruchs.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (3) (c) EMRK (hier: Recht auf persönliche Teilnahme an einer Verhandlung).Der Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 6, (3) (c) EMRK (hier: Recht auf persönliche Teilnahme an einer Verhandlung).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (3) (c) EMRK:Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (3) (c) EMRK:
Der Bf. bringt vor, die Durchführung der Berufungsverhandlung vor dem OLG ***** in seiner Abwesenheit habe gegen Art. 6 (3) (c) EMRK verstoßen. Das Berufungsgericht hätte ihn vorführen lassen müssen, da es sich für die Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten verschaffen hätte müssen. Die von ihm vorgebrachten Berufungsgründe erforderten, dass das Berufungsgericht entscheide, nachdem es ihn persönlich gesehen habe. Seine Anwesenheit wäre daher im Interesse der Rechtspflege geboten gewesen und er hätte nie auf sein Recht auf Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.Der Bf. bringt vor, die Durchführung der Berufungsverhandlung vor dem OLG ***** in seiner Abwesenheit habe gegen Artikel 6, (3) (c) EMRK verstoßen. Das Berufungsgericht hätte ihn vorführen lassen müssen, da es sich für die Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten verschaffen hätte müssen. Die von ihm vorgebrachten Berufungsgründe erforderten, dass das Berufungsgericht entscheide, nachdem es ihn persönlich gesehen habe. Seine Anwesenheit wäre daher im Interesse der Rechtspflege geboten gewesen und er hätte nie auf sein Recht auf Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.
Der GH erinnert an das allgemeine, aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens erwachsende Prinzip, dass eine Person, die einer strafbaren Handlung angeklagt ist, ein Recht auf Teilnahme an der erstinstanzlichen Verhandlung haben sollte. Die persönliche Teilnahme des Angeklagten hat jedoch in einer Verhandlung über eine Berufung bzw. Nichtigkeitsbeschwerde nicht die gleiche Bedeutung wie in der erstinstanzlichen Verhandlung. Bei der Beurteilung dieser Frage müssen ua. die Besonderheiten des betreffenden Verfahrens berücksichtigt werden sowie die Art und Weise, in der die Interessen der Angeklagten vor dem Berufungsgericht vertreten und geschützt werden – insb. im Hinblick auf die zu entscheidenden Fragen und ihre Bedeutung für den Bf.
Im vorliegenden Fall hat der Bf. seine Teilnahme an der Verhandlung über die Berufung bzw. Nichtigkeitsbeschwerde nicht beantragt. Das OLG ***** hat die Berufung in Abwesenheit des Bf. abgewiesen, weil die Gründe, auf die er seine Berufung stützte, bereits vom LG ausreichend berücksichtigt worden waren und er keine weiteren Milderungsgründe geltend gemacht hat.
Nach st. Rspr. des GH soll ein Gericht zweiter Instanz die Vorführung des Angeklagten anordnen, wenn seine persönliche Anwesenheit im Interesse der Rechtspflege geboten erscheint. Dies ist insb. dann der Fall, wenn die Entscheidung nicht nur eine Beurteilung des Charakters und des Geisteszustands des Angeklagten im Zeitpunkt der Tatbegehung erfordert, sondern auch seines Motivs, und wenn diese Beurteilungen eine entscheidende Rolle für das Ergebnis dieser Verfahren haben.
Unter den Umständen des vorliegenden Falles gelangt der GH zu der Ansicht, dass die persönliche Anwesenheit des Bf. in der Berufungsverhandlung im Interesse der Rechtspflege nicht notwendig war. Die von ihm erhobenen Berufungsgründe konnten vom Gericht aufgrund des Vorbringens des Verteidigers des Bf. bzw. aufgrund der Aktenlage ausreichend berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall deutet nichts darauf hin, dass das OLG ***** die Persönlichkeit des Bf., seinen Charakter, seine Motive für die Tat oder seine Gefährlichkeit hätte beurteilen müssen. Der GH gelangt daher zu dem Ergebnis, dass Art. 6 (3) (c) EMRK im Verfahren vor dem OLG ***** berücksichtigt worden ist. Keine Verletzung von Art. 6 (3) (c) EMRK (einstimmig).Unter den Umständen des vorliegenden Falles gelangt der GH zu der Ansicht, dass die persönliche Anwesenheit des Bf. in der Berufungsverhandlung im Interesse der Rechtspflege nicht notwendig war. Die von ihm erhobenen Berufungsgründe konnten vom Gericht aufgrund des Vorbringens des Verteidigers des Bf. bzw. aufgrund der Aktenlage ausreichend berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall deutet nichts darauf hin, dass das OLG ***** die Persönlichkeit des Bf., seinen Charakter, seine Motive für die Tat oder seine Gefährlichkeit hätte beurteilen müssen. Der GH gelangt daher zu dem Ergebnis, dass Artikel 6, (3) (c) EMRK im Verfahren vor dem OLG ***** berücksichtigt worden ist. Keine Verletzung von Artikel 6, (3) (c) EMRK (einstimmig).
Vom GH ziterte Judikatur:
Kremzow/A v. 21.9.1993, A/268-B (= NL 1993/5, 23 = ÖJZ 1994, 210 = EuGRZ 1995, 537).
Belziuk/PL v. 25.3.1998 (= NL 1998, 71 = ÖJZ 1999, 117).
Cooke/A v. 8.2.2000 (= NL 2000, 26 = ÖJZ 2000, 775).
Pobornikoff/A v. 3.10.2001 (= NL 2000, 189 = ÖJZ 2001, 232).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.10.2002, Bsw. 40072/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 204) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at*****
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
Textnummer
EGM00410Im RIS seit
22.06.2012Zuletzt aktualisiert am
22.06.2012